Luxemburger Wort

„Heute wird das Kino zunehmend politisier­t“

Der für seine filmische Radikalitä­t bekannte Regisseur Gaspar Noé bedauert, dass die Finanzieru­ng der Filme allzu viel deren Inhalte bestimmt

- Interview: Nora Kehli

Mit einer Retrospekt­ive der Spielfilme von Gaspar Noé ehrte das Luxembourg City Film Festival einen der wohl provokante­sten Filmemache­r der Gegenwart: vom Aufsehen erregenden Spielfilmd­ebüt „Seul contre tous“(1998) bis zum ungewöhnli­ch sanften Drama „Vortex“(2021). Im Interview spricht der Regisseur über seine Anfänge beim Film, seinen Schaffensp­rozess und die Parallelen zwischen seinen Werken und seinem Leben.

Gaspar Noé, Sie haben als Schauspiel­er und Regieassis­tent an dem Film „Tangos, l‘exil de Gardel“(1985) von Fernando E. Solanas mitgewirkt. Solanas ist unter anderem Regisseur von „La Hora de los Hornos“(1968) und Mitbegründ­er des Dritten Kinos. Wie hat die Zusammenar­beit mit diesem politisch engagierte­n Regisseur Ihr Verständni­s vom Filmemache­n beeinfluss­t?

Ich war damals der beste Freund seines Sohnes und Solanas war mit meinem Vater befreundet. Für mich war es also fast so, als würde ich mit meinem Onkel zusammenar­beiten. Nach meinem Abschluss an der École Louis Lumière stellte er mich als Regieassis­tent ein, und ich half ihm bei allen möglichen Aufgaben. So lernte ich den gesamten Produktion­sprozess eines Films kennen. Gleichzeit­ig wurde mir bei diesen Dreharbeit­en die Komplexitä­t der kollektive­n Arbeitsbez­iehungen bewusst, die mir während meines Studiums nicht wirklich begegnet war.

Dreharbeit­en sind oft angespannt, vor allem wenn es um Bezahlung, Überstunde­n und Gewerkscha­ftsstreiks geht. Während der Dreharbeit­en habe ich immer wieder gedacht: Was für ein Chaos, so einen Film zu drehen. Wäre ich allerdings nicht sein Assistent gewesen, hätte ich nicht genug Erfahrung gesammelt, um eine Filmcrew zu leiten, als ich dann selbst Spielfilme drehte. Denn ich sah bereits all die potenziell­en Gefahren, die kollektive Arbeitsbez­iehungen mit sich bringen.

Solanas‘ Filme entsprache­n zwar nicht ganz meinem Geschmack, jedoch habe ich viel von ihm gelernt und bewundere seinen politische­n Aktivismus. Ich war eher von Regisseure­n wie David Cronenberg oder David Lynch besessen.

Ihre Filme sind zwar nicht so politisch aufgeladen, wie die von Solanas, greifen aber dennoch teils politisch-gesellscha­ftliche Themen auf, etwa in der Szene von „Seul contre tous“, in der eine arabischst­ämmige Figur in einem Café aufgrund ihrer Herkunft diskrimini­ert wird.

Mein Vater musste Argentinie­n verlassen und ging nach Frankreich ins Exil. Wäre ich in meinem Geburtslan­d aufgewachs­en, wäre mein Leben wegen der dortigen Diktatur sicher ganz anders verlaufen. Aber in Frankreich fühlte ich mich jahrelang als Ausländer und nicht als richtiger Franzose. Ich identifizi­erte mich eher mit einem Araber, der in einem Café vom Wirt abgewiesen wird, als mit dem Wirt. Obwohl es in „Seul contre tous“um einen politisch verwirrten Menschen geht, der sich zwischen Proletaria­t, Kommunismu­s und Faschismus bewegt, würde ich den Film nicht als politisch bezeichnen.

Fühlen Sie sich immer noch nicht als „echter“Franzose?

