Wo das Selbstbild als Heldennation ins Wanken gerät
Das neue Holocaustmuseum in Amsterdam ist auch eine Auseinandersetzung mit der Kollaboration und der Folgsamkeit der niederländischen Behörden
An der Plantage Middenlaan in Amsterdam, direkt bei einer Tramhaltestelle, liegt die Hollandsche Schouwburg. Nachdenklich lässt Emile Schrijver den Blick über die reich verzierte weiße Säulenfassade des ehemaligen Theaters gleiten. „46.000 niederländische Juden wurden hier zusammengetrieben und dann nach Osteuropa in die KZs deportiert“, erzählt der 62-Jährige, der seit 2015 Generaldirektor des jüdischen Kulturviertels von Amsterdam ist. „Denn 1941 hatten die Nazis aus dem Theater ein Deportationszentrum gemacht.“
Die Schouwburg ist deshalb Teil des neuen nationalen Holocaustmuseums, das Mitte März vom niederländischen König Willem Alexander eröffnet wurde. Rund 30 Millionen Euro habe der Bau gekostet und zehn Jahre gedauert, erzählt Schrijver und steuert auf die beiden Gebäude auf der anderen Straßenseite zu: eine ehemalige Schule mit angrenzender Kinderkrippe. „Das ist der zweite Teil unseres neuen Museums.“Denn hier wurden jüdische Babys und Kleinkinder untergebracht, wenn das Theater zu voll war.
Und hier wurden Lehrkräfte und Kindergärtnerinnen zu Heldinnen und Helden: Es gelang ihnen, rund 600 jüdische Kinder herauszuschmuggeln. Sie wurden hinten im Garten über eine Mauer zur Schule gereicht und von dort aus, versteckt in Wäschesäcken, weggebracht – immer dann, wenn die Straßenbahn an der Haltestelle direkt zwischen Theater und Krippe stoppte und den Soldaten die Sicht versperrte. „Also – auf der einen Straßenseite wurden 46.000 Menschen in den Tod gejagt, auf der anderen 600 Kinder gerettet“, fasst es Schrijver zusammen. „Diese Geschichte wollen wir erzählen, und deshalb besteht unser neues Museum über die Straße hinweg aus zwei Gedenkstätten.“
Zeugin einiger Rettungsaktionen
Hinten im Garten der ehemaligen Schule steht Rosetta Musaph-Andriesse vor der inzwischen rekonstruierten Mauer, an der nun Fotos von jüdischen Kindern hängen, die einst in der Krippe untergebracht wurden. Beeindruckend sei es geworden, stellt die 96 Jahre alte Holocaust-Überlebende sichtlich berührt fest. Sie war Zeugin einiger Rettungsaktionen, denn auch sie hat ein paar Tage in der Krippe verbracht. „Obwohl ich mit meinen 15 Jahren dafür eigentlich schon viel zu alt war.“Nach drei Nächten musste sie deshalb wieder auf die andere Straßenseite und wurde nach Bergen Belsen deportiert. „Das Chaos im Theatersaal war unbeschreiblich“, erinnert sich die alte Dame. Es war so voll, dass die Menschen tagelang kaum sitzen, geschweige denn liegen konnten: „Sie weinten und schrien, so verzweifelt waren sie.“
Rosetta Musaph-Andriesse gehört zusammen mit Generaldirektor Schrijver zu den Gründern des Holocaust-Museums. Ihr Ziel: an einem Ort der Entmenschlichung den Opfern wieder ein Gesicht und eine Stimme geben. „Was wir hier machen, ist eine Art Rehumanisierung“, erklärt Schrijver. Und zwar anhand von Fotos, Dokumenten und Gebrauchsgegenständen. Einer Puderdose zum Beispiel, Schmuck, Gebrauchsgegenständen. Auch zehn Knöpfe aus dem Lager Sobibor sind zu sehen: Sie waren das Letzte, was die Menschen vor ihrem Tod in den Gaskammern anfassten, als sie sich ausziehen mussten.
19 Einzelschicksale werden ausführlicher erzählt, in so genannten „Vergiss mein nicht“-Installationen, die sich verteilt über das gesamte Museum finden. Zum Beispiel die von Raphael und Franklin Altmann: Die beiden Brüder wurden sechs und vier Jahre alt. Neben schwarzweißen Kinderfotos werden die Kasperle-Puppen ausgestellt, die ihr Großvater während der Zeit im Versteck für sie schnitzte. Wie so viele jüdische Familien mussten auch die Altmanns untertauchen, die beiden kleinen Buben allerdings an einem anderen Ort als ihre Eltern und Großeltern. Diese überlebten den Holocaust, Raphael und Franklin nicht: Sie wurden verraten, nach Auschwitz deportiert und direkt nach ihrer Ankunft vergast.
