Ausstellung über ukrainische Kunst als politisches Statement
Sehenswerte Schau „Im Auge des Sturms“im Wiener Schloss Belvedere
Kyjiw (Kiew), Lwiw (Lemberg), Charkiw – das sind die Namen von Städten, von denen man seit zwei Jahren fast ununterbrochen in den Nachrichten hört. Der russische Angriffskrieg hat diese ukrainischen Städte immer wieder zu Zielen von Bombardements gemacht. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich genau diese Metropolen zu bedeutenden Kulturzentren, in denen sich einige Jahrzehnte lang moderne Kunstrichtungen ausbreiten konnten. Daran erinnert derzeit eine große Ausstellung im Unteren Belvedere in Wien, einem Teil der barocken Schlossanlage des Prinzen Eugen von Savoyen.
„Selbstverständlich ist diese Ausstellung ein politisches Statement“, betont Stella Rollig, die Belvedere-Museumsdirektorin, mit Hinweis auf die politische Lage und die Anwesenheit österreichischer Regierungsmitglieder bei der Eröffnung. Sie sieht es in dieser Zeit als Aufgabe ihres Museums, das Wissen über das Land Ukraine und dessen Geschichte und Kultur zu vertiefen. Eine solche Schau war schon länger geplant, ihre Realisierung wurde durch den Krieg beschleunigt. Man brachte viele Kunstwerke bald nach Kriegsbeginn ins Ausland, wo sie derzeit sicherer untergebracht sind als in der Ukraine. Nach dem Madrider Museo Thyssen-Bornemisza und dem Museum Ludwig in Köln stellt nun das Belvedere in Wien, aber im bisher größten Umfang, ukrainische Kunst aus den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus.
Kuratiert wurde die Wiener Ausstellung von den aus der Ukraine stammenden Kunsthistorikern Konstantin Akinsha und Katia Denysova gemeinsam mit Maryna Drobotiuk und Olena Kashuba-Volvach vom Nationalen Kunstmuseum der Ukraine in Kyjiw, aus dem die meisten ausgestellten Werke stammen. „In the Eye of the Storm – Modernismen in der Ukraine“lautet der Titel der Schau und auch des sehr informativen Katalogs, den Stella Rollig und die vier Kuratoren herausgegeben haben.
Nation und Identität
Bis ins 19. Jahrhundert wurde die Ukraine, deren Gebiet jahrhundertelang auf mehrere Reiche aufgeteilt war, nicht als eigene Nation angesehen, war aber bereits lange auf dem Weg zu einer eigenen Identität. Die Ausstellung präsentiert vor allem Kunstwerke und dazu Kurzbiografien von Künstlern und Künstlerinnen, die nicht alle aus der Ukraine stammten, aber dort tätig waren und wichtige Impulse setzten. Zugleich informiert die Schau auch ausführlich über alle wichtigen politischen und kulturellen Ereignisse in der Ukraine in der Zeit von 1904 bis 1938, einer wahren Blütezeit der ukrainischen Kunst. Am Beginn steht die offizielle Eröffnung des Kyjiwer Museums für Kunst, Industrie und Wissenschaft, des ersten öffentlich zugänglichen Museums der Stadt, im Jahr 1904.
In Lwiw fand im Januar 1905 die erste Ausstellung ukrainischer Künstler aus dem Russischen Kaiserreich und der ÖsterreichischUngarischen Monarchie statt. Im gleichen Jahr endete aufgrund einer Revolution die absolute Monarchie im Zarenreich: Das Ukrainische wurde 1905 nicht mehr nur als russischer Dialekt bewertet, sondern als eigene Sprache anerkannt. Es kam zur Aufhebung des Verbots von ukrainischsprachigen Publikationen.
Radikale moderne Kunst präsentierte erstmals auf ukrainischem Gebiet im November 1908 die Ausstellung Zveno (Verbindung) in Kyjiw. 1908 wurde nach Plänen von Wassyl Krytschewskyj das Verwaltungsgebäude der Provinz Poltawa vollendet, das als erstes Beispiel der modernen ukrainischen Architektur gilt. Im Februar 1914 präsentierte die Ausstellung Kiltse (Ring) in Kyjiw die junge Generation progressiver lokaler Künstler, wenige Monate später brach der Erste Weltkrieg aus, der die Ukraine zum Schlachtfeld machte und große Veränderungen mit sich brachte.
Die Revolutionen des Jahres 1917 führten im November zur Gründung einer Ukrainischen Volksrepublik mit der Hauptstadt Kyjiw, die sich dann in einem jahrelangen Unabhängigkeitskrieg gegen das bolschewistische Russland zu behaupten versuchte, diesen Kampf aber schließlich 1921 verlor. Zwei Drittel der Ukraine wurden von der Roten Armee der Bolschewiki erobert und der Sowjetunion angegliedert, das westliche Drittel kam an Polen. In den 1920er Jahren förderte die sowjetische Regierung noch die ukrainische Sprache und Kultur, diese Politik wurde aber in den 1930er Jahren total umgedreht. Josef Stalin ließ durch eine künstlich herbeigeführte Hungersnot, „Holodomor“genannt, Millionen Menschen in der Ukraine sterben, der „bürgerliche ukrainische Nationalismus“wurde zum Hauptfeind erklärt. Stalinistische „Säuberungen“unter der intellektuellen Elite der Ukraine nahmen dann in den Jahren 1937 und 1938 dem eigenständigen ukrainischen Kulturleben die Luft zum Atmen und wichtigen Protagonisten sogar das Leben.
Im Zuge dieses Kulturlebens entstand im November 1917 als erste Kunsthochschule der Ukraine in Kyjiw die Ukrainische Kunstakademie. Sie ließ Studierende aller Geschlechter und Nationalitäten sowie jeden Alters zu. Bis dahin mussten angehende ukrainische Künstler zum Studium nach St. Petersburg oder Moskau gehen, mehr und mehr drängten sie aber auch schon in westeuropäische Zentren wie Wien, Krakau, München oder Paris, von wo sie viele Einflüsse und Anregungen mitbrachten. Bedeutung für das ukrainische Kulturleben erlangten im Januar 1918 die Gründung der Kulturliga zur Förderung der zeitgenössischen jüdischen und jiddischen Kultur, die sich Mitte der 1920er Jahre unter dem wachsenden sowjetischen Druck wieder auflöste. Ein bedeutendes Mitglied der Liga, dem die Ausstellung einen eigenen Raum einräumt, war Abram Malewytsch, der 1921 die Sowjetunion verließ und in die USA emigrierte. Er war auch Gründungsprofessor der Kunstakademie und leitete dort das Atelier für Landschaftsmalerei.
Auf der Biennale in Venedig war 1928 und 1930 noch zeitgenössische Kunst aus der Sowjetukraine in einer eigenen Sektion des sowjetischen Pavillons ausgestellt. Mit der Einführung des Sozialistischen Realismus als einziger offizieller Kunstrichtung der Sowjetunion in den Jahren 1932 bis 1934 ging es mit der Freiheit der Kunstschaffenden in diesem Staat zu Ende.
Vielfalt an Stilrichtungen
Die Schau im Belvedere geht umfassend auf die verschiedenen Modernismen in der reichen Vielfalt der ukrainischen Kunst dieser Zeit ein, auf Kulturzentren, Stilrichtungen vom Jugendstil bis zum Konstruktivismus und diverse Kunsteinrichtungen. Die Urheber der ausgestellten Werke, vor denen man staunend steht, waren in Westeuropa außer in Fachkreisen bisher weitgehend unbekannt.
In Lwiw (Lemberg) in der Westukraine, die bis 1918 zur habsburgischen Donaumonarchie gehörte, hatten die Menschen mehr Freiheiten als in den russisch regierten Landesteilen.
Kunstschaffende wie Iwan Trusch, Olena Kultschyzka und Oleksa Nowakiwskyj, die in Wien und Krakau studierten, verbanden – wie viele andere ukrainische Künstler – neueste Kunstströmungen mit lokalen Traditionen.
Zu einer der damals florierenden Kunstströmungen, der Décadence, die sich mit Spiritualität und Ästhetik gegen die Industrialisierung und den Materialismus wandte und dabei häufig fantastische und erotische Motive aufgriff, neigten Iwan Mjassojedow, Wsewolod Maksymowytsch, der mit einem markanten Selbstporträt von 1913 vertreten ist, Kostjantyn Piskorskyj, der seiner Schwester Olena das geometrisch angelegte Werk „Zivilisation, eine Fantasiestadt“(1917) widmete, und Mychajlo Saposchnykow.
Viele Künstler wurden von den Richtungen des Kubismus und des Futurismus beeinflusst, mitunter kombinierten sie auch Elemente unterschiedlicher moderner Stilrichtungen. So findet man in Verbindung Geometrie und Dynamik, einfache Formen und Abstraktes, und all das mit lebhaften Farben, die an ukrainische Volkskunst wie Stickerei und Töpferei erinnern.
