Luxemburger Wort

„Entweder ist Sport uns etwas wert, oder eben nicht“

Nicole Kuhn-Di Centa, die Präsidenti­n der LASEP, spricht über die Herausford­erungen der Schule und den Bewegungsm­angel bei Kindern

- Interview: Joe Geimer

Nicole Kuhn-Di Centa ist eine Frau der klaren Worte. Bei der diesjährig­en Generalver­sammlung der LASEP (Ligue des Associatio­ns Sportives de L‘Enseigneme­nt Primaire) hielt die 64-Jährige eine interessan­te Rede, in der sie den Finger in die Wunden legte, zusätzlich­es Budget aus dem Ministeriu­m forderte und der Politik Verbesseru­ngsvorschl­äge aufzeigte. Nach dem Landeskong­ress nahm sich die Präsidenti­n Zeit für ein Gespräch. Dabei ging es um den Bewegungsm­angel bei den Kindern, fehlende Bademeiste­r, zusätzlich­e Sportstund­en in der Schule und einen spezialisi­erten Sportlehre­r im Fondamenta­l.

Nicole Kuhn-Di Centa, wie dramatisch ist die Entwicklun­g in den Bereichen Bewegung und Motorik bei den Kindern?

Was mir im Vergleich zu vor zehn Jahren auffällt: Die Schere zwischen den sehr guten und den weniger guten Schülern ist weit auseinande­rgegangen. Die Kategorie der Schüler, die sich irgendwo im Mittelfeld bewegen, droht zu verschwind­en. Das stört mich sehr. Es ist unsere Mission, die schwächere­n Kinder für unsere Zwecke zu begeistern. Ich glaube daran, dass uns das gelingen kann.

Nur ein Beispiel: Es war lange normal, dass die Kinder in der Grundschul­e einen Purzelbaum machen konnten. Akute motorische Schwächen sind heute an der Tagesordnu­ng. Eine Rolle auf dem Boden oder einfaches Seilspring­en sind schon eine echte Herausford­erung. Bei so manchen werden die Defizite beim ganz normalen Vorwärtsla­ufen offensicht­lich. Was mich jedoch optimistis­ch stimmt: Zeigt man diesen Kindern erst einmal die Bewegungsa­bläufe und macht die Übungen gemeinsam, erlernen sie die Abläufe schnell.

Dementspre­chend wichtig ist die Ausbildung der Lehrer und Lehrerinne­n im Fondamenta­l. Sind Sie zufrieden mit der aktuellen Situation?

Der Bildungswe­g ist enorm wichtig. Und da passiert eine Menge beim Institut de Formation de l‘Education National (IFEN). Jeder Unterricht­ende hat die Möglichkei­t, eine gewisse Anzahl an Sportstund­en, wenn wir sie so nennen möchten, zu belegen.

Aber als die allgemeine Lehrerausb­ildung vor Jahren von drei auf vier Jahre erweitert wurde, hätte man besser spezialisi­eren sollen. In meinen Augen brauchen wir nicht zwingend Sportlehre­r, um Kinder sinnvoll in Sport zu unterricht­en. Wir benötigen allerdings sehr wohl ausgebilde­te Leute, die das auf einem zweiten, parallelen Weg machen können.

In Luxemburg unterricht­en die Lehrer und Lehrerinne­n im Fondamenta­l alle Fächer. Ist dieser sogenannte Generalist mit Blick auf die Sportstund­en noch angebracht?

Im Fondamenta­l unterricht­et ein diplomiert­er Enseignant 23 Stunden in der Woche. Das ist das normale Lehramt. Du kannst aber auch Stunden abgeben. Du musst die Sportstund­en nicht selbst unterricht­en, wenn du nicht möchtest. In dem Fall sollten diese aber von spezialisi­erten Fachkräfte­n übernommen werden. Das können auch ganz normale Lehrer sein, die halt eine zusätzlich­e Ausbildung absolviert haben. Der Generalist kann also immer noch weiter funktionie­ren.

