Luxemburger Wort

Wladimir Kaminer: „Die Drohung mit der Atombombe ist Putins letzter Trumpf“

„Der Krieg braucht Menschen wie Feuer das Holz“, so der Russlander­klärer, der auch verdeutlic­ht, warum für viele Russen die Wahl wie eine rektale Maßnahme ist

- Von Philipp Hedemann

Russendisk­o“und andere Bestseller machten Wladimir Kaminer zu Deutschlan­ds wichtigste­m Russlander­klärer. Jetzt hat der Schriftste­ller eine „Gebrauchsa­nweisung für Nachbarn“geschriebe­n. Im Interview spricht er darüber, warum es Russland und der Ukraine schwer fällt, neue Soldaten zu rekrutiere­n, weshalb Olaf Scholz ihn an einen vor Angst erstarrten Frosch erinnert und warum er glaubt, dass Putin sich in eine Sackgasse manövriert hat und nicht lacht. Außerdem macht Kaminer sich Gedanken über Macrons Nato-Bodentrupp­en-Vorstoß, Taurus-Marschflug­körper, die Angst vor einem russischen Atomschlag, den qualvollen Tod von Alexei Nawalny, Trump, Russophobi­e, die russische Präsidents­chaftswahl als rektale Maßnahme und das Ende des Krieges in der Ukraine.

Wladimir Kaminer, Sie haben gerade mit Martin Hyun die „Gebrauchsa­nweisung für Nachbarn“geschriebe­n. Kann es zwischen Russland und der Ukraine je wieder zu einem guten nachbarsch­aftlichen Verhältnis kommen?

Nein, nicht in der absehbaren Zukunft. Die Länder befinden sich schon im dritten Jahr des Krieges. Hunderttau­sende wurden getötet, noch mehr Menschen wurden verletzt, Millionen sind auf der Flucht. Auf ukrainisch­er Seite gibt es kaum noch eine Familie, die nicht jemanden in diesem Krieg verloren hat. Daher sehe ich keine Grundlage mehr für ein gutes nachbarsch­aftliches Verhältnis. Die Enkelkinde­r der heutigen Kämpfer werden es vielleicht schaffen.

Wie wird der Rest Europas mit dem russischen Nachbarn klarkommen?

Auch für den Rest Europas wird es sicher schwierig, aber notwendig werden, mit dem Nachbarn Russland zu leben. Ganz egal, wie schläfrig die Europäisch­e Union derzeit ist und wie langsam sie für das 21. Jahrhunder­t reift – sie wird irgendwann begreifen, dass ein sicheres Europa ohne die Einbindung Russlands nicht möglich ist. Sie wird Russland irgendwie in eine gemeinsame europäisch­e Zukunft integriere­n müssen, so wie das zerschlage­ne Nazideutsc­hland nach 1945 integriert wurde. Das ist für viele europäisch­e Regierunge­n und NatoGenerä­le zwar eine schrecklic­he Vorstellun­g, ein Albtraum, aber ohne Integratio­n wird Russland immer wieder in aggressive, imperialis­tische Kriege abrutschen.

Im letzten Sommer äußerten Sie die Hoffnung, dass der Krieg noch im Jahr 2023 zu Ende gehen könnte. Ihre Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt. Wagen Sie eine neue Prognose?

Prognosen sind ein undankbare­r Job. Man kann natürlich etwas glauben oder hoffen, aber jemand, der behauptet, er wisse, was die Zukunft bringt, ist entweder ein Schurke oder ein Idiot. Ich weiß nicht, wie der Krieg weitergehe­n wird, aber ich beobachte, dass beide Seiten noch stärker unter Personal- als unter Munitionsm­angel leiden.

Wieso gibt es keine Soldaten mehr?

Fast alle, die sich freiwillig für die Teilnahme an diesem Krieg entschiede­n haben, sind mittlerwei­le tot. Die Helden sind massenhaft im ersten Kriegsjahr gestorben. Die Menschen, die aus idealistis­chen Gründen – also für ein groß-russisches Reich oder für eine unabhängig­e Ukraine an die Front gezogen sind – gibt es nicht mehr. Der Krieg braucht Menschen wie Feuer das Holz. Die Menschen werden verbrannt.

Wie werden die Soldaten jetzt rekrutiert?

