Luxemburger Wort

Wie geht es weiter nach dem Schlaganfa­ll? – Karriere mit Beeinträch­tigung

Jeder sechste Mensch muss zumindest zeitweilig mit einer Behinderun­g leben. Die Integratio­n behinderte­r Mitarbeite­r stellt für Betriebe eine Herausford­erung dar

- Von Thomas Klein

Sandy Beideler hat es im Baumarkt Hornbach in relativ kurzer Zeit weit gebracht. Zeitweise war sie für die Personalve­rwaltung und die Kassen verantwort­lich und hatte über 40 Mitarbeite­r unter sich. Dann, vor etwa zehn Jahren, kam die Schockdiag­nose: Nachdem sie immer wieder gesundheit­liche Probleme gehabt hatte, stellte ein Spezialist in Belgien fest, dass sie am Ehlers-Danlos-Syndrom litt.

Die seltene, angeborene Störung des Bindegeweb­es verursacht bei Sandy Beideler häufig Schmerzen, Schwindela­nfälle, Verdauungs­probleme und Migräne. „Alles, was außer der Reihe ist, bereitet mir Probleme. Ich brauche einen ganz strengen Rhythmus, um über den Tag zu kommen“, erklärt sie. Durch den erhöhten Stress in der Coronapand­emie entschloss sie sich, beim Arbeitsarz­t ein „Reclasseme­nt“zu beantragen und die Arbeitszei­t zu reduzieren.

„Obwohl ich ein gutes Verhältnis zu meinem Arbeitgebe­r hatte und ihm vorher auch meine Probleme bekannt waren, hatte ich furchtbar Angst um meinen Job. Mein damaliger Chef sagte mir aber: Du hast tolle Arbeit geleistet, warum sollten wir dich nicht behalten?“sagt sie. Zunächst reduzierte sie auf 32 Stunden, nach der zweiten Reklassier­ung auf 20 Stunden.

„Es ging dann irgendwann nicht mehr mit den vielen Aufgaben. Zunächst gab ich die Verantwort­ung über die Kasse ab und zuletzt die Personalve­rwaltung. Jetzt habe ich noch acht Mitarbeite­r im Empfang unter mir. Ich hoffe, dass ich das jetzt gut schaffe“, sagt sie. Inzwischen habe sich eine gewisse Routine im Umgang mit ihrer Einschränk­ung eingestell­t, sagt sie. „Es gibt Tage, da bin ich bettlägeri­g. Da habe ich auch keine Angst, meinen Chef anzurufen und zu sagen, es geht heute nicht.“

Beeinträch­tigung betrifft jeden sechsten

Bei einem von sechs Menschen wird im Laufe seines Lebens eine Behinderun­g festgestel­lt. Dabei ist nur der kleinere Teil von

Geburt an als behindert eingestuft, bei vielen tritt eine gesundheit­liche Einschränk­ung erst später, beispielsw­eise als Folge einer bis dahin nicht festgestel­lten genetische­n Erkrankung, eines Schlaganfa­lles oder eines Unfalls, auf. Laut einer Anfang des Monats erschienen­en Statistik leben in Luxemburg rund 94.000 Menschen mit einer Beeinträch­tigung.

Je nach Schwere der Behinderun­g stellt sich für Arbeitnehm­er die Frage, wie es beruflich weitergeht, und für Arbeitgebe­r, wie sie ihrem Mitarbeite­r helfen können, trotz der Einschränk­ung seiner Tätigkeit weiterhin nachzugehe­n. „Oft ist man ja dann im Spital oder über einen längeren Zeitraum krankgesch­rieben. Dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo man wieder arbeiten kann und sich die Frage stellt: Wie soll das gehen? Dann muss man sehen, wie stark die Einschränk­ung ist und ob ich bestimmten Tätigkeite­n nicht mehr nachgehen kann“, erklärt Andrea Di Ronco von Info-Handicap.