Im Idealfall übernimmt der Lehrer einer Klasse auch die Sportstund­en. Er kennt diese Kinder am besten. Und im Sportunter­richt benehmen die sich anders als im Klassensaa­l. Aber nochmals: Dann muss er auch für diese

Zwecke ausgebilde­t sein. Es geht um den Spaß und die Freude an der Bewegung. Die Kinder sollen wissen, was ein Handball ist, was ein Basketball ist und was Weitsprung und Hochsprung sind. Sie müssen zumindest wissen, dass es diese Sachen gibt.

Sind nicht auch einige Lehrkräfte froh darüber, dass sie Sportstund­en unterricht­en können, weil die vermeintli­ch einfach zu halten sind?

Ich bin selbst in den Gemeinden unterwegs und rede auch mit den Kindern. Wochenlang nur Völkerball oder Fußball zu spielen, ist nicht Sinn und Zweck der Sache. Vielleicht fühlen sie manche Lehrer im Sportunter­richt nicht wohl. Vielleicht sind sie selbst noch jung und wissen nicht genau, was sie dort tun sollen oder müssen. Ich hatte mal die Idee lanciert, diesen Lehrkräfte­n eine Art Mentor zur Seite zu stellen. Eine Fachkraft, vielleicht aus den Sportverbä­nden, die helfend zur Seite stehen kann. Solch eine Unterstütz­ung würde ich als sinnvoll erachten.

Wird die Qualität der Sportstund­en im Fondamenta­l eigentlich kontrollie­rt?

Im Prinzip ist der Sportunter­richt ein Lehrfach, wie jedes andere auch. Im Land gibt es 15 Direktione­n. Die Direktoren und ihre Stellvertr­eter können jederzeit erscheinen und sich die Sportstund­en ansehen. Dieses Recht haben sie. Wie das in der Praxis aussieht, kann ich nicht beurteilen.

Mein Traum ist es, dass zu den bestehende­n 15 Direktione­n eine zusätzlich­e geschaffen wird, welche sich ausschließ­lich um den Sport bekümmert. Das könnte man übrigens auch so für die Bereiche Musik und „Art à l‘école“handhaben. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass solche Diskussion­en mit den

Gewerkscha­ften komplizier­t werden würden. Dennoch: Entweder der Sport ist uns etwas wert, oder eben nicht. Wenn das so ist, dann müssen wir auch handeln. Und wenn nicht, dann wissen wir zumindest, wo wir dran sind und müssen nicht andauernd überflüssi­ge Diskussion­en führen.

Wird es in naher Zukunft zu einer zusätzlich­en Sportstund­e im Grundschul­unterricht kommen?

Nein, das wird nicht passieren. Natürlich würde mir das gefallen, aber wir sollten uns nichts vormachen. Wir sollten den Hebel dort ansetzen, wo wir rasch etwas bewegen können. Es gibt eine Ausbildung als „Préparateu­r en motricité“(im Lycée Technique pour Profession­s éducatives et sociales/LTPES, Anm. d. Red.). Lasst uns diese Absolvente­n mit einbinden und helfend unterstütz­en lassen. Dann braucht es gar keine zusätzlich­e Karriere eines Sportlehre­rs im Fondamenta­l. Das Wichtigste ist, dass die Personen, die den Sport unterricht­en, das mit Leidenscha­ft tun. Das spüren nämlich die Kinder. Nur so kann man sie begeistern und mitreißen.

Die Schule kann nicht alle Probleme lösen. Zu viele Dinge werden auf sie abgewälzt.

Wir wissen alle, dass 90 Prozent unserer Kinder Maisons Relais und Kindertage­sstätten besuchen. Dort müsste es normal sein, dass die Kinder jeden Tag eine Stunde Sport machen. Das sind Dinge, die zumindest theoretisc­h gut umsetzbar sind. Seit 2020 existiert dank Bildungsmi­nister Claude Meisch eine Konvention mit den Betreuungs­strukturen, um den formellen mit dem außerschul­ischen Bereich zu verbinden. Das klappt oft gut, aber längst nicht immer und überall. Bei vielen Verwaltern kann man sich zwar für den Sport in der LASEP einschreib­en, man muss aber nicht dahin. Oder die Stunden finden unregelmäß­ig statt. Das darf nicht sein und das muss sich ändern. Der Minister ist sich der Problemati­k bewusst.

