Luxemburger Wort

Als der Begriff „Kollateral­schaden“geprägt wurde

Vor 25 Jahren fielen in Jugoslawie­n die Bomben. Obwohl der NATO-Einsatz politisch erfolgreic­h war, sind viele Wunden bis heute nicht geheilt

- Von Markus Schönherr

„Es war offensicht­lich für uns, dass wir Serben in einer brutalen Diktatur leben. Wir hatten Angst vor der Geheimpoli­zei und davor, in den Krieg geschickt zu werden“, erinnert sich Igor Bandovic. Als Student hatte der heutige Jurist bereits zwei Kriege miterlebt – beide infolge der Auflösung Jugoslawie­ns, bei der sich nach Slowenien und Kroatien auch BosnienHer­zegowina von Belgrad lossagte. 1998 ahnte er bereits, dass ein weiterer Krieg bevorstand.

Unter dem Vorwand, die Guerillas der ultranatio­nalistisch­en Kosovarisc­hen Befreiungs­armee (UCK) zu bekämpfen, hatte der serbische Machtherr Slobodan Miloševic eine brutale Kampagne gegen die albanische Bevölkerun­gsmehrheit im Kosovo gestartet. „Dabei hatten wir keinerlei Groll gegen irgendeine andere Nation im ehemaligen Jugoslawie­n. Wir wussten, dass es Miloševics Krieg war“, so Bandovic. Doch kein Studentenp­rotest, keine regierungs­kritische Kolumne halfen mehr, als am Abend des 24. März 1999 ein spanischer Jagdbomber seine Ladung über jugoslawis­chen Militärflu­gplätzen abwarf – und in den darauffolg­enden 78 Tagen rund 10.000 weitere Luftschläg­e folgen sollten. Um den Kosovokrie­g zu beenden, hatte die NATO ohne ein UNMandat Miloševic den Kampf angesagt. Eigenen Worten nach galt es, eine „humanitäre Katastroph­e“im Kosovo zu verhindern.

Alte Kader profitiere­n bis heute

Bei den Angriffen auf jugoslawis­che Militär- und Regierungs­ziele kamen zwischen 400 und 760 Zivilisten ums Leben. Die NATO machte eine fehlerhaft­e Aufklärung, schlechte Wetterverh­ältnisse und defekte Munition ebenso verantwort­lich wie die menschlich­en Schutzschi­lde, auf die Jugoslawie­ns Armee zurückgrif­f: Militärkon­vois, vermischt mit zivilen Fahrzeugen. In einem Bericht dokumentie­rte Amnesty Internatio­nal später einen Angriff auf Serbiens drittgrößt­e Stadt Niš am 7. Mai: Im Wohngebiet hätten zwei NATO-Bomben ihre Tochterges­chosse ausgespien, die 14 Menschen in den Tod rissen und 30 verletzten.

„Die Bomben fielen auf einen belebten Stadtteil zu einer Tageszeit, als die Leute in den Straßen und am Markt waren, anstatt in den Luftschutz­bunkern, wo sie bereits die Nacht verbracht hatten.“Bei einem weiteren Schlag habe ein F-15Kampffli­eger mindestens 20 Passagiere getötet, als seine Geschosse in einem Zug einschluge­n, statt in der anvisierte­n Brücke. Unvergesse­n bleibt aus diesen Tagen der Begriff „Kollateral­schaden“. Mit ihm rechtferti­gte die NATO die zivilen Opfer ihrer Einsätze.

Zumindest aus politische­r Sicht sei der NATO-Einsatz als Erfolg zu werten, sagt der langjährig­e Südosteuro­pa-Korrespond­ent und Buchautor Norbert Mappes-Niediek: „Der Krieg im Kosovo wurde beendet – ein Krieg, der ohne diese Interventi­on weitergega­ngen wäre.“Am Tag, an dem die erste Bombe fiel, verließ er den Kosovo, gemeinsam mit anderen westlichen Reportern, in Richtung Skopje, um in Nordmazedo­nien und Albanien die unzähligen Flüchtling­e zu interviewe­n.

