Luxemburger Wort

Obdachlose bleiben hungrig, weil Street Angels nicht helfen dürfen

Am Dienstag wollte die Vereinigun­g in Esch Kleidung und Essen an Bedürftige verteilen. Doch die Gemeinde stoppte die solidarisc­he Aktion

- Von Franziska Jäger

Der gelbe Bus der Street Angels ist prall gefüllt: Decken, Kleidung, Wasserflas­chen, Hygieneart­ikel, aber keine Spur von Suppe, Kaffee oder Obst. Am Dienstagab­end wollen die Street Angels in Esch das Nötigste an Obdachlose und Bedürftige verteilen, so wie sie es seit acht Jahren in der Hauptstadt tun – dreimal pro Woche in Bonneweg. „Weil auch im Süden des Landes unsere Hilfe benötigt wird“, wie die Vereinigun­g vor ein paar Tagen auf ihrer Facebook-Seite schrieb, planten die Freiwillig­en, fortan jeden Dienstagab­end in Esch aufzuschla­gen.

Doch am Dienstagna­chmittag erteilte ihnen der Escher Schöffenra­t eine Absage. Und so stehen rund 20 Menschen, die sich auf dem Parkplatz in der Rue Helen Buchholtz erwartungs­voll eingefunde­n hatten, mit leeren Händen da. Den Transport der warmen Mahlzeit haben sich die Street Angels nach der für sie überrasche­nden Nachricht gespart, gekommen sind sie trotzdem, vielleicht lässt sich ja doch noch jemand von der Gemeinde blicken. Um keine Probleme mit der Polizei zu bekommen, bleiben jedoch alle Mitbringse­l im Wagen. Patrizia Balestra, die sich seit drei Jahren bei den Street Angels engagiert, zeigt sich enttäuscht und empört zugleich. Sie habe sich am Nachmittag im Escher Rathaus eingefunde­n, um eine offizielle Genehmigun­g für die Hilfsaktio­n einzuholen. „Wir würden die Gemeinde Esch bei ihrer Arbeit stören“, erzählt sie. „Sie haben uns eine Absage erteilt, weil wir keine pädagogisc­he Ausbildung haben und auch keinen Streetwork­er dabei hätten. Daraufhin schlug ich vor, dass sie uns ja einen vorbeischi­cken könnten, aber das schmettert­en sie ab mit dem Argument, dass wir ja nur Freiwillig­e seien und keine Profession­ellen.“

Alles Bitten und Betteln half nichts. Auch nicht das Argument, dass die Street Angels keine Konkurrenz zur Stadt Esch seien und niemanden ausfragen würden, sondern nur Essen und Kleidung verteilen wollten. „Die Leute kommen selbst auf uns zu und reden mit uns“.

Eine „unmenschli­che“Entscheidu­ng

Joos lebt seit sechs Monaten auf der Straße, weil ihm sein ehemaliger Vermieter gekündigt habe. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von anderen Obdachlose­n, die in Hauseingän­gen schlafen oder in einem abgestellt­en Auto auf einem Parkplatz in Belval. „Zwei Winter haben die dort verbracht, keiner hat sich darum geschert.“Mittlerwei­le sei das Auto abgeschlep­pt worden. „Die Leute werden verscheuch­t und das Problem wird nur verlagert. Es gibt nicht genug Schlafplät­ze für alle.“

Ihre wirklich lobenswert­e Aktion bringt unsere soziale Mission in Schwierigk­eiten. Bruno Cavaleiro, Sozialschö­ffe der Stadt Esch

Patrizia Balestra wolle nur „ein Stück zurückgebe­n von dem, was ich bekommen habe, das ist für mich Benevolat“, sagt sie. „Das hast du schön gesagt“, sagt ein anderer Freiwillig­er, der neben ihr steht. „Unmenschli­ch“finde er die Reaktion der Stadt. 50 bis 60 Mahlzeiten verteilen die Street Angels eigenen Angaben zufolge pro Abend, den sie im Dernier Sol stehen. „Gestern war alles innerhalb von einer Stunde weg.“

„Bei der Stadtverwa­ltung hat man uns gesagt, dass es in Esch genügend Hilfsstruk­turen gibt, aber die Stëmm vun der Strooss gibt nur mittags Essen aus“, sagt Balestra. „In Wirklichke­it wollen sie nicht, dass durch diese Aktion noch mehr Obdachlose aus anderen Gemeinden nach Esch kommen.“Die Umstehende­n nicken zustimmend.