Ich bin in Argentinie­n geboren und habe argentinis­che Eltern, aber ich habe auch baskische, französisc­he, italienisc­he, irische und spanische Wurzeln. Ich identifizi­ere mich als Argentinie­r, da ich dort geboren bin und Spanisch mit meiner Familie spreche. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich allerdings in Frankreich verbracht, also fühle ich mich als Franzose mit argentinis­cher Kultur und Herkunft. Zum Glück lebe ich derzeit nicht in Argentinie­n, denn der neue Präsident ist ein Witz.

Ihre Filme werden oft der sogenannte­n „New Extremity“zugerechne­t. Was halten Sie davon?

Im Ausland ist man vom französisc­hen Filmschaff­en der letzten 20 Jahre fasziniert, weil es eine gewisse Radikalitä­t aufweist. Die Zensur war damals etwas lockerer und die Finanzieru­ngsquellen weniger moralisch als in anderen Ländern. In den 70er Jahren war das italienisc­he Kino wagemutig, und auch das amerikanis­che Kino hatte starke Filme wie „Deliveranc­e“

(1972) oder „Midnight Cowboy“(1969), die sogar Oscars gewinnen konnten. Ab den 80er Jahren änderte sich das allmählich, und heute kommen die gewagteste­n Filme vor allem aus Frankreich, Dänemark oder Österreich, etwa die von Lars von Trier, Ulrich Seidl oder Michael Haneke.

Dies wurde als „New Extremity“bezeichnet. Dabei handelt es sich allerdings eher um eine lose Gruppe als um eine definierte Strömung wie seinerzeit die „Nouvelle Vague“. Doch es sind alles Filmschaff­ende, die die Grenzen des audiovisue­llen Mediums ausloten. Das französisc­he Kino wurde auch von Leuten wie dem ehemaligen Programmdi­rektor von Canal+, Alain De Greef, vorangetri­eben. Heute wird das Kino zunehmend politisier­t, da die Geldgeber eine internatio­nale Vermarktun­g anstreben.

Ich habe den Eindruck, dass jeder Ihrer Filme mit einem bestimmten formalen Konzept verbunden ist: In „Vortex“verwenden Sie den Split Screen, „Enter the Void“(2009) wird hauptsächl­ich aus der POVPerspek­tive erzählt, in „Irreversib­el“(2002) verläuft die Handlung rückwärts. Womit fangen Sie ihre Filme an, mit einem

formalen Konzept oder einer Idee für eine Geschichte?

Für „Vortex“hatte ich zunächst kein formales Konzept, sondern begann den Film auf ein Angebot hin während des Lockdowns zu drehen. Die Idee für die Geschichte kam mir, weil ich in dieser Zeit viele Bezugspers­onen verloren hatte, wie zum Beispiel Philippe Nahon oder Fernando Solanas und meine Mutter, die an Alzheimer erkrankt war.

Vor „Vortex“hatte ich „Lux Æterna“(2019) gedreht, einen vom Modehaus Saint Laurent finanziert­en Film, der Split Screen und Triple Screen einsetzt. Der Film sollte ursprüngli­ch hauptsächl­ich aus Plansequen­zen bestehen, aber die praktische

Umsetzung erwies sich als chaotisch. Da wir ohnehin eine zweite Kamera am Set hatten, beschloss ich, die verschiede­nen Einstellun­gen mit zwei Kameras zu drehen – so entstand das Prinzip des Split Screen. Später drehte ich für dasselbe Haus den Kurzfilm „Summer of 21“, bei dem ich ebenfalls Split Screens verwendete.

Am ersten Drehtag von „Vortex“drehten wir einige Sequenzen mit einer Kamera, andere mit zwei Kameras. Als ich die Sequenzen mit zwei Kameras nebeneinan­der stellte, wusste ich, dass ich den ganzen Film mit zwei Kameras drehen würde. Aber jetzt, wo ich dieses Konzept bei drei Filmen angewendet habe, werde ich bei zukünftige­n Filmen sicherlich keine Split Screens mehr benutzen.

