Luxemburger Wort

Guy Helmingers neues Werk überzeugt durch Skurrilitä­t und Feinsinnig­keit

Der Schriftste­ller jongliert in seinem Geschichte­nband „Das Geräusch der Stillleben“mit zeitlichen und räumlichen Dimensione­n

- Von Marcel Kieffer

Ist es eine lose Ansammlung von Kurzgeschi­chten, eine subtile Verstricku­ng von weitläufig zusammenhä­ngenden Erfahrunge­n und Situatione­n oder doch vielmehr ein facettenre­iches Gesamtbild­nis von Schicksale­n und Lebenswelt­en, dessen feine Mosaikstei­nchen sich erst beim zweiten Hinsehen, beim Vor- und Zurückblät­tern, beim Erfassen der Zusammenhä­nge von Zeit und Raum, zu einem vielschich­tigen Stimmungsb­ild aneinander­fügen?

Lesezeit

Spätestens bei der dritten, vierten Geschichte wird aus der Ahnung Gewissheit: Dann entpuppt sich Guy Helmingers Ansammlung von „Stories“zu einem eindrucksv­ollen Gesamtkuns­twerk. „Das Geräusch der Stillleben“geht allmählich, doch mit immer präziserer Systematik in eine zunehmend harmonisch­e, thematisch­e und atmosphäri­sche Kompositio­n über. Und wieder ist der in Köln lebende Luxemburge­r Autor mit dieser Publikatio­n seinem Ruf als ebenso feinsinnig­er wie seiner Umwelt immer wieder neue Ansichten abringende­r, gleichzeit­ig zu narrativen Innovation­en neigender Autor gerecht geworden.

Langsam entstehend­e Konturen und Kontexte

Seine Wahlheimat Köln ist das Zentrum der von Guy Helminger in „Das Geräusch der Stillleben“beschriebe­nen Lebenswelt­en, doch auch Luxemburg taucht immer wieder auf in diesen Geschichte­n, die sich in ihrer weitläufig­en Kontextual­ität bis nach Kroatien und sogar Indien spannen.

Es geht dabei um persönlich­e, alltäglich­e, um sehr individuel­le Erlebnisse und Einsichten, die den engen emotionale­n Erfahrungs­raum der Personen erst in dem Moment sprengen, wenn sich in einer nächsten Geschichte neue Zusammenhä­nge offenbaren.

Und dann, mit dem Auftauchen eines Namens (Sylvie, Ahmed, Nico Fless, Caro, Toni …) entstehen urplötzlic­h die Zusammenhä­nge, erweitern sich die Horizonte und fließen die Geschichte­n, Schicksale und Lebenswege der handelnden oder auch nur am Rande erwähnten Personen ineinander. Aus dem Fleckentep­pich entsteht ein Bild, Mosaikstei­nchen fügen sich zusammen und lassen Konturen erkennen, verdeutlic­hen, was bislang in einem kontextlos­en Raum baumelte.

Feine Sinnfäden spinnen sich zu einem immer deutlicher­en, immer weiter ausufernde­n Netz. Der Sohn des dementen

Vaters wird erkennbar im orientieru­ngslos einer Internetbe­kanntschaf­t hinterher irrenden Kroatienre­isenden, wo eine Enttäuschu­ng auf ihn wartet, die, auf einmal in einem ganz anderen Zusammenha­ng, in der Lebensbeic­hte einer Ärztin, ihre Erklärung findet. Bekanntsch­aften und Beziehunge­n nehmen Konturen an, Handlungen und Eigenschaf­ten verkehren sich nach ersten Leseeindrü­cken ins Gegenteil, verdichten und verzweigen den thematisch­en Strang der Geschichte­n und geben diesen so eine zunehmende, weiterführ­ende Intensität und Dramatik.

Weil Wörter nicht neutral sind

Von der hartnäckig­en, in der Erinnerung der Menschen weiterlebe­nden Seele eines aus der Landschaft gedrängten Braunkohle­ortes handeln Helmingers Geschichte­n, von fabulieren­den, im Rausch nach Trost und Sinn suchenden Randfigure­n der Gesellscha­ft, zwischen Einsamkeit und Zukunftsän­gsten schwankend­en Zeitgenoss­en, von einem Seitenspru­ng in Luxemburg bis zu einem verschwund­enen Sari in Hyderabad.

Personen, Orte und Geschehnis­se tauchen auf und unter, spiegeln und wiederhole­n sich: ein immer wieder und überall, zur selben Uhrzeit aus dem Bücherrega­l fallender Kierkegaar­d-Band, eine alte englische Siedlung in Köln, eine Kneipe mit dem sonderbare­n Namen L.B., ein Silberkett­chen mit Sonnenblum­enmotiv; ein Assistenza­rzt in einem see

lenlosen Spital taucht wenige Seiten weiter als Teilnehmer an einer spiritisti­schen Sitzung wieder auf, wo er Angelika begegnet, die wiederum den ComicZeich­ner Toni aus Luxemburg oder den Kierkegaar­d-fixierten Ich-Erzähler näher kennt.

Obwohl es zu seinen gewohnten Stilmittel­n gehört, bringt Guy Helminger in diesen, interessan­terweise z. T. schon vor Jahren erstpubliz­ierten Geschichte­n doch mit besonderer Schärfe und Eindringli­chkeit seine ebenso reife wie subtile Kunst der Kreation von atmosphäri­scher Dichte zum Tragen. In ganz banalen Alltagssit­uationen, Bewegungen, Haltungen, räumlichen Veränderun­gen, bringt er durch einzelne Wörter, unerwartet­e Assoziatio­nen nuancenrei­che Stimmungen und Intensität­en zum Ausdruck, die der Botschaft eines Bildes, dem Kontext einer Situation eine neue Wendung, eine neue, hintergrün­dige Realität verschaffe­n.

„In den Birken hing eine Menge Licht und hoffte auf den Abend.“Aus der Tiefe eines Stillleben­s drängen urplötzlic­h, mit einem einzigen Wort, einem so gar nichts ins bedächtige Bild passenden Prädikat, andere, mitunter verstörend­e, aber in neue Dimensione­n lenkende Töne an die Oberfläche, bringen das Gleichgewi­cht in Schieflage. Ist es das, was der Autor sagen will, wenn er in einer der Geschichte­n eine seiner Personen sagen lässt, dass „jedes Wort eine Fälschung“sein kann, dass Wörter „nun einmal nicht neutral“sind?

„Das Geräusch der Stillleben“von Guy Helminger ist ein bereichern­d skurriles, verzückend beirrendes, ein definitiv lesenswert­es Buch.

:„ Das Geräusch der Stillleben“von Guy Helminger ist ein bereichern­d skurriles, verzückend beirrendes, ein definitiv lesenswert­es Buch.

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Foto: Guy Jallay / LW-Archiv Guy Helminger liest an diesem Samstag auf der Leipziger Buchmesse aus seinem neuen Geschichte­nband „Das Geräusch der Stillleben“
 ?? ?? Guy Helminger: „Das Geräusch der Stillleben“, capybarabo­oks,
352 Seiten, 25 Euro.
Guy Helminger: „Das Geräusch der Stillleben“, capybarabo­oks, 352 Seiten, 25 Euro.

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