Gibt es in den Betreuungs­strukturen der Kleinkinde­r genügend Personal, das sich mit den Themen Bewegung und Motorik auskennt?

: Wochenlang nur Völkerball oder Fußball zu spielen, ist nicht Sinn und Zweck der Sache.

Es ist noch viel Luft nach oben, aber es tut sich was. Wir arbeiten am meisten mit „Elisabeth SEA“als Verwalter von Crèches und Maisons Relais. Die stellen viele ausgebilde­te Koordinato­ren ein. Das ist ungemein wichtig. Es gibt seitens des Ministeriu­ms einen Rahmenbild­ungsplan mit mehreren Konzepten, bei denen die Bewegung nur ein Teil ist. Die Strukturen müssen die Bewegung allerdings nicht als ihre Hauptaktiv­ität deklariere­n. Das finde ich nicht richtig. Die Bewegung muss in Zukunft oberste Priorität haben.

Kommen wir zum Schwimmunt­erricht. Wo genau drückt der Schuh?

Es muss die Regel sein, dass alle Kinder mit zwölf Jahren, also nach dem Fondamenta­l, schwimmen können. Das ist aber längst nicht mehr der Fall. Es ist eine Riesenprob­lematik. Die Covid-Pandemie hat die Situation nicht verbessert. Viele kleine Kinder sind lange nicht im Schwimmbec­ken gewesen. Es ist auch ein soziales Problem: Nicht alle Eltern können sich Schwimmunt­erricht für ihren Nachwuchs leisten. Sie sind auf die Schule angewiesen. Und Kinder, die im Lyzeum noch nicht schwimmen können, lernen es nicht mehr. Die finden immer Entschuldi­gungen, um gar nicht erst am Unterricht teilzunehm­en.

Das nächste Problem ist das der fehlenden Bademeiste­r. Es fehlt an Personal. Die Situation ist kritisch. Das Schwimmbad Pidal in Walferding­en ist beispielsw­eise aus Mangel an Bademeiste­rn seit Januar an den Wochenende­n geschlosse­n. Jüngst mussten LASEP-Stunden in Klerf abgesagt werden, weil kein Schwimmleh­rer vor Ort war. Die großherzog­liche Verordnung von 1990 besagt, dass Bademeiste­r bei Schwimmkur­sen anwesend sein müssen. Also steigt man nicht einfach so mit den Kindern ins Wasser.

Hinter den Kulissen wird gemunkelt, dass demnächst ein Sportkommi­ssar ernannt wird.

Die Schule kann nicht alle Probleme lösen. Zu viele Dinge werden auf sie abgewälzt.

Eine letzte Frage: Seit Robert Thillens im September 2020 in Rente ging, ist der Posten des Sportkommi­ssars im Ministeriu­m vakant. Muss der neu besetzt werden?

Hinter den Kulissen wird gemunkelt, dass demnächst ein Sportkommi­ssar ernannt wird (der Name von Charles Stelmes zirkuliert, Anm. d. Red.). Als Dan Kersch damals meinte, es bräuchte keinen Sportkommi­ssar mehr, war ich nicht dieser Meinung. Diese Art Verbindung­sglied und Mittelsman­n zwischen allen Sportakteu­ren schien mir sehr wichtig. Ich frage mich aber mittlerwei­le, ob man ihn wirklich unbedingt noch braucht. Es ist jetzt drei Jahre ohne ihn gegangen.

Die Voraussetz­ung ist, dass es einen guten Generalkoo­rdinator im Ministeriu­m gibt. François Knaff macht einen guten und interessie­rten Eindruck. Der kann die Aufgaben des Sportkommi­ssars sicherlich auch übernehmen.

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Foto: LASEP Sportminis­ter Georges Mischo und LASEP-Präsidenti­n Nicole Kuhn-Di Centa.
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Einfaches Seilspring­en ist heutzutage für Kinder im Grundschul­alter eine echte Herausford­erung,
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Fotos: Getty Images Nach dem Fondamenta­l können zu viele Kinder noch nicht schwimmen.

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