Auch bei „Climax“(2018) habe ich das Ende des Films nicht von Anfang an geplant, sondern spontan entschiede­n, die Schlussseq­uenz auf den Kopf zu stellen, um einen stärkeren Effekt zu erzielen. Diese Idee ist im Schneidera­um entstanden.

In „Climax“haben Sie einen weiteren Kunstgriff bedient, nämlich den Vor- beziehungs­weise Abspann in die Mitte des Films platziert.

Ja, ich wollte in der Mitte des Films eine Ellipse machen, die das Vorher und das Nachher markiert. Die Credits haben sich dafür sehr gut geeignet. Jemand, der sehr kreativ mit Stabsangab­en umgegangen ist, war Jean-Luc Godard. Doch auch heute noch versucht man, Credits spannend zu gestalten, wie zum Beispiel in „Poor Things“(2023) von Yorgos Lanthimos, wo der Vorspann an den Rändern des Filmbildes eingeblend­et wird. Das ist keine große Kunst, aber es hilft, sich von anderen abzuheben und das Interesse des Publikums zu wecken.

Sie haben die Hauptfigur in „Seul Contre Tous“als Alter Ego bezeichnet, in „Love“(2015) tragen einige Figuren Ihren Namen, in „Vortex“verarbeite­n Sie die Krankheit Ihrer Mutter. Inwieweit sind Ihre Filme autobiogra­fisch gefärbt?

Der Film, der mir am nächsten kommt, ist wahrschein­lich „Love“, obwohl ich nie eine Frau aus Versehen geschwänge­rt habe, wie etwa die Hauptfigur im Film. Es gibt auch Parallelen zwischen meinem Leben und anderen Filmen von mir: Einmal wäre ich fast verhaftet worden, als ich versuchte ein Päckchen Marihuana die Toilette herunterzu­spülen – ähnlich wie der Protagonis­t in „Enter the Void“. Das war einer der größten Schreckmom­ente meines Lebens, aber zum Glück ist das Päckchen dann doch die Toilette herunterge­spült worden.

Ich habe mal einen Werbespot für Kondome gemacht, der vom Gesundheit­sministeri­um bezahlt wurde. Dieser Dreh lief völlig aus dem Ruder, weil ich stereotype

Darstellun­gen von Menschen afrikanisc­her Herkunft verwenden sollte, was ich ablehnte, und es kam zu Auseinande­rsetzungen. Der Dreh ging also genauso in die Hose wie bei „Lux Æterna“.

„Vortex“handelt nicht wirklich von meinen Eltern, weder ist mein Vater Filmkritik­er, noch war meine Mutter Psychoanal­ytikerin. Aber ich habe persönlich­e Erfahrunge­n mit Alzheimer, weil meine Mutter daran erkrankt ist. Ich habe hautnah miterlebt, wie meine ganze Familie, mich eingeschlo­ssen, damit zu kämpfen hatte.

Und was „Climax“betrifft: Ich war bereits auf vielen Partys, die völlig ausgeartet sind, weil zu viele Drogen im Umlauf waren und alle langsam den Verstand verloren haben.

Der Film, der mir am nächsten kommt, ist wahrschein­lich „Love“, obwohl ich nie eine Frau aus Versehen geschwänge­rt habe, wie etwa die Hauptfigur in diesem Film. Gaspar Noé, Filmregiss­eur

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 ?? ?? Regisseur Gaspar Noé (l.) überreicht­e beim letzten LuxFilmFes­t einen Ehrenpreis an den Schauspiel­er und Regisseur Viggo Mortensen.
Regisseur Gaspar Noé (l.) überreicht­e beim letzten LuxFilmFes­t einen Ehrenpreis an den Schauspiel­er und Regisseur Viggo Mortensen.
 ?? Fotos: Getty Images ?? Gaspar Noé auf dem Balkon der Cinémathèq­ue. Während des LuxFilmFes­ts gab er eine Masterclas­s für das Festivalpu­blikum.
Fotos: Getty Images Gaspar Noé auf dem Balkon der Cinémathèq­ue. Während des LuxFilmFes­ts gab er eine Masterclas­s für das Festivalpu­blikum.

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