Wie geht es weiter nach dem Schlaganfall? – Karriere mit Beeinträchtigung
Jeder sechste Mensch muss zumindest zeitweilig mit einer Behinderung leben. Die Integration behinderter Mitarbeiter stellt für Betriebe eine Herausforderung dar
Sandy Beideler hat es im Baumarkt Hornbach in relativ kurzer Zeit weit gebracht. Zeitweise war sie für die Personalverwaltung und die Kassen verantwortlich und hatte über 40 Mitarbeiter unter sich. Dann, vor etwa zehn Jahren, kam die Schockdiagnose: Nachdem sie immer wieder gesundheitliche Probleme gehabt hatte, stellte ein Spezialist in Belgien fest, dass sie am Ehlers-Danlos-Syndrom litt.
Die seltene, angeborene Störung des Bindegewebes verursacht bei Sandy Beideler häufig Schmerzen, Schwindelanfälle, Verdauungsprobleme und Migräne. „Alles, was außer der Reihe ist, bereitet mir Probleme. Ich brauche einen ganz strengen Rhythmus, um über den Tag zu kommen“, erklärt sie. Durch den erhöhten Stress in der Coronapandemie entschloss sie sich, beim Arbeitsarzt ein „Reclassement“zu beantragen und die Arbeitszeit zu reduzieren.
„Obwohl ich ein gutes Verhältnis zu meinem Arbeitgeber hatte und ihm vorher auch meine Probleme bekannt waren, hatte ich furchtbar Angst um meinen Job. Mein damaliger Chef sagte mir aber: Du hast tolle Arbeit geleistet, warum sollten wir dich nicht behalten?“sagt sie. Zunächst reduzierte sie auf 32 Stunden, nach der zweiten Reklassierung auf 20 Stunden.
„Es ging dann irgendwann nicht mehr mit den vielen Aufgaben. Zunächst gab ich die Verantwortung über die Kasse ab und zuletzt die Personalverwaltung. Jetzt habe ich noch acht Mitarbeiter im Empfang unter mir. Ich hoffe, dass ich das jetzt gut schaffe“, sagt sie. Inzwischen habe sich eine gewisse Routine im Umgang mit ihrer Einschränkung eingestellt, sagt sie. „Es gibt Tage, da bin ich bettlägerig. Da habe ich auch keine Angst, meinen Chef anzurufen und zu sagen, es geht heute nicht.“
Beeinträchtigung betrifft jeden sechsten
Bei einem von sechs Menschen wird im Laufe seines Lebens eine Behinderung festgestellt. Dabei ist nur der kleinere Teil von
Geburt an als behindert eingestuft, bei vielen tritt eine gesundheitliche Einschränkung erst später, beispielsweise als Folge einer bis dahin nicht festgestellten genetischen Erkrankung, eines Schlaganfalles oder eines Unfalls, auf. Laut einer Anfang des Monats erschienenen Statistik leben in Luxemburg rund 94.000 Menschen mit einer Beeinträchtigung.
Je nach Schwere der Behinderung stellt sich für Arbeitnehmer die Frage, wie es beruflich weitergeht, und für Arbeitgeber, wie sie ihrem Mitarbeiter helfen können, trotz der Einschränkung seiner Tätigkeit weiterhin nachzugehen. „Oft ist man ja dann im Spital oder über einen längeren Zeitraum krankgeschrieben. Dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo man wieder arbeiten kann und sich die Frage stellt: Wie soll das gehen? Dann muss man sehen, wie stark die Einschränkung ist und ob ich bestimmten Tätigkeiten nicht mehr nachgehen kann“, erklärt Andrea Di Ronco von Info-Handicap.
Einer der ersten Schritte ist dabei der Gang zum Arbeitsmediziner. „Der muss ohnehin feststellen, ob das, was man im Job macht und die gesundheitliche Situation kompatibel sind, oder ob es Einschränkungen gibt. Das zu beurteilen, ist nicht die Sache des Arbeitgebers“, sagt Di Ronco. Wenn die Einschränkungen erfordern, dass der Arbeitsplatz oder die Arbeitsweise des Mitarbeiters deutlich verändert werden muss, ist die Prozedur des „Reclassement“vorgesehen.