Aus der Fülle der bemerkenswerten Gemälde seien nur einige besonders hervorgehoben: Alexandra Exters „Drei weibliche Figuren“(1909-10), die den Werbefolder für die Schau schmücken, Oleksandr Bohomazovs farbenfrohes „Schärfen der Sägen“(1927), Davyd Burliuks „Karussell“(1921), Oleksandr Muraschkos „Terrasse Verkündigung“(1907-08) und das „Tryptichon Leben“von Fedir Krychevskyi (1925-27)
In einem eigenen schmalen Raum wird das Thema Theaterausstattung behandelt, denn die Ukraine erlebte ab dem Ende des Zarenreiches einen wahren Theaterboom. Die in Polen geborene und aus Paris viele Einflüsse mitbringende Alexandra Exter bot in ihrem im März 1918 neu eröffneten Atelier einen Bühnenbildkurs an, den bedeutende Künstler besuchten. Zu ihnen gehörten Anatol Petryzkyj, der 1922 unter anderem Kostüme für das Moskauer Kammerballett entwarf, oder Olexandr Chwostenko-Chwostow, dessen originelle Kostümentwürfe für die Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“leider nicht realisiert wurden. Les Kurbas gründete 1922 in Kyjiw das BeresilTheater, präsentierte ein Programm mit einem modernen europäischen Repertoire und überließ die Ausstattung einigen der progressivsten Künstler des Landes.
Hinrichtungen und Zerstörungen
1926 übersiedelte das Beresil-Theater nach Charkiw, das sich unter dem Sowjetregime zum großen Macht- und Kulturzentrum entwickelte. In Charkiw wurde 1922 die Allukrainische Foto- und Kinoverwaltung gegründet, dort errichtete man 1928 als ersten Wolkenkratzer der Sowjetunion das konstruktivistische Derschprom-Gebäude.
Nach ideologischen Vorgaben des Sowjetregimes wurde Mitte der 1920er-Jahre diie Ukrainische Kunstakademie zum Kyjiwer Kunstinstitut, das zu den führenden Kunsthochschulen der UdSSR zählte. Neue Lehrkräfte aus der ganzen Sowjetunion, darunter der in der Ukraine geborene, international wohl bekannteste Künstler dieser Epoche Kasymyr Malewytsch und Wladimir Tatlin, bildeten die letzte Generation progressiver ukrainischer Künstler heran, ehe die Staatsmacht einer im Sinn des Klassenkampfes propagandistischen Kunst den Vorzug gab und für Experimente und freie Kreativität kein Verständnis mehr hatte.
Um Mychajlo Bojtschuk, entstand in der frühen Sowjetunion eine Schule der Monumentalkunst. Er studierte in Wien, Krakau, München und Paris und leitete ab 1917 eine Wandmalerei- und Mosaikklasse an der Kunstakademie in Kyjiw. Der für seine Gruppe typische Stil kombinierte Elemente von byzantinischer Kunst und von italienischen Fresken der Frührenaissance mit ukrainischen Volkstraditionen. Die „Bojtschukisten“übernahmen zahlreiche Staatsaufträge für öffentliche Räume und Gebäude, wurden aber dann mit anderen Künstlern als „bürgerliche Nationalisten“diffamiert und verfolgt.
Die stalinistischen „Säuberungen“der 1930er Jahre wirken sich verheerend für das ukrainische Kulturleben und dessen Repräsentanten aus. Zahlreiche Intellektuelle und Künstler, darunter Mychajlo Bojtschuk, Les Kurbas und Mychajl Semenko, den Anatol Petryzkyj 1929 porträtierte, wurden hingerichtet, andere verschwanden in den sowjetischen Arbeitslagern, dem sogenannten Gulag. Bücher, Manuskripte und Kunstwerke wurden verbrannt, Wandgemälde übermalt oder von den Mauern gekratzt, nicht zerstörte Gemälde kamen in geheime Sonderdepots. Ähnlich ging das Regime in der Westukraine vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die UdSSR fiel.
Als man in den 1970er Jahren die revolutionäre Kunst der frühen Sowjetzeit entdeckte, kam fälschlich der Begriff „russische Avantgarde“für jene Künstler auf, deren Wirken eindeutig der ukrainischen Kultur zuzuordnen ist. Die eindrucksvolle Ausstellung in Wien korrigiert dieses Missverständnis der Kunstgeschichte.
Josef Stalin ließ durch eine künstlich herbeigeführte Hungersnot, „Holodomor“genannt, Millionen Menschen in der Ukraine sterben, der „bürgerliche ukrainische Nationalismus“wurde zum Hauptfeind erklärt.
In the Eye of the Storm – Modernismen in der Ukraine, Unteres Belvedere, Rennweg 6, 1030 Wien.
Bis 2. Juni 2024.