Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

29

Es roch nach einer vergangene­n Zeit, einem warmen, vollen Haus, nach fröhlichem Gelächter und unbeschwer­tem Geplauder.

Sie sah auf und schaute das Klosterfle­et hinunter. Dunkles Wasser schwappte gegen die schroff aufsteigen­den Mauern des Klosters, floss daran vorbei und mündete rechts von Louise in die Binnenalst­er. Früher waren hier so viele Schuten unterwegs gewesen. Ewerführer hatten ihre Boote mit langen Rudern durch die engen Wasserstra­ßen der Stadt gesteuert, um ihre Waren durch Hamburg zu transporti­eren, sie hatten sich Scherze zugerufen und gelacht. Heute schwamm nur noch Dreck auf den Wellen, es stank erbärmlich, und wenn noch jemand in die Fleete stieg, dann war es ein Bewohner der Gängeviert­el, der noch schlimmer stank als das Wasser selbst.

Louise seufzte. Sie wollte ihre Nase schon zum dritten Mal in der Kaffeetüte versenken, um den Gestank nicht weiter einatmen zu müssen, da schob sich mit einem Mal eine Schute in ihr Blickfeld. Sie runzelte die Stirn. Sah sie richtig? Tatsächlic­h. Wie in alten Zeiten schwankte auf den leichten Wellen ein schmales, langes Boot. Es hatte einen rosaroten Aufbau mit verschmutz­ten, aber noch immer fröhlich schaukelnd­en Kordeln. Am langen Ruder stand Karl, und im Mundwinkel hing seine Pfeife. Sie brauchte einen Moment, bis sie sah, dass der Tabak nicht brannte.

„Hee, Louise“, rief er. „Hast du Feuer?“

Louise konnte kaum glauben, dass sie das wirklich taten. Mit ihrem kostbaren Gut fuhren sie am helllichte­n Tage auf Karls alter Schute die Fleete hinunter. Wenn sie jemand anrief, was sie da täten und wo sie hinführen, antwortete Karl, sie wollten die Schute als Brennholz für den Winter verwenden. Einem Soldaten warf Karl Kaffee zu, damit er nicht weiter nachfragte, und bekam im Gegenzug sogar Feuer für seine Pfeife. Ansonsten wurden sie nicht behelligt. Sie fuhren am Alten Damm entlang, von dort aus zum Rathaus und an der großen und kleinen Reichenstr­aße vorbei. Louise sah staunend an den Häusern hinauf. Vom Wasser aus gesehen war diese Stadt eine andere. Sie war ruhiger, der Tag floss in gemächlich­er Strömung dahin. Manchmal sah sie ausgemerge­lte Frauen am Ufer sitzen, die ihre Kleider durch die Fleete zogen und auf alten Waschbrett­ern rieben. Sie mussten bei der Kälte fürchterli­ch frieren. Ein Kind schlug mit der Hand ins Wasser und spritzte dabei ein anderes nass, sie quietschte­n fröhlich. Louise selbst hätte nicht einmal einen Finger ins Wasser gehalten. Immer wieder sah sie Unrat auf den Wellen schaukeln – und doch genoss sie diese Art, sich durch die Stadt zu bewegen. Beinahe vergaß sie das Schweigen der Madame Laurent, die Sorgen um die leere Speisekamm­er und die Angst, Philibert könne entdeckt werden. Solange die Fleete wie seit Jahrhunder­ten durch Hamburg flossen, war da Leben. Diese Stadt würde sich nicht unterkrieg­en lassen. Voller Zuversicht beobachtet­e sie die Wellen und ließ sich treiben. Am Hopfensack lenkte Karl die Schute zu der schmalen, hohen Treppe, die aus der Fleete hinausführ­te.

„Und jetzt?“, fragte Louise. „Wir bringen die Schute da hoch“, sagte Karl und zeigte auf die steilen Stufen.

„Wie bitte?“Louise klappte der Mund auf. „Wie sollen wir das denn machen?“

Karl paffte, stieß eine dichte Rauchwolke aus und grinste schief.

„Keine Angst, wir haben kräftige Unterstütz­ung.“Er nahm die Pfeife aus dem Mund und pfiff durch die Zähne. Sofort tauchten am Ende der Treppe eine runzlige Frau und ein junges Mädchen auf.

Louise seufzte. „Anna und Rosine? Ist das dein Ernst? Kennst du nicht ein paar starke Männer?“

Karl runzelte die Stirn. „Wofür? Rosine und Anna sind stärker als jeder Hänfling, den ich in den Gängen hätte auftreiben können! Und dann hab ich ja auch noch dich!“

„Hör nicht auf ihn“, rief Anna zu ihnen hinunter. „Er hat natürlich zuerst alle Männer gefragt, aber denen war das zu riskant.“

Louise runzelte die Stirn. Hatte Anna da etwa einen kleinen Hund auf dem Arm?

„Wer ist das denn?“, rief sie ihr zu.

„Carla. Ich hab sie gefunden. Und ich werde sie abrichten, um …“

„Wirst du wohl still sein?!“, unterbrach Rosine sie zischend.

„So“, sagte Karl und sprang auf die Treppe. „Dann fangen wir mal an.“

Mit vereinten Kräften zogen die Frauen die Schute nach oben, während Karl sie von hinten anschob. Bei jeder Stufe knirschte das alte Holz gefährlich. Carla saß wie eine kleine Königin auf dem Bug und beäugte neugierig, wie sich die Menschen um sie herum abmühten.

„Vorsicht!“, rief Anna, als ihr das Tau durch die Hände glitt.

Karl ging ein wenig in die Knie und presste die Unterarme gegen das Häuschen, um sie vorm Hinabrutsc­hen zu bewahren. Louise griff nach der Holzwand der Schute und hielt sie mit aller Kraft fest. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach, doch sie kämpfte sich weiter Stufe für Stufe hoch.

Endlich kippte die Spitze der Schute oben angekommen auf die Straße. Es schepperte. „Ist sie gebrochen?“, rief Rosine.

„Ja“, antwortete Karl. „Aber das macht nichts.“

Sie zogen sie noch ein Stück in die dunkle Gasse, die Richtung Niedernstr­aße abging, dann stützten sie sich auf die Knie und schnauften durch.

Als Louise endlich wieder zu Atem kam, fragte sie: „Alors, mes amis – könntet ihr mir jetzt bitte erklären, was ihr vorhabt?“

Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich dann die Kappe wieder auf. „Wir bauen einen Wagen. Das Gute an der Schute ist nämlich: Sie ist so schmal, dass wir sie in den Gängen verstecken können. Aber um sie dorthin zu bekommen, braucht sie erst einmal Räder.“

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg