Obdachlose bleiben hungrig, weil Street Angels nicht helfen dürfen
Am Dienstag wollte die Vereinigung in Esch Kleidung und Essen an Bedürftige verteilen. Doch die Gemeinde stoppte die solidarische Aktion
Der gelbe Bus der Street Angels ist prall gefüllt: Decken, Kleidung, Wasserflaschen, Hygieneartikel, aber keine Spur von Suppe, Kaffee oder Obst. Am Dienstagabend wollen die Street Angels in Esch das Nötigste an Obdachlose und Bedürftige verteilen, so wie sie es seit acht Jahren in der Hauptstadt tun – dreimal pro Woche in Bonneweg. „Weil auch im Süden des Landes unsere Hilfe benötigt wird“, wie die Vereinigung vor ein paar Tagen auf ihrer Facebook-Seite schrieb, planten die Freiwilligen, fortan jeden Dienstagabend in Esch aufzuschlagen.
Doch am Dienstagnachmittag erteilte ihnen der Escher Schöffenrat eine Absage. Und so stehen rund 20 Menschen, die sich auf dem Parkplatz in der Rue Helen Buchholtz erwartungsvoll eingefunden hatten, mit leeren Händen da. Den Transport der warmen Mahlzeit haben sich die Street Angels nach der für sie überraschenden Nachricht gespart, gekommen sind sie trotzdem, vielleicht lässt sich ja doch noch jemand von der Gemeinde blicken. Um keine Probleme mit der Polizei zu bekommen, bleiben jedoch alle Mitbringsel im Wagen. Patrizia Balestra, die sich seit drei Jahren bei den Street Angels engagiert, zeigt sich enttäuscht und empört zugleich. Sie habe sich am Nachmittag im Escher Rathaus eingefunden, um eine offizielle Genehmigung für die Hilfsaktion einzuholen. „Wir würden die Gemeinde Esch bei ihrer Arbeit stören“, erzählt sie. „Sie haben uns eine Absage erteilt, weil wir keine pädagogische Ausbildung haben und auch keinen Streetworker dabei hätten. Daraufhin schlug ich vor, dass sie uns ja einen vorbeischicken könnten, aber das schmetterten sie ab mit dem Argument, dass wir ja nur Freiwillige seien und keine Professionellen.“
Alles Bitten und Betteln half nichts. Auch nicht das Argument, dass die Street Angels keine Konkurrenz zur Stadt Esch seien und niemanden ausfragen würden, sondern nur Essen und Kleidung verteilen wollten. „Die Leute kommen selbst auf uns zu und reden mit uns“.
Eine „unmenschliche“Entscheidung
Joos lebt seit sechs Monaten auf der Straße, weil ihm sein ehemaliger Vermieter gekündigt habe. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von anderen Obdachlosen, die in Hauseingängen schlafen oder in einem abgestellten Auto auf einem Parkplatz in Belval. „Zwei Winter haben die dort verbracht, keiner hat sich darum geschert.“Mittlerweile sei das Auto abgeschleppt worden. „Die Leute werden verscheucht und das Problem wird nur verlagert. Es gibt nicht genug Schlafplätze für alle.“
Ihre wirklich lobenswerte Aktion bringt unsere soziale Mission in Schwierigkeiten. Bruno Cavaleiro, Sozialschöffe der Stadt Esch
Patrizia Balestra wolle nur „ein Stück zurückgeben von dem, was ich bekommen habe, das ist für mich Benevolat“, sagt sie. „Das hast du schön gesagt“, sagt ein anderer Freiwilliger, der neben ihr steht. „Unmenschlich“finde er die Reaktion der Stadt. 50 bis 60 Mahlzeiten verteilen die Street Angels eigenen Angaben zufolge pro Abend, den sie im Dernier Sol stehen. „Gestern war alles innerhalb von einer Stunde weg.“
„Bei der Stadtverwaltung hat man uns gesagt, dass es in Esch genügend Hilfsstrukturen gibt, aber die Stëmm vun der Strooss gibt nur mittags Essen aus“, sagt Balestra. „In Wirklichkeit wollen sie nicht, dass durch diese Aktion noch mehr Obdachlose aus anderen Gemeinden nach Esch kommen.“Die Umstehenden nicken zustimmend.
Lediglich drei Oppositionelle aus dem Gemeinderat lassen sich an diesem Abend „als Privatperson“vor Ort blicken. Tammy Broers von den Piraten habe extra einen
Freund mitgebracht, „der sich gefreut hatte, aber jetzt umsonst gekommen ist, ich finde das unmöglich“, sagt sie. „Ich werde das Thema nächsten Freitag im Gemeinderat ansprechen, denn ich finde, das hier ist eine gute Sache.“
„Esch hat genügend soziale Strukturen“
Bürgermeister Christian Weis (CSV) äußert sich gestern Vormittag mit dem Hinweis, dass Esch über genügend soziale Strukturen verfüge, die gut funktionierten. „Wenn wir glauben, dass wir unser soziales Angebot ausbauen sollten, dann würden wir das tun, und zwar in Zusammenarbeit mit professionellen Trägern“, so Weis gegenüber dem LW. So funktioniere das sozio-edukative Netz in Esch auch dank der ausgebildeten Erzieher und Pädagogen: „Le travail social ne s‘improvise pas“, betont er und verweist auf die Streetworker von Inter-Actions oder auf soziale Institutionen wie Ärzte der Welt, die in Esch angesiedelt sind.
Sozialschöffe Bruno Cavaleiro wehrt sich gegen den Vorwurf, Esch wolle verhindern, dass durch die Aktion noch mehr Obdachlose angelockt werden. „Das haben wir nie gesagt. Die Street Angels waren schon vergangenen Donnerstag auf dem Platz und haben ohne Erlaubnis Sachen verteilt. Nachdem wir davon erfahren haben, haben wir am Freitag eine Anfrage bekommen. Daraufhin haben wir uns am Dienstag auf kordialer Ebene zusammengesetzt und den Vorschlag sachlich ausgelotet“, betont Cavaleiro.
„Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Esch mit dem Abrisud, den Streetworkern, der Stëmm und anderen Organisationen eine koordinierte soziale Arbeit gewährleisten kann. Die Initiative der Street Angels ist wirklich lobenswert“, betont der Sozialschöffe mehrmals am Telefon, „das muss man anerkennen. Das Problem ist nur, dass die Aktion nicht koordiniert wird, dass niemand vom Fach ist und aus einem sozialen Beruf kommt. Das hilft den Leuten langfristig nicht, um sie aus der Misere zu holen.“Es handele sich eher um eine „Pflasteraktion ohne soziale Langzeitlösung“.
Es bestehe auch die Gefahr, dass Dinge verteilt würden, „ohne zu schauen, ob derjenige überhaupt Hilfe braucht und andere, die wirklich hilfsbedürftig sind, untergehen“. Zudem würde die Aktion nicht messbar sein, wodurch der echte Bedarf nicht beziffert werden könne. „Ich gebe ein Beispiel, die Stëmm verteilt Kleidung, aber wenn das nun auch eine andere Organisation macht, geht die Nachfrage bei der Stëmm möglicherweise runter. Ist das Problem dann kleiner geworden?“, fragt Cavaleiro. „Ihre wirklich lobenswerte Aktion bringt unsere soziale Mission in Schwierigkeiten, weil unsere Zahlen verfälscht werden.“
Deshalb werde die Gemeinde die Aktion „in dieser Form nicht unterstützen“. Eine Möglichkeit sehe der Sozialschöffe allerdings: „Wenn die Street Angels eine professionelle Koordination haben und ihr Angebot unser bestehendes ergänzt, können wir wieder miteinander reden.“
Für die Street Angels jedenfalls, das betonten sie am Dienstagabend entschlossen, ist Aufgeben keine Option. „Wir lassen uns nicht entmutigen und bleiben hartnäckig.“