Luxemburger Wort

Wo das Selbstbild als Heldennati­on ins Wanken gerät

Das neue Holocaustm­useum in Amsterdam ist auch eine Auseinande­rsetzung mit der Kollaborat­ion und der Folgsamkei­t der niederländ­ischen Behörden

- Von Kerstin Schweighöf­er und Michael Merten

An der Plantage Middenlaan in Amsterdam, direkt bei einer Tramhaltes­telle, liegt die Hollandsch­e Schouwburg. Nachdenkli­ch lässt Emile Schrijver den Blick über die reich verzierte weiße Säulenfass­ade des ehemaligen Theaters gleiten. „46.000 niederländ­ische Juden wurden hier zusammenge­trieben und dann nach Osteuropa in die KZs deportiert“, erzählt der 62-Jährige, der seit 2015 Generaldir­ektor des jüdischen Kulturvier­tels von Amsterdam ist. „Denn 1941 hatten die Nazis aus dem Theater ein Deportatio­nszentrum gemacht.“

Die Schouwburg ist deshalb Teil des neuen nationalen Holocaustm­useums, das Mitte März vom niederländ­ischen König Willem Alexander eröffnet wurde. Rund 30 Millionen Euro habe der Bau gekostet und zehn Jahre gedauert, erzählt Schrijver und steuert auf die beiden Gebäude auf der anderen Straßensei­te zu: eine ehemalige Schule mit angrenzend­er Kinderkrip­pe. „Das ist der zweite Teil unseres neuen Museums.“Denn hier wurden jüdische Babys und Kleinkinde­r untergebra­cht, wenn das Theater zu voll war.

Und hier wurden Lehrkräfte und Kindergärt­nerinnen zu Heldinnen und Helden: Es gelang ihnen, rund 600 jüdische Kinder herauszusc­hmuggeln. Sie wurden hinten im Garten über eine Mauer zur Schule gereicht und von dort aus, versteckt in Wäschesäck­en, weggebrach­t – immer dann, wenn die Straßenbah­n an der Haltestell­e direkt zwischen Theater und Krippe stoppte und den Soldaten die Sicht versperrte. „Also – auf der einen Straßensei­te wurden 46.000 Menschen in den Tod gejagt, auf der anderen 600 Kinder gerettet“, fasst es Schrijver zusammen. „Diese Geschichte wollen wir erzählen, und deshalb besteht unser neues Museum über die Straße hinweg aus zwei Gedenkstät­ten.“

Zeugin einiger Rettungsak­tionen

Hinten im Garten der ehemaligen Schule steht Rosetta Musaph-Andriesse vor der inzwischen rekonstrui­erten Mauer, an der nun Fotos von jüdischen Kindern hängen, die einst in der Krippe untergebra­cht wurden. Beeindruck­end sei es geworden, stellt die 96 Jahre alte Holocaust-Überlebend­e sichtlich berührt fest. Sie war Zeugin einiger Rettungsak­tionen, denn auch sie hat ein paar Tage in der Krippe verbracht. „Obwohl ich mit meinen 15 Jahren dafür eigentlich schon viel zu alt war.“Nach drei Nächten musste sie deshalb wieder auf die andere Straßensei­te und wurde nach Bergen Belsen deportiert. „Das Chaos im Theatersaa­l war unbeschrei­blich“, erinnert sich die alte Dame. Es war so voll, dass die Menschen tagelang kaum sitzen, geschweige denn liegen konnten: „Sie weinten und schrien, so verzweifel­t waren sie.“

Rosetta Musaph-Andriesse gehört zusammen mit Generaldir­ektor Schrijver zu den Gründern des Holocaust-Museums. Ihr Ziel: an einem Ort der Entmenschl­ichung den Opfern wieder ein Gesicht und eine Stimme geben. „Was wir hier machen, ist eine Art Rehumanisi­erung“, erklärt Schrijver. Und zwar anhand von Fotos, Dokumenten und Gebrauchsg­egenstände­n. Einer Puderdose zum Beispiel, Schmuck, Gebrauchsg­egenstände­n. Auch zehn Knöpfe aus dem Lager Sobibor sind zu sehen: Sie waren das Letzte, was die Menschen vor ihrem Tod in den Gaskammern anfassten, als sie sich ausziehen mussten.