Einer der ersten Schritte ist dabei der Gang zum Arbeitsmed­iziner. „Der muss ohnehin feststelle­n, ob das, was man im Job macht und die gesundheit­liche Situation kompatibel sind, oder ob es Einschränk­ungen gibt. Das zu beurteilen, ist nicht die Sache des Arbeitgebe­rs“, sagt Di Ronco. Wenn die Einschränk­ungen erfordern, dass der Arbeitspla­tz oder die Arbeitswei­se des Mitarbeite­rs deutlich verändert werden muss, ist die Prozedur des „Reclasseme­nt“vorgesehen.

Dann befasst sich eine Kommission, die sich aus Vertretern der Versicheru­ngen, der Arbeitgebe­r, Contrôle médical de la Sécurité sociale, der Arbeitsage­ntur, des Arbeitsmin­isteriums und der Gesundheit­sbehörde zusammense­tzt, mit dem Fall. „Die schauen sich dann die genaue Situation des Arbeitnehm­ers und seine Aufgaben im Betrieb an“, sagt Di Ronco. „Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, bei welchen Unternehme­n die Person angestellt ist. Eine Bank mit 500 Angestellt­en und eigener Personalab­teilung hat ganz andere Möglichkei­ten als ein Bäckereibe­trieb mit drei Mitarbeite­rn.“

Auf dieser Grundlage wird dann entschiede­n, ob der Arbeitnehm­er angesichts seines Handicaps seine Arbeit wieder aufnehmen kann und wie der Arbeitspla­tz angepasst werden muss. „Da wird dann auch geschaut, ob die Arbeitszei­t reduziert werden sollte oder der Arbeitnehm­er nur noch bestimmte Aufgaben übernimmt“, erklärt Di Ronco. „Dann muss aber auch der Arbeitgebe­r schauen, ob jemand anders diese Arbeiten übernehmen kann oder ob er dafür zusätzlich­es Personal einstellen muss.“

Auch wenn man die gesetzlich­e Quote nicht erfüllt, geschieht nichts. Andrea Di Ronco, Info-Handicap

Gezielte Inklusion

Sandy Beideler ist nicht die einzige Person mit einer Beeinträch­tigung, die bei Hornbach in Luxemburg arbeitet. Brian S. ist seit etwas über einem Jahr im Betrieb und nach eigener Einschätzu­ng etwas langsamer als andere Leute. „Ich brauche länger, bis ich etwas verstehe und Arbeiten alleine erledigen kann“, erklärt er. Zuvor hatte er auf dem Jahrmarkt bei einem Riesenrad und bei einer Gemeinde gearbeitet. Seine Aufgabe im Betrieb ist es, Waren an die richtigen Stellen im Regal zu sortieren. Am Anfang habe er Schwierigk­eiten gehabt, sich bestimmte Sachen zu merken, zum Beispiel die Anmeldecod­es für die IT-Systeme. Aber noch einiger Zeit, habe der Betrieb ihm Merkhilfen zur Verfügung gestellt und seither kann er seiner Arbeit zunehmend selbststän­dig nachkommen.

Seit einigen Jahren treibt Hornbach gezielt und systematis­ch die Inklusion von Menschen mit Handicap voran, erklärt Sam Houblie, der Personalch­ef des Unternehme­ns. Unter den aktuell etwa 188 Mitarbeite­rn seien 14 Menschen, die entweder reklassier­t sind oder eine Behinderun­g haben. Das entspricht etwa acht Prozent der 167 Vollzeitst­ellen. Das betreffe Mitarbeite­r, die man seither neu eingestell­t hat, aber auch solche, die im Laufe ihres Lebens durch eine Krankheit oder einen Unfall in ihrer Arbeitsfäh­igkeit eingeschrä­nkt wurden.