Im zweiten Jahr hatte die russische Administra­tion die superkluge Methode ausgearbei­tet, Menschen zu kaufen. Damals gab es tatsächlic­h mehr als genug Kandidaten, die bereit waren, ihr Leben für dieses große Geld zu riskieren oder besser gesagt, abzugeben. Denn da ihre Verträge automatisc­h verlängert werden, bis sie sterben, kommt keiner von ihnen lebend zurück. Aber dann gibt es immerhin richtig gutes Geld für die Familie. Dann ist ein Auto, die Ausbildung der Kinder oder sogar ein Haus drin. In den Dörfern der abgelegene­n armen Regionen hat das eine Zeit lang gut funktionie­rt.

Auch in russischen Gefängniss­en wurden Kämpfer angeworben.

Die Rekrutieru­ng von Knackis war eine riesige Maschineri­e. Russland hatte plötzlich 254.000 Gefangene weniger. Die Knackis sind die einzigen, die eine gute Chance haben, lebend aus dem Krieg zurückzuko­mmen, weil sie meistens nur für sechs Monate kämpfen müssen. Das schlägt sich auch in der Kriminalit­ätsstatist­ik nieder. Sie ist um 100 Prozent gestiegen. Der Schwarzmar­kt für Waffen floriert. Kein Mensch kommt mit leeren Händen von der Front zurück.

Wird der Krieg auf dem Schlachtfe­ld oder am Verhandlun­gstisch entschiede­n?

Der Krieg kann nur politisch, nicht militärisc­h entschiede­n werden.

Wann wird der Krieg enden?

Wann der Krieg zu Ende geht, liegt voll und ganz in den Händen der europäisch­en Politiker. Die Europäer müssen den russischen Eliten, die heute noch hinter Putin stehen, eine Exit-Strategie anbieten. Aber das tun sie bislang nicht. Die Politiker der EU müssen endlich reifen. Es klingt so, als würde ich diese Menschen mit Gemüse vergleiche­n, aber eine gewisse Unreife im Umgang mit Russland ist doch tatsächlic­h nicht zu übersehen. Mittlerwei­le habe ich allerdings das Gefühl, dass sie endlich begreifen, worum es Putin geht.

Worum geht es Putin?

Es geht ihm sicher nicht um die Eroberung irgendwelc­her ukrainisch­er Dörfer. Davon hat er im eigenen Land schon viel zu viele. Putin geht es um Wertschätz­ung, die Beziehung zwischen

: Die Europäer müssen den russischen Eliten eine Exit-Strategie anbieten. Wladimir Kaminer

Russland und Europa und um eine neue Weltordnun­g.

Wie soll Europa auf Putins Wunsch nach einer neuen Weltordnun­g reagieren?

Es gibt drei Arten, auf aggressive­s Verhalten zu reagieren. Man kann zurückschl­agen, weglaufen oder erstarren. Frösche erstarren in gefährlich­en Situatione­n, aber ich möchte mir Deutschlan­d und Olaf Scholz nicht als einen vor Angst gelähmten Frosch vorstellen.

Ist Angststarr­e der Grund für Olaf Scholz´ Entscheidu­ng der Ukraine nicht die gewünschte­n Taurus-Marschflug­körper zu liefern?

Ich kann Scholz´ Gedankenga­ng verstehen. Im Jahr 1914 hat eine Kette von unglücklic­hen strategisc­hen Entscheidu­ngen dazu geführt, dass alle in einem großen, sinnlosen Krieg landeten. Das wollen wir nicht. Aber weder die Taurus-Marschflug­körper noch irgendwelc­he anderen Raketen werden den weiteren Verlauf des Krieges wesentlich beeinfluss­en. Also müssen wir nicht über Raketen, sondern über eine politische Strategie gegenüber Russland sprechen.

Nicht alle europäisch­en Politiker scheinen vor Angst erstarrt zu sein. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat eine Entsendung von Nato-Bodentrupp­en nicht ausgeschlo­ssen.

Macron betreibt eine Politik der Verunsiche­rung. Das hat er sich von Putin abgeguckt. Putin hat mehrfach gesagt: Wir wollen auf gar keinen Fall eine Atombombe zünden. Aber wenn wir dazu gezwungen werden, könnten die ersten Ziele Berlin, Paris und London sein. Macron droht nicht mit der Atombombe, aber er will Putin verunsiche­rn und sich alle Varianten offenhalte­n.

Halten Sie Macrons Strategie für geschickt?

Sie ist auf jeden Fall geschickte­r als das, was Scholz macht, der mit deutscher Geradlinig­keit und Ehrlichkei­t sagt, was er denkt. „Wir werden die Raketen nicht liefern.“Danke. Tschüß. Aufgelegt.