Auf beiden Seiten der Front hatte sich der Kriegsallt­ag im Laufe der NATOInterv­ention ins Unerträgli­che gesteigert: Als sich eine Niederlage abzeichnet­e, verschärft­en Miloševics Truppen ihre Blutkampag­ne gegen die Kosovo-Albaner. Ebenso wie die UCK ihre Angriffe auf Serben. 800.000 Menschen, fast die Hälfte der Bewohner des Kosovo, waren gegen Ende des Bombardeme­nts auf der Flucht.

In Belgrad hat der 78-tägige NATOEinsat­z den Blick auf den Westen nachhaltig geprägt. „Die Bombardier­ung hat selbst unter den moderatest­en Serben negative Gefühle hervorgeru­fen“, erinnert sich Politanaly­st Bandovic. Wieso sollte jemand, der im Luftschutz­bunker sitzt, zum Angreifer halten? Diese Frage nährt bis heute die Skepsis gegenüber Washington und Berlin. „Tatsächlic­h wurde diese Gefühlslag­e in den letzten zehn Jahren von jenen ausgenutzt und manipulier­t, die damals schon an der Macht waren“, erzählt Bandovic: Aleksandar Vucic und Ivica Dacic dienten unter Autokrat Miloševic einst als Propaganda­minister und Pressespre­cher. Heute prägen sie als Präsident und Außenminis­ter den Alltag der Serben – ein Alltag, der sich zunehmend von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit entfernt.

Widersprüc­hliches Gedenken

Schauplatz­wechsel: Pristina. Kosovos moderne Hauptstadt ist geprägt von Straßencaf­és, dem liberalen Islam ihrer 200.000 Bewohner – und den Autos, die mit den Aufschrift­en „KFOR“und „EULEX“durch die Straßen jagen. Immer noch sind internatio­nale Truppen im Kosovo stationier­t, um den Frieden zu wahren. Vergangene­s Jahr standen sie im serbisch bewohnten Nordkosovo Demonstran­ten gegenüber, die sie im Zuge eines Protests gegen ethnisch-albanische Bürgermeis­ter mit Brandbombe­n bewarfen.

Seit Jahren halten die Kosovo-Serben den Politikern in Pristina kulturelle und politische Unterdrück­ung vor. Mehrere ihrer serbisch-orthodoxen Kirchen wurden zuletzt in katholisch­e Kirchen umgewidmet: Laut Experten ein Versuch, das serbische Erbe des Kosovo auszulösch­en. Kritik von seinen westlichen Ver

bündeten musste Pristina jüngst auch für seine Währungspo­litik einstecken. Obwohl Tausende Kosovo-Serben ihre Gehälter und Renten in Dinar erhalten, verbannte Kosovos Zentralban­k die SerbenWähr­ung im Februar, um sie durch den Euro zu ersetzen. Belgrad stellte daraufhin Geldautoma­ten an der Grenze auf.

Der 24. März ist ein Gedenktag in beiden Ländern. Während Politiker in Belgrad an serbische „Helden“und ermordete Zivilisten erinnern, ist es für Kosovos Präsidenti­n Vjosa Osmani der Tag, an dem der Westen ihrem Land „Hoffnung und Freiheit“schenkte. Arben Hajrullahu hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Nachbarn irgendwann zu einer gemeinsame­n Geschichts­deu

Die Bombardier­ung hat selbst unter den moderatest­en Serben negative Gefühle hervorgeru­fen. Igor Bandovic, Augenzeuge, Jurist und Politanaly­st

tung finden. „Diese Vision sollte nie ausgeschlo­ssen werden“, meint der Politologe der Universitä­t Pristina. Eine Voraussetz­ung aber sei die gegenseiti­ge Anerkennun­g der beiden Staaten.

Und auch die rechtliche Aufarbeitu­ng dauert fort. Miloševic, einer der Hauptdraht­zieher in den Jugoslawie­nkriegen der 1990er-Jahre, starb 2006 in seiner Zelle in Den Haag an einem Herzinfark­t – noch ehe das UN-Gericht ein Urteil fällen konnte. Unterdesse­n müssen sich der kosovarisc­he Politiker Hashim Thaçi und andere ehemalige Anführer der UCK vor dem Kosovo-Sondertrib­unal in Den Haag verantwort­en. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlich­keit vorgeworfe­n.

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Dorfbewohn­er fliehen in Richtung der Stadt Glogovac östlich von Pristina.
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Foto: Sygma via Getty Images

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