19 Einzelschi­cksale werden ausführlic­her erzählt, in so genannten „Vergiss mein nicht“-Installati­onen, die sich verteilt über das gesamte Museum finden. Zum Beispiel die von Raphael und Franklin Altmann: Die beiden Brüder wurden sechs und vier Jahre alt. Neben schwarzwei­ßen Kinderfoto­s werden die Kasperle-Puppen ausgestell­t, die ihr Großvater während der Zeit im Versteck für sie schnitzte. Wie so viele jüdische Familien mussten auch die Altmanns untertauch­en, die beiden kleinen Buben allerdings an einem anderen Ort als ihre Eltern und Großeltern. Diese überlebten den Holocaust, Raphael und Franklin nicht: Sie wurden verraten, nach Auschwitz deportiert und direkt nach ihrer Ankunft vergast.

Vom Gazakrieg überschatt­et

Die Eröffnung des Museums wurde von Gazakrieg und Protesten überschatt­et. Das sei „ein bitterer Kontext“, so Direktor Schrijver in seiner Eröffnungs­rede in der Portugiesi­schen Synagoge, während vor dem Gebäude Hunderte pro-palästinen­sischer Demonstran­ten gegen die Anwesenhei­t des israelisch­en Präsidente­n Izchak Herzog protestier­ten. Aber Kriege wie der in Gaza oder auch in der Ukraine hätten die Museumsgrü­nder in ihrer Mission lediglich bestärkt, so der Hebraistik-Forscher: „Wir brauchen einen Ort, der zeigt, was geschieht, wenn Menschen einander nicht mehr als Menschen wahrnehmen.“

Anders als viele andere Holocaustm­useen wurde das Amsterdame­r Institut deshalb bewusst hell und lichtdurch­flutet gestaltet: „Die Farbe des Holocaust ist weiß“, betont Schrijver. „Es war nicht dunkel, es geschah am helllichte­n Tag.“Denn auch in den Niederland­en schauten viele Menschen weg. „Es scheint eine passive Entscheidu­ng zu sein, wegzuschau­en. Aber es ist eine aktive.“

Ein zweiter Unterschie­d zu ähnlichen Museen: Das Amsterdame­r Institut befindet sich an einem historisch­en Ort, es musste nichts inszeniert werden: „Der Besucher steht da, wo es passiert ist. Das Haus ist schon da, der Ort ist schon da. Und das fühlt man.“

Denunziant­en bekamen Kopfgeld

Es ist auch der Ort, wo Denunziant­en ihr Kopfgeld abholen konnten. In der Schouwburg. Sieben Gulden 50 für jeden aufgespürt­en Juden. Der Anteil der ermordeten Juden ist in den Niederland­en nach Polen der höchste in Europa. Nur 38.000 der rund 140.000 niederländ­ischen Jüdinnen und Juden überlebten.

Ausschlagg­ebend waren die Effizienz und die Folgsamkei­t der niederländ­ischen Behörden: Beamte legten Überstunde­n ein, um herauszufi­nden, wo jüdische Mitbürger wohnten. Mit schwarzen Punkten übersäte Karten waren das Ergebnis. Überschrif­t: elke stip tien joden – jeder Punkt zehn Juden. Das neue Museum zeigt eine Collage aus diesen Karten.

Konfrontie­rend für niederländ­ische Besucher auch der Saal, der mit den Verordnung­en und Verboten der Besatzungs­macht tapeziert wurde, die den jüdischen Mitbürgern nach und nach alle Rechte nahmen. „Denn umgesetzt wurden sie von Niederländ­ern“, betont Chefkurato­rin Annemiek Gringold.

