Luxemburger Wort

Wo Russen Ziele in ihrem Heimatland angreifen

Russische Freiwillig­enverbände der ukrainisch­en Armee machen die Region Belgorod unsicher

- Von Stefan Scholl

Inzwischen sind auch die Exiltschet­schenen da. Der Telegramka­nal des russischen Opposition­sportals „The Insider“zeigte am Mittwoch ein Video, darauf posiert ein schwer bewaffnete Kämpfer mit dem Wappen der tschetsche­nischen „Itschkeria“-Rebellen vor Aktenschrä­nken mit Zierpflanz­en im Dorfsowjet des 500-Seelenorte­s Gorkowskij in der russischen Grenzregio­n Belgorod. „Dieses Gebiet erklären wir zur tschetsche­nischen Republik Itschkeria!“, ruft er grinsend.

Immer wieder erschienen in den vergangene­n Wochen Stoßtrupps der unter ukrainisch­em Kommando kämpfenden russischen Freiwillig­enverbände auf der russischen Seite der Grenze. Mitglieder des „Russischen Freiwillig­enkorps“(russisch kurz RFK), der „Legion Freies Russlands“, des „Sibirische­n Bataillons“und jetzt auch der „Streitkräf­te der Tschetsche­nischen Republik Itschkeria“.

Die Krieger nahmen Selfies auf, demonstrie­rten Gefangene und kündigten einen „Marsch auf Moskau“an. Und vor den russischen Präsidents­chaftswahl­en häuften sich ukrainisch­e Raketenund Drohnenatt­acken vor allem auf die Gebietshau­ptstadt Belgorod. Die Region ist in den letzten Wochen zum Brennpunkt des russisch-ukrainisch­en Konfliktes geworden.

Am Dienstag starb laut Gouverneur Wjatschesl­aw Gladkow im Grenzbezir­k Grajwaron ein Autofahrer beim Angriff einer Kampfdrohn­e. Allein in der vergangene­n Woche kamen 16 Zivilisten um, 98 wurden verletzt. In der Stadt Belgorod und den Grenzbezir­ken schloss man Schulen und Kindergärt­en, 9.000

Kinder sollen ins Hinterland evakuiert werden. Sechs grenznahe Ortschafte­n wurden für den Verkehr gesperrt.

Die Freiwillig­enverbände haben neue Vorstöße über die Grenze Richtung Belgorod angekündig­t, melden über 600 feindliche Gefallene, 800 Verwundete und 25 russische Gefangene, verhörten aber vor der Videokamer­a nur einen von ihnen. Kremlsprec­her Dmitrij Peskow dagegen verkündete, man habe alle Angriffe abgeschlag­en und von 2.500 Angreifern 550 getötet, 1.150 schwer verletzt. Und Wladimir Putin verglich die feindliche­n Freiwillig­en mit den russischen Wlassow-Soldaten, die in der Wehrmacht gegen die Rote Armee gekämpft hatten. Auch jetzt werde es keine Gnade geben. „Wir werden sie bestrafen, ohne Verfallsda­tum, wo auch immer sie sich befinden.“

Militärexp­erten halten die Erfolgsmel­dungen beider Seiten für stark übertriebe­n. Und wenn der ukrainisch­e Kriegsblog­ger Alexander Kowalenko auf Telegram schon über das Entstehen einer neuen „grauen Zone“im russischen Grenzgebie­t spekuliert, klingt das nach Propaganda. Kowalenkos Kollege Konstantin Maschowez bezeichnet die Freiwillig­en sogar als „die Clowns“Kirill Budanows, des Chefs des ukrainisch­en Militärgeh­eimdienste­s. Budanow selbst aber sprach von einem „beschränkt­en Erfolg“. Und die Freiwillig­en hätten nicht vor, in nächster Zeit aufzuhören.

Zweifel am militärisc­hen Sinn der Attacken

Ruslan Lewijew, Leiter der emigrierte­n Factfindin­g-Gruppe Conflict Intelligen­ce Service, äußerte gegenüber dem Kanal TV Doschd starke Zweifel an dem militärisc­hen Sinn der Attacken: „Bisher waren die Operatione­n der Freiwillig­en, die ich gesehen haben, sehr medial, sie sollen Schlagzeil­en produziere­n, statt wirklich den Kriegsverl­auf zu beeinfluss­en.“Lewijew bezeichnet auch die ukrainisch­en Luftangrif­fe auf Belgorod und andere Ortschafte­n in der Region als Rache. Er bestätigte die Berichte von Einwohnern, dass Raketen mit Streumunit­ion eingeschla­gen hätten, laut Lewijew auch in Wohngebiet­en, was ein Kriegsverb­rechen darstelle.

Die Einwohner der Halbmillio­nenStadt Belgorod müssen sich jetzt ähnlich an Todesangst gewöhnen, wie die Menschen in der ukrainisch­en Nachbarsta­dt Charkiw, wo 2022 ganze Wohnvierte­l zerstört wurden. Erst am Dienstag sollen dort mindestens drei Menschen durch Beschuss ums Leben gekommen sein. Oder wie in Odessa, wo die Ukraine vergangene Woche nach einem Raketenang­riff den Tod von 21 Menschen meldete.

Das Stadtzentr­um von Belgorod ist fast ausgestorb­en, alle großen Geschäfte und praktisch alle Restaurant­s sind geschlosse­n, vor Kindergärt­en stapeln sich Sandsäcke. Städtische Handwerker bieten im Internet die Sicherung von Wohnungsfe­nstern mit „Panzerkleb­estreifen“an. Noch gibt es keinen Massenexod­us aus der Stadt. Aber wie die Menschen in den ostukraini­schen Frontregio­nen schwanken die Einwohner von Belgorod zwischen Panik und dem Bemühen, ihren Alltag fortzusetz­en. „Schrecklic­h ist es, wenn es still geworden ist“, sagte ein 73-Jähriger der russischen Reporterin Maria Alexejewa. „Das bedeutet, dass es bald wieder losgeht.“

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Foto: AFP Nach neuen Luftaufgri­ffen auf Belgorod in der Nacht auf den 20. März wurde unter anderem ein vor einem Kindergart­en parkendes Auto zerstört.

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