Offener Umgang bei der Einschränk­ung

Ein wichtiger Punkt im Umgang mit Einschränk­ungen sei eine offene Kommunikat­ion, sagt Houblie. „Die meisten tun sich schwer damit, das offen im Team zu kommunizie­ren. Ich respektier­e jeden, der das nicht sagen will. Aber natürlich macht es das manchmal ein bisschen komplizier­t, wenn man nicht weiß, was die Einschränk­ungen sind und wie viel man der Person zumuten kann“, sagt er. Auch für Beideler ist ein offener Umgang mit dem Handicap wichtig. „Die Krankheit hindert mich nun mal daran, bestimmte Sachen so weiterzuma­chen wie bisher. Mein Gegenüber kann das nur verstehen und darauf eingehen, wenn ich ihm das erkläre“, sagt sie.

Schon im Vorstellun­gsgespräch versuche er den Bewerbern zu vermitteln, dass es nicht zu ihrem Nachteil ist, wenn sie offen über ihre Einschränk­ungen reden, sagt Houblie. „Wir müssen verstehen, ob sie zum Beispiel nur vier Stunden am Tag stehen können oder ob sie mit Menschen arbeiten können“, so der Personalch­ef des Baumarktes. „Dann können wir schauen, ob wir eine freie Position haben, die zu der Person passt.“

Als Houblie begann, Integratio­n als wichtiges Projekt bei dem Baumarkt voranzutre­iben, informiert­e er die Adem, dass sie auch Leute mit Handicap einstellen. „Das war notwendig, weil bei manchen Beratern herrscht vielleicht auch Skepsis, ob überhaupt Menschen mit ihrer Einschränk­ung in einem Baumarkt arbeiten können“, sagt er. Dann würde häufig in mehrwöchig­en, von der Adem vermittelt­en, Praktika geschaut, ob der Bewerber mit der Arbeit zurechtkom­mt. „Wir sind immer noch ein Wirtschaft­sunternehm­en, wir müssen also schauen, ob das überhaupt funktionie­rt und ob wir den Arbeitspla­tz gegebenenf­alls an die Bedürfniss­e des Arbeitnehm­ers anpassen müssen“, unterstrei­cht Houblie.

Grenzen der Integratio­n

„Es wird immer geschaut, was ist möglich und dabei gibt es Grenzen. Die technische­n Anpassunge­n sind immer das einfachste. Schwierige­r sind die organisato­rischen Anforderun­gen. In einer Bäckerei kann man beispielsw­eise nur schwierig Homeoffice anbieten, in einer Bank aber schon“, sagt Andrea Di Ronco. „Wenn man

sich damit auseinande­rsetzt, jemanden mit einer Einschränk­ung einzustell­en, kostet das natürlich viel Zeit und Energie, wenn man sich überlegen muss, wie man ihn in den Betrieb integriert. Das hat man nicht bei jemandem, der nichts hat. Daher machen sich viele gar nicht erst die Mühe.“

Da fehlen Di Ronco heute in Luxemburg die notwendige­n Anreize, daher müsse eine wirkliche gesetzlich­e Verpflicht­ung her, fordert er. Derzeit gibt es zwar in Luxemburg ein Gesetz, das von Unternehme­n verlangt, dass, je nach Größe des Betriebs, zwei bis vier Prozent Stellen im Betrieb mit Personen mit Einschränk­ungen besetzt werden müssen. „Das Gesetz ist aber so ausgearbei­tet, dass nichts geschieht, wenn man die Quote nicht erfüllt. Sanktionie­rt wird das nur, wenn ein Unternehme­n ausdrückli­ch sagt, dass es niemanden mit Behinderun­g einstellt“, sagt Di Ronco.

In Luxemburg haben Arbeitnehm­er mit einer Behinderun­g Anspruch auf sechs zusätzlich­e Urlaubstag­e, deren Kosten der Staat trägt. Darüber hinaus besteht An

spruch auf finanziell­e Unterstütz­ung zur Kompensati­on für Arbeitgebe­r. Diese Unterstütz­ung wird auf Grundlage eines Melba-Tests durch die ADEM ermittelt und kann zwischen 30 und 100 Prozent des Gehalts für Personen mit einem Status „Handikap“betragen. Auch reklassier­te Personen können finanziell­e Beihilfen beantragen, wobei die Unterstütz­ung in diesen Fällen zwischen 0 und 75 Prozent des Gehalts variiert. Ferner bietet Luxemburg die Möglichkei­t, einen „Assistente­n zur Inklusion am Arbeitspla­tz“zu engagieren, der bis zu zwölf Monate lang die Einglieder­ung von Menschen mit Behinderun­g am neuen Arbeitspla­tz unterstütz­t.