Vom Gazakrieg überschattet
Die Eröffnung des Museums wurde von Gazakrieg und Protesten überschattet. Das sei „ein bitterer Kontext“, so Direktor Schrijver in seiner Eröffnungsrede in der Portugiesischen Synagoge, während vor dem Gebäude Hunderte pro-palästinensischer Demonstranten gegen die Anwesenheit des israelischen Präsidenten Izchak Herzog protestierten. Aber Kriege wie der in Gaza oder auch in der Ukraine hätten die Museumsgründer in ihrer Mission lediglich bestärkt, so der Hebraistik-Forscher: „Wir brauchen einen Ort, der zeigt, was geschieht, wenn Menschen einander nicht mehr als Menschen wahrnehmen.“
Anders als viele andere Holocaustmuseen wurde das Amsterdamer Institut deshalb bewusst hell und lichtdurchflutet gestaltet: „Die Farbe des Holocaust ist weiß“, betont Schrijver. „Es war nicht dunkel, es geschah am helllichten Tag.“Denn auch in den Niederlanden schauten viele Menschen weg. „Es scheint eine passive Entscheidung zu sein, wegzuschauen. Aber es ist eine aktive.“
Ein zweiter Unterschied zu ähnlichen Museen: Das Amsterdamer Institut befindet sich an einem historischen Ort, es musste nichts inszeniert werden: „Der Besucher steht da, wo es passiert ist. Das Haus ist schon da, der Ort ist schon da. Und das fühlt man.“
Denunzianten bekamen Kopfgeld
Es ist auch der Ort, wo Denunzianten ihr Kopfgeld abholen konnten. In der Schouwburg. Sieben Gulden 50 für jeden aufgespürten Juden. Der Anteil der ermordeten Juden ist in den Niederlanden nach Polen der höchste in Europa. Nur 38.000 der rund 140.000 niederländischen Jüdinnen und Juden überlebten.
Ausschlaggebend waren die Effizienz und die Folgsamkeit der niederländischen Behörden: Beamte legten Überstunden ein, um herauszufinden, wo jüdische Mitbürger wohnten. Mit schwarzen Punkten übersäte Karten waren das Ergebnis. Überschrift: elke stip tien joden – jeder Punkt zehn Juden. Das neue Museum zeigt eine Collage aus diesen Karten.
Konfrontierend für niederländische Besucher auch der Saal, der mit den Verordnungen und Verboten der Besatzungsmacht tapeziert wurde, die den jüdischen Mitbürgern nach und nach alle Rechte nahmen. „Denn umgesetzt wurden sie von Niederländern“, betont Chefkuratorin Annemiek Gringold.
Auf diese Weise will das Museum dafür sorgen, dass sich Niederländer ihrer Vergangenheit selbstkritischer stellen. Denn lange Zeit sahen sie sich als heldenhafte Nation, die nach dem deutschen Überfall im Mai 1940 geschlossen in den Widerstand gegangen war. Kollaborateure und Verräter gab es in dieser Vorstellung nicht.
Erst in den letzten Jahren hat dieses Selbstbild der Niederländer Grautöne bekommen. So sprach Ministerpräsident Mark Rutte bei der nationalen Holocaustgedenkfeier im Januar 2020 historische Worte: „Nun, da die letzten Überlebenden noch unter uns weilen, möchte ich im Namen der Regierung um Entschuldigung bitten für das Handeln der damaligen Regierung“, sagte er. Und erkannte: „Wir haben versagt. Wir boten zu wenig Schutz und zu wenig Hilfe.“
Deutliche Kritik des Königs
Nur drei Monate später ließ auch König Willem Alexander aufhorchen, als er am 4. Mai 2020 wie jedes Jahr an diesem Tag der
Kriegsopfer gedachte: Er prangerte nicht nur die Gleichgültigkeit vieler Bürger an, die während der Besatzungszeit zu oft weggeschaut hätten, sondern auch die seiner Urgroßmutter Königin Wilhelmina, die mit
der Regierung nach London ins Exil geflüchtet war: „Es gab wirkliche Helden, die bereit waren für unsere Freiheit und unsere Werte zu sterben“, so der König. „Aber es gab auch diese andere Realität: Mitmenschen in Not, die sich im Stich gelassen fühlten. Die sich unzureichend gehört und unterstützt fühlten – und wäre es nur in Form von Worten gewesen. Die kamen auch aus London nicht, auch nicht von meiner Urgroßmutter, die ansonsten doch so deutlich war in ihrem Widerstand. Das ist etwas, das mich nicht loslässt.“
Auch das sind historische Worte, die zeigen, dass das Selbstbild der Niederländer ins Wanken gekommen ist. Diese Aufarbeitung der Vergangenheit mit ihren unbequemen Wahrheiten findet im nationalen Holocaustmuseum nun eine Fortsetzung.
Aber nicht nur Niederländer will das neue Museum zum Denken anregen. Mit einer Frage sollen sich alle Besucher auseinandersetzen: „Was passiert im Kopf eines Täters, wenn er einen Mitbürger nicht mehr als Menschen sieht und vernichten will?“fragt Kuratorin Gringold. „Welche Mechanismen sorgen dafür? Was macht aus Vätern und Töchtern, Polizisten, Ärzten und Lkw-Fahrern Täter? Ist das etwas, das sich auch in mir befindet? In uns allen? Auf was müssen wir achten, um das zu verhindern?“
Neben den Porträts prominenter Nazis wurden deshalb Spiegel aufgestellt, in denen die Besucher mit sich selbst konfrontiert werden. Und im Foyer der Schouwburg prangen die Worte des italienischen Auschwitz-Überlebenden Primo Levi an der Wand: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“