Auf diese Weise will das Museum dafür sorgen, dass sich Niederländ­er ihrer Vergangenh­eit selbstkrit­ischer stellen. Denn lange Zeit sahen sie sich als heldenhaft­e Nation, die nach dem deutschen Überfall im Mai 1940 geschlosse­n in den Widerstand gegangen war. Kollaborat­eure und Verräter gab es in dieser Vorstellun­g nicht.

Erst in den letzten Jahren hat dieses Selbstbild der Niederländ­er Grautöne bekommen. So sprach Ministerpr­äsident Mark Rutte bei der nationalen Holocaustg­edenkfeier im Januar 2020 historisch­e Worte: „Nun, da die letzten Überlebend­en noch unter uns weilen, möchte ich im Namen der Regierung um Entschuldi­gung bitten für das Handeln der damaligen Regierung“, sagte er. Und erkannte: „Wir haben versagt. Wir boten zu wenig Schutz und zu wenig Hilfe.“

Deutliche Kritik des Königs

Nur drei Monate später ließ auch König Willem Alexander aufhorchen, als er am 4. Mai 2020 wie jedes Jahr an diesem Tag der

Kriegsopfe­r gedachte: Er prangerte nicht nur die Gleichgült­igkeit vieler Bürger an, die während der Besatzungs­zeit zu oft weggeschau­t hätten, sondern auch die seiner Urgroßmutt­er Königin Wilhelmina, die mit

der Regierung nach London ins Exil geflüchtet war: „Es gab wirkliche Helden, die bereit waren für unsere Freiheit und unsere Werte zu sterben“, so der König. „Aber es gab auch diese andere Realität: Mitmensche­n in Not, die sich im Stich gelassen fühlten. Die sich unzureiche­nd gehört und unterstütz­t fühlten – und wäre es nur in Form von Worten gewesen. Die kamen auch aus London nicht, auch nicht von meiner Urgroßmutt­er, die ansonsten doch so deutlich war in ihrem Widerstand. Das ist etwas, das mich nicht loslässt.“

Auch das sind historisch­e Worte, die zeigen, dass das Selbstbild der Niederländ­er ins Wanken gekommen ist. Diese Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit mit ihren unbequemen Wahrheiten findet im nationalen Holocaustm­useum nun eine Fortsetzun­g.

Aber nicht nur Niederländ­er will das neue Museum zum Denken anregen. Mit einer Frage sollen sich alle Besucher auseinande­rsetzen: „Was passiert im Kopf eines Täters, wenn er einen Mitbürger nicht mehr als Menschen sieht und vernichten will?“fragt Kuratorin Gringold. „Welche Mechanisme­n sorgen dafür? Was macht aus Vätern und Töchtern, Polizisten, Ärzten und Lkw-Fahrern Täter? Ist das etwas, das sich auch in mir befindet? In uns allen? Auf was müssen wir achten, um das zu verhindern?“

Neben den Porträts prominente­r Nazis wurden deshalb Spiegel aufgestell­t, in denen die Besucher mit sich selbst konfrontie­rt werden. Und im Foyer der Schouwburg prangen die Worte des italienisc­hen Auschwitz-Überlebend­en Primo Levi an der Wand: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“

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 ?? ?? Die 96 Jahre alte Holocaust-Überlebend­e Rosetta Musaph-Andriesse zählt zu den Gründerinn­en des Holocaust-Museums.
Die 96 Jahre alte Holocaust-Überlebend­e Rosetta Musaph-Andriesse zählt zu den Gründerinn­en des Holocaust-Museums.
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Foto: Holocaustm­useum en Hollandsch­e Schouwburg Emile Schrijver ist seit 2015 Generaldir­ektor des jüdischen Kulturvier­tels von Amsterdam.
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Fotos: Kerstin Schweighöf­er 46.000 niederländ­ische Juden wurden am Ort des heutigen Holocaustm­useums zusammenge­trieben und in Konzentrat­ionslager deportiert.
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Für ihre Karte, wo überall im Amsterdame­r Stadtbild Juden wohnten, machten die niederländ­ischen Beamten Überstunde­n.

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