Angewiesen auf den zweiten Arbeitsmar­kt

Ulrich, der seinen vollständi­gen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, ist hingegen skeptisch, dass die Integratio­n von Menschen mit Einschränk­ungen in den regulären Arbeitsmar­kt gelingen kann. Vor einigen Jahren wurde bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiz­iert. Ihm fällt es schwer, soziale Situatione­n und Gefühlsäuß­erungen bei anderen Menschen zu deuten. „Was hat wer in welchem Tonfall gesagt? In welcher Stimmung war er? Bei mir dauert das manchmal eine halbe Stunde, bis ich das verarbeite­t habe. Das macht es sehr schwierig, mit anderen zusammenzu­arbeiten, weil Kommunikat­ion im Arbeitsleb­en so wichtig ist“, sagt er.

Der gelernte Heizungsba­uer hat im Laufe seiner Karriere häufig den Job gewechselt, verschiede­ne Ausbildung­en gemacht, er kann einen Meisterbri­ef als Landschaft­sgärtner aufweisen. „Ich habe zeitweise in einem Restaurant bedient, bei Bofrost und, nachdem ich arbeitslos geworden war, in einer Behinderte­nwerkstatt gearbeitet. Teilweise hatte ich aber auch als Führungskr­aft mehrere Mitarbeite­r unter mir“, sagt er.

Fachlich habe er nie Probleme gehabt, aber sei er durch seine Einschränk­ung häufig angeeckt. „Einmal bin ich zum Beispiel zum Präsidente­n der Betriebsde­legation gewählt worden. Ich wurde aufgeforde­rt, aufzuschre­iben, was nicht so gut läuft. Das habe ich als Autist natürlich sehr gründlich gemacht und alles Mögliche in einem langen Manifest zu Papier gebracht – von der Budgetvert­eilung bis zu der Tatsache, dass sie Leute rausgeworf­en haben“, erinnert er sich mit einem Lächeln. Letztlich habe er sich daraufhin einen anderen Job suchen müssen, sagt er.

Heute kümmert er sich bei der Caritas um die Außenanlag­en. Das Arrangemen­t sei ideal für ihn, sagt er. „Ich bin bei der Arbeit normalerwe­ise immer auf mein Gegenüber angewiesen, damit es funktionie­rt. Im Prinzip muss sich jeder Arbeitgebe­r zu fast 100 Prozent auf mich einstellen“, erklärt er. Das könne man aber von einem „normalen“gewinnorie­ntierten Unternehme­n kaum verlangen, Integratio­n sei daher seiner Einschätzu­ng nach immer auf den sogenannte­n zweiten Arbeitsmar­kt angewiesen, in dem der Staat mit Fördermitt­eln entspreche­nde Beschäftig­ungsanreiz­e setzt.

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Foto: Jens Kalaene/dpa-Zentralbil­d/dpa In Luxemburg leben rund 94.000 Menschen mit einer Beeinträch­tigung. Anpassunge­n an der Infrastruk­tur sind für Arbeitgebe­r häufig das geringere Problem. Komplizier­ter sind häufiger die organisato­rischen Abläufe.
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Fotos: Marc Wilwert Bei Hornbach in Luxemburg wird seit einigen Jahren gezielt die Inklusion von Menschen mit Einschränk­ungen vorangetri­eben.
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 ?? ?? Für Sam Houblie, den Personalch­ef von Hornbach, ist eine gewisse Offenheit im Umgang mit der Beeinträch­tigung wichtig.
Für Sam Houblie, den Personalch­ef von Hornbach, ist eine gewisse Offenheit im Umgang mit der Beeinträch­tigung wichtig.
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Sandy Beideler musste aufgrund ihrer Krankheit ihre Arbeitszei­t reduzieren.

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