Wladimir Kaminer: „Die Drohung mit der Atombombe ist Putins letzter Trumpf“
„Der Krieg braucht Menschen wie Feuer das Holz“, so der Russlanderklärer, der auch verdeutlicht, warum für viele Russen die Wahl wie eine rektale Maßnahme ist
Russendisko“und andere Bestseller machten Wladimir Kaminer zu Deutschlands wichtigstem Russlanderklärer. Jetzt hat der Schriftsteller eine „Gebrauchsanweisung für Nachbarn“geschrieben. Im Interview spricht er darüber, warum es Russland und der Ukraine schwer fällt, neue Soldaten zu rekrutieren, weshalb Olaf Scholz ihn an einen vor Angst erstarrten Frosch erinnert und warum er glaubt, dass Putin sich in eine Sackgasse manövriert hat und nicht lacht. Außerdem macht Kaminer sich Gedanken über Macrons Nato-Bodentruppen-Vorstoß, Taurus-Marschflugkörper, die Angst vor einem russischen Atomschlag, den qualvollen Tod von Alexei Nawalny, Trump, Russophobie, die russische Präsidentschaftswahl als rektale Maßnahme und das Ende des Krieges in der Ukraine.
Wladimir Kaminer, Sie haben gerade mit Martin Hyun die „Gebrauchsanweisung für Nachbarn“geschrieben. Kann es zwischen Russland und der Ukraine je wieder zu einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis kommen?
Nein, nicht in der absehbaren Zukunft. Die Länder befinden sich schon im dritten Jahr des Krieges. Hunderttausende wurden getötet, noch mehr Menschen wurden verletzt, Millionen sind auf der Flucht. Auf ukrainischer Seite gibt es kaum noch eine Familie, die nicht jemanden in diesem Krieg verloren hat. Daher sehe ich keine Grundlage mehr für ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Die Enkelkinder der heutigen Kämpfer werden es vielleicht schaffen.
Wie wird der Rest Europas mit dem russischen Nachbarn klarkommen?
Auch für den Rest Europas wird es sicher schwierig, aber notwendig werden, mit dem Nachbarn Russland zu leben. Ganz egal, wie schläfrig die Europäische Union derzeit ist und wie langsam sie für das 21. Jahrhundert reift – sie wird irgendwann begreifen, dass ein sicheres Europa ohne die Einbindung Russlands nicht möglich ist. Sie wird Russland irgendwie in eine gemeinsame europäische Zukunft integrieren müssen, so wie das zerschlagene Nazideutschland nach 1945 integriert wurde. Das ist für viele europäische Regierungen und NatoGeneräle zwar eine schreckliche Vorstellung, ein Albtraum, aber ohne Integration wird Russland immer wieder in aggressive, imperialistische Kriege abrutschen.
Im letzten Sommer äußerten Sie die Hoffnung, dass der Krieg noch im Jahr 2023 zu Ende gehen könnte. Ihre Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt. Wagen Sie eine neue Prognose?
Prognosen sind ein undankbarer Job. Man kann natürlich etwas glauben oder hoffen, aber jemand, der behauptet, er wisse, was die Zukunft bringt, ist entweder ein Schurke oder ein Idiot. Ich weiß nicht, wie der Krieg weitergehen wird, aber ich beobachte, dass beide Seiten noch stärker unter Personal- als unter Munitionsmangel leiden.
Wieso gibt es keine Soldaten mehr?
Fast alle, die sich freiwillig für die Teilnahme an diesem Krieg entschieden haben, sind mittlerweile tot. Die Helden sind massenhaft im ersten Kriegsjahr gestorben. Die Menschen, die aus idealistischen Gründen – also für ein groß-russisches Reich oder für eine unabhängige Ukraine an die Front gezogen sind – gibt es nicht mehr. Der Krieg braucht Menschen wie Feuer das Holz. Die Menschen werden verbrannt.
Wie werden die Soldaten jetzt rekrutiert?