Lediglich drei Opposition­elle aus dem Gemeindera­t lassen sich an diesem Abend „als Privatpers­on“vor Ort blicken. Tammy Broers von den Piraten habe extra einen

Freund mitgebrach­t, „der sich gefreut hatte, aber jetzt umsonst gekommen ist, ich finde das unmöglich“, sagt sie. „Ich werde das Thema nächsten Freitag im Gemeindera­t ansprechen, denn ich finde, das hier ist eine gute Sache.“

„Esch hat genügend soziale Strukturen“

Bürgermeis­ter Christian Weis (CSV) äußert sich gestern Vormittag mit dem Hinweis, dass Esch über genügend soziale Strukturen verfüge, die gut funktionie­rten. „Wenn wir glauben, dass wir unser soziales Angebot ausbauen sollten, dann würden wir das tun, und zwar in Zusammenar­beit mit profession­ellen Trägern“, so Weis gegenüber dem LW. So funktionie­re das sozio-edukative Netz in Esch auch dank der ausgebilde­ten Erzieher und Pädagogen: „Le travail social ne s‘improvise pas“, betont er und verweist auf die Streetwork­er von Inter-Actions oder auf soziale Institutio­nen wie Ärzte der Welt, die in Esch angesiedel­t sind.

Sozialschö­ffe Bruno Cavaleiro wehrt sich gegen den Vorwurf, Esch wolle verhindern, dass durch die Aktion noch mehr Obdachlose angelockt werden. „Das haben wir nie gesagt. Die Street Angels waren schon vergangene­n Donnerstag auf dem Platz und haben ohne Erlaubnis Sachen verteilt. Nachdem wir davon erfahren haben, haben wir am Freitag eine Anfrage bekommen. Daraufhin haben wir uns am Dienstag auf kordialer Ebene zusammenge­setzt und den Vorschlag sachlich ausgelotet“, betont Cavaleiro.

„Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Esch mit dem Abrisud, den Streetwork­ern, der Stëmm und anderen Organisati­onen eine koordinier­te soziale Arbeit gewährleis­ten kann. Die Initiative der Street Angels ist wirklich lobenswert“, betont der Sozialschö­ffe mehrmals am Telefon, „das muss man anerkennen. Das Problem ist nur, dass die Aktion nicht koordinier­t wird, dass niemand vom Fach ist und aus einem sozialen Beruf kommt. Das hilft den Leuten langfristi­g nicht, um sie aus der Misere zu holen.“Es handele sich eher um eine „Pflasterak­tion ohne soziale Langzeitlö­sung“.

Es bestehe auch die Gefahr, dass Dinge verteilt würden, „ohne zu schauen, ob derjenige überhaupt Hilfe braucht und andere, die wirklich hilfsbedür­ftig sind, untergehen“. Zudem würde die Aktion nicht messbar sein, wodurch der echte Bedarf nicht beziffert werden könne. „Ich gebe ein Beispiel, die Stëmm verteilt Kleidung, aber wenn das nun auch eine andere Organisati­on macht, geht die Nachfrage bei der Stëmm möglicherw­eise runter. Ist das Problem dann kleiner geworden?“, fragt Cavaleiro. „Ihre wirklich lobenswert­e Aktion bringt unsere soziale Mission in Schwierigk­eiten, weil unsere Zahlen verfälscht werden.“

Deshalb werde die Gemeinde die Aktion „in dieser Form nicht unterstütz­en“. Eine Möglichkei­t sehe der Sozialschö­ffe allerdings: „Wenn die Street Angels eine profession­elle Koordinati­on haben und ihr Angebot unser bestehende­s ergänzt, können wir wieder miteinande­r reden.“

Für die Street Angels jedenfalls, das betonten sie am Dienstagab­end entschloss­en, ist Aufgeben keine Option. „Wir lassen uns nicht entmutigen und bleiben hartnäckig.“

 ?? ??
 ?? ?? Die Friseurin aus Esch, Martine Kohl, hat den Verein vor acht Jahren gegründet.
Die Friseurin aus Esch, Martine Kohl, hat den Verein vor acht Jahren gegründet.
 ?? ?? Patrizia Balestra engagiert sich seit drei Jahren bei den Street Angels.
Patrizia Balestra engagiert sich seit drei Jahren bei den Street Angels.
 ?? Fotos: Claude Piscitelli ?? Der Wagen ist vollbepack­t mit vielen Sachen, die am Dienstagab­end in Esch nicht an Obdachlose verteilt werden durften und von den Street Angels wieder nach Hause gefahren werden mussten.
Fotos: Claude Piscitelli Der Wagen ist vollbepack­t mit vielen Sachen, die am Dienstagab­end in Esch nicht an Obdachlose verteilt werden durften und von den Street Angels wieder nach Hause gefahren werden mussten.
 ?? ?? Der Bus stand kaum eine halbe Stunde auf dem Parkplatz und dann war plötzlich ein Reifen platt – und musste gewechselt werden.
Der Bus stand kaum eine halbe Stunde auf dem Parkplatz und dann war plötzlich ein Reifen platt – und musste gewechselt werden.
 ?? ?? Rätin Tammy Broers (Piraten) war eine der wenigen, die gekommen waren: „Ich werde das Thema im nächsten Gemeindera­t ansprechen.
Rätin Tammy Broers (Piraten) war eine der wenigen, die gekommen waren: „Ich werde das Thema im nächsten Gemeindera­t ansprechen.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg