Wo Russen Ziele in ihrem Heimatland angreifen
Russische Freiwilligenverbände der ukrainischen Armee machen die Region Belgorod unsicher
Inzwischen sind auch die Exiltschetschenen da. Der Telegramkanal des russischen Oppositionsportals „The Insider“zeigte am Mittwoch ein Video, darauf posiert ein schwer bewaffnete Kämpfer mit dem Wappen der tschetschenischen „Itschkeria“-Rebellen vor Aktenschränken mit Zierpflanzen im Dorfsowjet des 500-Seelenortes Gorkowskij in der russischen Grenzregion Belgorod. „Dieses Gebiet erklären wir zur tschetschenischen Republik Itschkeria!“, ruft er grinsend.
Immer wieder erschienen in den vergangenen Wochen Stoßtrupps der unter ukrainischem Kommando kämpfenden russischen Freiwilligenverbände auf der russischen Seite der Grenze. Mitglieder des „Russischen Freiwilligenkorps“(russisch kurz RFK), der „Legion Freies Russlands“, des „Sibirischen Bataillons“und jetzt auch der „Streitkräfte der Tschetschenischen Republik Itschkeria“.
Die Krieger nahmen Selfies auf, demonstrierten Gefangene und kündigten einen „Marsch auf Moskau“an. Und vor den russischen Präsidentschaftswahlen häuften sich ukrainische Raketenund Drohnenattacken vor allem auf die Gebietshauptstadt Belgorod. Die Region ist in den letzten Wochen zum Brennpunkt des russisch-ukrainischen Konfliktes geworden.
Am Dienstag starb laut Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow im Grenzbezirk Grajwaron ein Autofahrer beim Angriff einer Kampfdrohne. Allein in der vergangenen Woche kamen 16 Zivilisten um, 98 wurden verletzt. In der Stadt Belgorod und den Grenzbezirken schloss man Schulen und Kindergärten, 9.000
Kinder sollen ins Hinterland evakuiert werden. Sechs grenznahe Ortschaften wurden für den Verkehr gesperrt.
Die Freiwilligenverbände haben neue Vorstöße über die Grenze Richtung Belgorod angekündigt, melden über 600 feindliche Gefallene, 800 Verwundete und 25 russische Gefangene, verhörten aber vor der Videokamera nur einen von ihnen. Kremlsprecher Dmitrij Peskow dagegen verkündete, man habe alle Angriffe abgeschlagen und von 2.500 Angreifern 550 getötet, 1.150 schwer verletzt. Und Wladimir Putin verglich die feindlichen Freiwilligen mit den russischen Wlassow-Soldaten, die in der Wehrmacht gegen die Rote Armee gekämpft hatten. Auch jetzt werde es keine Gnade geben. „Wir werden sie bestrafen, ohne Verfallsdatum, wo auch immer sie sich befinden.“
Militärexperten halten die Erfolgsmeldungen beider Seiten für stark übertrieben. Und wenn der ukrainische Kriegsblogger Alexander Kowalenko auf Telegram schon über das Entstehen einer neuen „grauen Zone“im russischen Grenzgebiet spekuliert, klingt das nach Propaganda. Kowalenkos Kollege Konstantin Maschowez bezeichnet die Freiwilligen sogar als „die Clowns“Kirill Budanows, des Chefs des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Budanow selbst aber sprach von einem „beschränkten Erfolg“. Und die Freiwilligen hätten nicht vor, in nächster Zeit aufzuhören.
Zweifel am militärischen Sinn der Attacken
Ruslan Lewijew, Leiter der emigrierten Factfinding-Gruppe Conflict Intelligence Service, äußerte gegenüber dem Kanal TV Doschd starke Zweifel an dem militärischen Sinn der Attacken: „Bisher waren die Operationen der Freiwilligen, die ich gesehen haben, sehr medial, sie sollen Schlagzeilen produzieren, statt wirklich den Kriegsverlauf zu beeinflussen.“Lewijew bezeichnet auch die ukrainischen Luftangriffe auf Belgorod und andere Ortschaften in der Region als Rache. Er bestätigte die Berichte von Einwohnern, dass Raketen mit Streumunition eingeschlagen hätten, laut Lewijew auch in Wohngebieten, was ein Kriegsverbrechen darstelle.
Die Einwohner der HalbmillionenStadt Belgorod müssen sich jetzt ähnlich an Todesangst gewöhnen, wie die Menschen in der ukrainischen Nachbarstadt Charkiw, wo 2022 ganze Wohnviertel zerstört wurden. Erst am Dienstag sollen dort mindestens drei Menschen durch Beschuss ums Leben gekommen sein. Oder wie in Odessa, wo die Ukraine vergangene Woche nach einem Raketenangriff den Tod von 21 Menschen meldete.
Das Stadtzentrum von Belgorod ist fast ausgestorben, alle großen Geschäfte und praktisch alle Restaurants sind geschlossen, vor Kindergärten stapeln sich Sandsäcke. Städtische Handwerker bieten im Internet die Sicherung von Wohnungsfenstern mit „Panzerklebestreifen“an. Noch gibt es keinen Massenexodus aus der Stadt. Aber wie die Menschen in den ostukrainischen Frontregionen schwanken die Einwohner von Belgorod zwischen Panik und dem Bemühen, ihren Alltag fortzusetzen. „Schrecklich ist es, wenn es still geworden ist“, sagte ein 73-Jähriger der russischen Reporterin Maria Alexejewa. „Das bedeutet, dass es bald wieder losgeht.“