Im zweiten Jahr hatte die russische Administration die superkluge Methode ausgearbeitet, Menschen zu kaufen. Damals gab es tatsächlich mehr als genug Kandidaten, die bereit waren, ihr Leben für dieses große Geld zu riskieren oder besser gesagt, abzugeben. Denn da ihre Verträge automatisch verlängert werden, bis sie sterben, kommt keiner von ihnen lebend zurück. Aber dann gibt es immerhin richtig gutes Geld für die Familie. Dann ist ein Auto, die Ausbildung der Kinder oder sogar ein Haus drin. In den Dörfern der abgelegenen armen Regionen hat das eine Zeit lang gut funktioniert.
Auch in russischen Gefängnissen wurden Kämpfer angeworben.
Die Rekrutierung von Knackis war eine riesige Maschinerie. Russland hatte plötzlich 254.000 Gefangene weniger. Die Knackis sind die einzigen, die eine gute Chance haben, lebend aus dem Krieg zurückzukommen, weil sie meistens nur für sechs Monate kämpfen müssen. Das schlägt sich auch in der Kriminalitätsstatistik nieder. Sie ist um 100 Prozent gestiegen. Der Schwarzmarkt für Waffen floriert. Kein Mensch kommt mit leeren Händen von der Front zurück.
Wird der Krieg auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch entschieden?
Der Krieg kann nur politisch, nicht militärisch entschieden werden.
Wann wird der Krieg enden?
Wann der Krieg zu Ende geht, liegt voll und ganz in den Händen der europäischen Politiker. Die Europäer müssen den russischen Eliten, die heute noch hinter Putin stehen, eine Exit-Strategie anbieten. Aber das tun sie bislang nicht. Die Politiker der EU müssen endlich reifen. Es klingt so, als würde ich diese Menschen mit Gemüse vergleichen, aber eine gewisse Unreife im Umgang mit Russland ist doch tatsächlich nicht zu übersehen. Mittlerweile habe ich allerdings das Gefühl, dass sie endlich begreifen, worum es Putin geht.
Worum geht es Putin?
Es geht ihm sicher nicht um die Eroberung irgendwelcher ukrainischer Dörfer. Davon hat er im eigenen Land schon viel zu viele. Putin geht es um Wertschätzung, die Beziehung zwischen
: Die Europäer müssen den russischen Eliten eine Exit-Strategie anbieten. Wladimir Kaminer
Russland und Europa und um eine neue Weltordnung.
Wie soll Europa auf Putins Wunsch nach einer neuen Weltordnung reagieren?
Es gibt drei Arten, auf aggressives Verhalten zu reagieren. Man kann zurückschlagen, weglaufen oder erstarren. Frösche erstarren in gefährlichen Situationen, aber ich möchte mir Deutschland und Olaf Scholz nicht als einen vor Angst gelähmten Frosch vorstellen.
Ist Angststarre der Grund für Olaf Scholz´ Entscheidung der Ukraine nicht die gewünschten Taurus-Marschflugkörper zu liefern?
Ich kann Scholz´ Gedankengang verstehen. Im Jahr 1914 hat eine Kette von unglücklichen strategischen Entscheidungen dazu geführt, dass alle in einem großen, sinnlosen Krieg landeten. Das wollen wir nicht. Aber weder die Taurus-Marschflugkörper noch irgendwelche anderen Raketen werden den weiteren Verlauf des Krieges wesentlich beeinflussen. Also müssen wir nicht über Raketen, sondern über eine politische Strategie gegenüber Russland sprechen.
Nicht alle europäischen Politiker scheinen vor Angst erstarrt zu sein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat eine Entsendung von Nato-Bodentruppen nicht ausgeschlossen.
Macron betreibt eine Politik der Verunsicherung. Das hat er sich von Putin abgeguckt. Putin hat mehrfach gesagt: Wir wollen auf gar keinen Fall eine Atombombe zünden. Aber wenn wir dazu gezwungen werden, könnten die ersten Ziele Berlin, Paris und London sein. Macron droht nicht mit der Atombombe, aber er will Putin verunsichern und sich alle Varianten offenhalten.
Halten Sie Macrons Strategie für geschickt?
Sie ist auf jeden Fall geschickter als das, was Scholz macht, der mit deutscher Geradlinigkeit und Ehrlichkeit sagt, was er denkt. „Wir werden die Raketen nicht liefern.“Danke. Tschüß. Aufgelegt.
Glauben Sie, dass Putin über die europäische Uneinigkeit lacht?
Ich glaube nicht, dass Putin lacht. Er ist in eine Falle geraten. Putin hat sich etwas zur Lebensaufgabe gemacht, was er nicht bewältigen kann. Für das, was er vorhat, hat er weder die Soldaten noch das Geld. Putin hat den Kürzeren gezogen. Weil er keinen Rückwärtsgang einlegen kann, kommt er aus der Sackgasse, in die er sich manövriert hat, nicht mehr raus. Seine Politik ist daher ein Appell an seine Freunde und seine Feinde gleichermaßen.
Wie lautet Putins Appell?
Putin sagt: Leute, Ihr seht, wo ich stehe. Holt mich hier raus! Egal wie. Ich warte auf Eure Vorschläge. Wenn ihr mir nicht helft, zünde ich die Bombe.
Sie halten es für möglich, dass Putin Atomwaffen einsetzt?
Wir leben in Zeiten, in denen man nichts ausschließen sollte, aber ich halte den Einsatz von Atomwaffen für sehr unwahrscheinlich, denn die Drohung mit der Atombombe ist Putins letzter Trumpf. Wenn beim Einsatz einer Atomwaffe irgendwas schiefgeht – wenn sie nicht zündet, sie keinen militärischen Durchbruch bringt oder sie Putin selbst Schaden zufügt – womit kann er dann noch drohen?
Im August letzten Jahres stürzte das Flugzeug mit Wagner Chef Jewgeni Prigoschin ab, im Februar kam Russlands wichtigster Oppositioneller Alexei Nawalny in einer Strafkolonie in Sibirien unter sogenannten „ungeklärten Umständen“zu Tode.
Da muss ich unterbrechen. Ungeklärt sind die Umstände von Nawalnys Tod nicht. Er hat in unmenschlichen Zellen unter Folterbedingungen in einem Lebensraum, der nicht zum Leben geeignet ist, sehr lange gelitten. Nawalnys Tod war ein qualvoll langsames Umbringen.
Traut sich in Russland noch jemand gegen Putin aufzubegehren, nachdem an Prigoschin und Nawalny Exempel statuiert wurden?
Die Welt hat die Bilder von Nawalnys Begräbnis gesehen. Noch Tage nach der Beisetzung standen Menschen vor dem Friedhof Schlange, um jemandem, der vom System als Terrorist und Extremist abgestempelt wurde, unter hohen persönlichen Gefahren die Ehre zu erweisen. Es gibt also viele Menschen, die bereit sind, für ein liberales und demokratisches Russland etwas zu riskieren. Das gibt mir Hoffnung.
In einer Scheinwahl hat Putin sich vom 15. bis 17. März im Amt bestätigen lassen. Was denken Sie über die Wahl?
Selbst die russischen Medien meiden das Wort „Wahl“, sie nennen das Ereignis stattdessen eine „elektorale Maßnahme“. Viele kleine und mittelgroße Führer in den Regionen stellten ihre Loyalität unter Beweis und lieferten die angepeilten Ergebnisse. Natürlich wurden Ergebnisse gefälscht, aber für Fälschungen braucht man eine Grundlage. Man braucht schon ein paar Menschen, die in die Wahllokale gehen und irgendwas mit den Zetteln machen. Deshalb wurden die Menschen bei der Arbeit dazu gezwungen, zur Wahl zu gehen, dabei interessiert diese elektorale Maßnahme eigentlich kaum jemanden.
Warum?
Sie ist wie ein unangenehme, aber für die eigene Gesundheit erforderliche unangenehme Pflicht, wie der jährliche Besuch beim Urologen zur Prostata-Untersuchung. Für viele Russen ist die Wahl wie eine rektale Maßnahme. Man spricht nicht gerne darüber, aber man soll es machen.