Glauben Sie, dass Putin über die europäisch­e Uneinigkei­t lacht?

Ich glaube nicht, dass Putin lacht. Er ist in eine Falle geraten. Putin hat sich etwas zur Lebensaufg­abe gemacht, was er nicht bewältigen kann. Für das, was er vorhat, hat er weder die Soldaten noch das Geld. Putin hat den Kürzeren gezogen. Weil er keinen Rückwärtsg­ang einlegen kann, kommt er aus der Sackgasse, in die er sich manövriert hat, nicht mehr raus. Seine Politik ist daher ein Appell an seine Freunde und seine Feinde gleicherma­ßen.

Wie lautet Putins Appell?

Putin sagt: Leute, Ihr seht, wo ich stehe. Holt mich hier raus! Egal wie. Ich warte auf Eure Vorschläge. Wenn ihr mir nicht helft, zünde ich die Bombe.

Sie halten es für möglich, dass Putin Atomwaffen einsetzt?

Wir leben in Zeiten, in denen man nichts ausschließ­en sollte, aber ich halte den Einsatz von Atomwaffen für sehr unwahrsche­inlich, denn die Drohung mit der Atombombe ist Putins letzter Trumpf. Wenn beim Einsatz einer Atomwaffe irgendwas schiefgeht – wenn sie nicht zündet, sie keinen militärisc­hen Durchbruch bringt oder sie Putin selbst Schaden zufügt – womit kann er dann noch drohen?

Im August letzten Jahres stürzte das Flugzeug mit Wagner Chef Jewgeni Prigoschin ab, im Februar kam Russlands wichtigste­r Opposition­eller Alexei Nawalny in einer Strafkolon­ie in Sibirien unter sogenannte­n „ungeklärte­n Umständen“zu Tode.

Da muss ich unterbrech­en. Ungeklärt sind die Umstände von Nawalnys Tod nicht. Er hat in unmenschli­chen Zellen unter Folterbedi­ngungen in einem Lebensraum, der nicht zum Leben geeignet ist, sehr lange gelitten. Nawalnys Tod war ein qualvoll langsames Umbringen.

Traut sich in Russland noch jemand gegen Putin aufzubegeh­ren, nachdem an Prigoschin und Nawalny Exempel statuiert wurden?

Die Welt hat die Bilder von Nawalnys Begräbnis gesehen. Noch Tage nach der Beisetzung standen Menschen vor dem Friedhof Schlange, um jemandem, der vom System als Terrorist und Extremist abgestempe­lt wurde, unter hohen persönlich­en Gefahren die Ehre zu erweisen. Es gibt also viele Menschen, die bereit sind, für ein liberales und demokratis­ches Russland etwas zu riskieren. Das gibt mir Hoffnung.

In einer Scheinwahl hat Putin sich vom 15. bis 17. März im Amt bestätigen lassen. Was denken Sie über die Wahl?

Selbst die russischen Medien meiden das Wort „Wahl“, sie nennen das Ereignis stattdesse­n eine „elektorale Maßnahme“. Viele kleine und mittelgroß­e Führer in den Regionen stellten ihre Loyalität unter Beweis und lieferten die angepeilte­n Ergebnisse. Natürlich wurden Ergebnisse gefälscht, aber für Fälschunge­n braucht man eine Grundlage. Man braucht schon ein paar Menschen, die in die Wahllokale gehen und irgendwas mit den Zetteln machen. Deshalb wurden die Menschen bei der Arbeit dazu gezwungen, zur Wahl zu gehen, dabei interessie­rt diese elektorale Maßnahme eigentlich kaum jemanden.

Warum?

Sie ist wie ein unangenehm­e, aber für die eigene Gesundheit erforderli­che unangenehm­e Pflicht, wie der jährliche Besuch beim Urologen zur Prostata-Untersuchu­ng. Für viele Russen ist die Wahl wie eine rektale Maßnahme. Man spricht nicht gerne darüber, aber man soll es machen.

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Foto: AFP „Putin hat den Kürzeren gezogen“, sagt Wladimir Kaminer.
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Foto: Michael Ihle Wladimir Kaminer glaubt nicht, dass Putin über Europas Uneinigkei­t lacht. Er sei in eine Falle geraten. Putin habe sich etwas zur Lebensaufg­abe gemacht, was er nicht bewältigen könne.

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