Dann befasst sich eine Kommission, die sich aus Vertretern der Versicherungen, der Arbeitgeber, Contrôle médical de la Sécurité sociale, der Arbeitsagentur, des Arbeitsministeriums und der Gesundheitsbehörde zusammensetzt, mit dem Fall. „Die schauen sich dann die genaue Situation des Arbeitnehmers und seine Aufgaben im Betrieb an“, sagt Di Ronco. „Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, bei welchen Unternehmen die Person angestellt ist. Eine Bank mit 500 Angestellten und eigener Personalabteilung hat ganz andere Möglichkeiten als ein Bäckereibetrieb mit drei Mitarbeitern.“
Auf dieser Grundlage wird dann entschieden, ob der Arbeitnehmer angesichts seines Handicaps seine Arbeit wieder aufnehmen kann und wie der Arbeitsplatz angepasst werden muss. „Da wird dann auch geschaut, ob die Arbeitszeit reduziert werden sollte oder der Arbeitnehmer nur noch bestimmte Aufgaben übernimmt“, erklärt Di Ronco. „Dann muss aber auch der Arbeitgeber schauen, ob jemand anders diese Arbeiten übernehmen kann oder ob er dafür zusätzliches Personal einstellen muss.“
Auch wenn man die gesetzliche Quote nicht erfüllt, geschieht nichts. Andrea Di Ronco, Info-Handicap
Gezielte Inklusion
Sandy Beideler ist nicht die einzige Person mit einer Beeinträchtigung, die bei Hornbach in Luxemburg arbeitet. Brian S. ist seit etwas über einem Jahr im Betrieb und nach eigener Einschätzung etwas langsamer als andere Leute. „Ich brauche länger, bis ich etwas verstehe und Arbeiten alleine erledigen kann“, erklärt er. Zuvor hatte er auf dem Jahrmarkt bei einem Riesenrad und bei einer Gemeinde gearbeitet. Seine Aufgabe im Betrieb ist es, Waren an die richtigen Stellen im Regal zu sortieren. Am Anfang habe er Schwierigkeiten gehabt, sich bestimmte Sachen zu merken, zum Beispiel die Anmeldecodes für die IT-Systeme. Aber noch einiger Zeit, habe der Betrieb ihm Merkhilfen zur Verfügung gestellt und seither kann er seiner Arbeit zunehmend selbstständig nachkommen.
Seit einigen Jahren treibt Hornbach gezielt und systematisch die Inklusion von Menschen mit Handicap voran, erklärt Sam Houblie, der Personalchef des Unternehmens. Unter den aktuell etwa 188 Mitarbeitern seien 14 Menschen, die entweder reklassiert sind oder eine Behinderung haben. Das entspricht etwa acht Prozent der 167 Vollzeitstellen. Das betreffe Mitarbeiter, die man seither neu eingestellt hat, aber auch solche, die im Laufe ihres Lebens durch eine Krankheit oder einen Unfall in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt wurden.
Offener Umgang bei der Einschränkung
Ein wichtiger Punkt im Umgang mit Einschränkungen sei eine offene Kommunikation, sagt Houblie. „Die meisten tun sich schwer damit, das offen im Team zu kommunizieren. Ich respektiere jeden, der das nicht sagen will. Aber natürlich macht es das manchmal ein bisschen kompliziert, wenn man nicht weiß, was die Einschränkungen sind und wie viel man der Person zumuten kann“, sagt er. Auch für Beideler ist ein offener Umgang mit dem Handicap wichtig. „Die Krankheit hindert mich nun mal daran, bestimmte Sachen so weiterzumachen wie bisher. Mein Gegenüber kann das nur verstehen und darauf eingehen, wenn ich ihm das erkläre“, sagt sie.
Schon im Vorstellungsgespräch versuche er den Bewerbern zu vermitteln, dass es nicht zu ihrem Nachteil ist, wenn sie offen über ihre Einschränkungen reden, sagt Houblie. „Wir müssen verstehen, ob sie zum Beispiel nur vier Stunden am Tag stehen können oder ob sie mit Menschen arbeiten können“, so der Personalchef des Baumarktes. „Dann können wir schauen, ob wir eine freie Position haben, die zu der Person passt.“
Als Houblie begann, Integration als wichtiges Projekt bei dem Baumarkt voranzutreiben, informierte er die Adem, dass sie auch Leute mit Handicap einstellen. „Das war notwendig, weil bei manchen Beratern herrscht vielleicht auch Skepsis, ob überhaupt Menschen mit ihrer Einschränkung in einem Baumarkt arbeiten können“, sagt er. Dann würde häufig in mehrwöchigen, von der Adem vermittelten, Praktika geschaut, ob der Bewerber mit der Arbeit zurechtkommt. „Wir sind immer noch ein Wirtschaftsunternehmen, wir müssen also schauen, ob das überhaupt funktioniert und ob wir den Arbeitsplatz gegebenenfalls an die Bedürfnisse des Arbeitnehmers anpassen müssen“, unterstreicht Houblie.
Grenzen der Integration
„Es wird immer geschaut, was ist möglich und dabei gibt es Grenzen. Die technischen Anpassungen sind immer das einfachste. Schwieriger sind die organisatorischen Anforderungen. In einer Bäckerei kann man beispielsweise nur schwierig Homeoffice anbieten, in einer Bank aber schon“, sagt Andrea Di Ronco. „Wenn man
sich damit auseinandersetzt, jemanden mit einer Einschränkung einzustellen, kostet das natürlich viel Zeit und Energie, wenn man sich überlegen muss, wie man ihn in den Betrieb integriert. Das hat man nicht bei jemandem, der nichts hat. Daher machen sich viele gar nicht erst die Mühe.“
Da fehlen Di Ronco heute in Luxemburg die notwendigen Anreize, daher müsse eine wirkliche gesetzliche Verpflichtung her, fordert er. Derzeit gibt es zwar in Luxemburg ein Gesetz, das von Unternehmen verlangt, dass, je nach Größe des Betriebs, zwei bis vier Prozent Stellen im Betrieb mit Personen mit Einschränkungen besetzt werden müssen. „Das Gesetz ist aber so ausgearbeitet, dass nichts geschieht, wenn man die Quote nicht erfüllt. Sanktioniert wird das nur, wenn ein Unternehmen ausdrücklich sagt, dass es niemanden mit Behinderung einstellt“, sagt Di Ronco.
In Luxemburg haben Arbeitnehmer mit einer Behinderung Anspruch auf sechs zusätzliche Urlaubstage, deren Kosten der Staat trägt. Darüber hinaus besteht An
spruch auf finanzielle Unterstützung zur Kompensation für Arbeitgeber. Diese Unterstützung wird auf Grundlage eines Melba-Tests durch die ADEM ermittelt und kann zwischen 30 und 100 Prozent des Gehalts für Personen mit einem Status „Handikap“betragen. Auch reklassierte Personen können finanzielle Beihilfen beantragen, wobei die Unterstützung in diesen Fällen zwischen 0 und 75 Prozent des Gehalts variiert. Ferner bietet Luxemburg die Möglichkeit, einen „Assistenten zur Inklusion am Arbeitsplatz“zu engagieren, der bis zu zwölf Monate lang die Eingliederung von Menschen mit Behinderung am neuen Arbeitsplatz unterstützt.
Angewiesen auf den zweiten Arbeitsmarkt
Ulrich, der seinen vollständigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, ist hingegen skeptisch, dass die Integration von Menschen mit Einschränkungen in den regulären Arbeitsmarkt gelingen kann. Vor einigen Jahren wurde bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Ihm fällt es schwer, soziale Situationen und Gefühlsäußerungen bei anderen Menschen zu deuten. „Was hat wer in welchem Tonfall gesagt? In welcher Stimmung war er? Bei mir dauert das manchmal eine halbe Stunde, bis ich das verarbeitet habe. Das macht es sehr schwierig, mit anderen zusammenzuarbeiten, weil Kommunikation im Arbeitsleben so wichtig ist“, sagt er.
Der gelernte Heizungsbauer hat im Laufe seiner Karriere häufig den Job gewechselt, verschiedene Ausbildungen gemacht, er kann einen Meisterbrief als Landschaftsgärtner aufweisen. „Ich habe zeitweise in einem Restaurant bedient, bei Bofrost und, nachdem ich arbeitslos geworden war, in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Teilweise hatte ich aber auch als Führungskraft mehrere Mitarbeiter unter mir“, sagt er.
Fachlich habe er nie Probleme gehabt, aber sei er durch seine Einschränkung häufig angeeckt. „Einmal bin ich zum Beispiel zum Präsidenten der Betriebsdelegation gewählt worden. Ich wurde aufgefordert, aufzuschreiben, was nicht so gut läuft. Das habe ich als Autist natürlich sehr gründlich gemacht und alles Mögliche in einem langen Manifest zu Papier gebracht – von der Budgetverteilung bis zu der Tatsache, dass sie Leute rausgeworfen haben“, erinnert er sich mit einem Lächeln. Letztlich habe er sich daraufhin einen anderen Job suchen müssen, sagt er.
Heute kümmert er sich bei der Caritas um die Außenanlagen. Das Arrangement sei ideal für ihn, sagt er. „Ich bin bei der Arbeit normalerweise immer auf mein Gegenüber angewiesen, damit es funktioniert. Im Prinzip muss sich jeder Arbeitgeber zu fast 100 Prozent auf mich einstellen“, erklärt er. Das könne man aber von einem „normalen“gewinnorientierten Unternehmen kaum verlangen, Integration sei daher seiner Einschätzung nach immer auf den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt angewiesen, in dem der Staat mit Fördermitteln entsprechende Beschäftigungsanreize setzt.