Eine Profitanzkarriere muss auch für Menschen mit Beeinträchtigung gehen
Mit „Re V Ivre“ist am Wochenende im Merscher Kulturhaus eine inklusive Tanzvorstellung zu sehen. Ein Projekt, das auf Diversität setzt.
Langsam formen die Tänzerinnen und Tänzer einen Kreis. In der Hand hält jeder einen Stock aus unbearbeitetem Holz. Dann: Ein Ensemblemitglied beginnt, mit dem Ast auf den Boden zu hämmern. Allmählich nehmen die anderen die Aktion auf, wobei sich unterschiedliche Rhythmen mischen. In einer anderen Szene, nur wenige Minuten später, sieht man Noa Wagener, wie sie grazil und besonders bedacht an einer ungeraden Linie bestehend aus Ästen entlang tanzt.
„Re V Ivre“heißt die neue, inklusive Tanzproduktion des Ensembles blanContact, die heute um 20 Uhr ihre Premiere im Merscher Kulturhaus feiert – dort, wo das Projekt blanContact vor 15 Jahren gegründet wurde.
Im Vordergrund steht dabei die „Inklusion“: Menschen mit Beeinträchtigung die Möglichkeit zu geben, ihre Leidenschaft für Kunst und Kultur auszuleben. Und das so barrierefrei wie nur möglich. In diesem Fall haben die Mitglieder des Ensembles gemeinsam mit professionellen Tänzern unter der künstlerischen Leitung von Annick Pütz und Giovanni Zazzera eine Choreografie entwickelt, die sich um den Frühling, das Erwachen, die Erneuerung, schlichtweg um das Leben dreht.
Diverse Körper als Ausgangspunkt
„Wir gehen immer von den einzelnen Individuen und ihren Körpern aus“, antwortet Annick Pütz auf die Frage, wie die Choreografie für „Re V Ivre“entstanden sei. Aber gibt es bei inklusiven Projekten nicht Einiges zu beachten oder läuft anders ab? „Das ist im zeitgenössischen Tanz ohnehin ganz oft so, dass man von den Tänzern ausgeht. Und auch für uns ist das nicht anders. Natürlich sind hier die Differenzen zwischen den verschiedenen Körpern ausgeprägter.“
Dabei sei der Schaffensprozess in erster Linie ein kollektiver. Die Choreografin führt weiter aus: „Wir improvisieren ganz viel und geben den Tänzern Aufgaben und schauen dann, welche Szenen daraus entstehen. Wenn uns etwas zum Lachen bringt und uns gefällt, also einfach lebendig ist, dann gehen wir von diesem Punkt aus und vertiefen die Bewegungen und den Ablauf weiter.“
Das bedeutet allerdings nicht, dass kein Konzept dahintersteckt. Annick Pütz und Giovanni Zazzera hatten bereits im Voraus Vorstellungen davon, wie „Re V Ivre“gestaltet werden soll. „Dass wir für das Bühnenbild mit diversen Ästen, so wie wir als Menschen eben auch diverse Körperbilder haben, arbeiten wollten, war zum Beispiel von Anfang an klar. Wir haben unsere Vorstellungswelt. Aber wir stoßen auch manchmal an unsere Grenzen. Es kommt schon vor, dass wir uns etwas ausgemalt haben, das aber dann doch nicht so funktioniert. Dann müssen wir uns etwas Neues überlegen. Das ist wie überall: Grenzen zwingen uns auch immer zu einer neuen Kreativität“, betont Annick Pütz.
Individuelle und kollektive Weiterentwicklung
Dass bei einem inklusiven Projekt wie diesem viel Organisation und Koordination gefordert sind, manches auch mal etwas länger dauert, wird beim Probenbesuch im Merscher Kulturhaus deutlich.
An einer Produktion arbeitet das Ensemble meistens mehrere Monate; sogar meist Jahre. Zwischen den fünf Neuproduktionen, die in den 15 Jahren aufgeführt wurden, liegen jeweils etwa zwei Jahre. Der Grund: Die Beteiligten treffen sich zwar regelmäßig, aber meist nur einmal in der Woche. Erst vor den Aufführungen wird die Schlagzahl auf zwei Wochentermine erhöht – das ist schon ein Unterschied zu anderen Produktionen unter professionellen Bedingungen, die zum Teil ganze Wochen tägliche Intensivarbeit bedeuten.
BlanContact ist allerdings kein festes Ensemble, sondern eine Kreativgruppe, die sich konstant entwickelt. Annick Pütz erläutert: „Die Idee ist, dass wir einen Rahmen schaffen, in dem wir Ateliers, also ein generelles Training anbieten. Eben nicht nur eine Arbeit auf eine Produktion hin. Es geht darum, dass wir den Tänzerinnen und Tänzern ermöglichen, sich weiterzuentwickeln – sowohl individuell als auch in der Gruppe.“
Mehr Diversität auf der Bühne
Dabei wird stets darauf geachtet, was möglich ist und was nicht. „Es ist wichtig, dass jeder da, wo individueller Bedarf besteht, unterstützt wird. Auch, damit die Tänzer später auf der Bühne vielleicht noch weiter ihre Fähigkeiten steigern können.“
Das Ideal sei natürlich eine gewisse Beständigkeit in diese Ateliers zu bringen, wie Giovanni Zazzera erläutert. Aber das sei eben schwierig. „Bei uns beteiligen sich Menschen, die in einer Betreuungseinrichtung leben, andere arbeiten tagsüber. Da ist es selbstverständlich schwieriger, eine Regelmäßigkeit zu finden. Dennoch versuchen wir mit dem Projekt blanContact, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu professionalisieren“, so der Choreograf.
Doch wird hier in Luxemburg eigentlich ausreichend inklusive Teilhabe an Kulturprojekten möglich gemacht? „Es ist nie genug“, schmunzelt Annick Pütz. Wichtig sei allerdings die Sensibilisierung. „Wenn wir jetzt von unserem Standpunkt als Kunstschaffende ausgehen, wäre die Idee, dass man als Profi in einem professionellen Stück eine größere Diversität an Körpern und Menschen einbindet, um damit unsere Gesellschaft besser zu repräsentieren.“