Guy Helmingers neues Werk überzeugt durch Skurrilität und Feinsinnigkeit
Der Schriftsteller jongliert in seinem Geschichtenband „Das Geräusch der Stillleben“mit zeitlichen und räumlichen Dimensionen
Ist es eine lose Ansammlung von Kurzgeschichten, eine subtile Verstrickung von weitläufig zusammenhängenden Erfahrungen und Situationen oder doch vielmehr ein facettenreiches Gesamtbildnis von Schicksalen und Lebenswelten, dessen feine Mosaiksteinchen sich erst beim zweiten Hinsehen, beim Vor- und Zurückblättern, beim Erfassen der Zusammenhänge von Zeit und Raum, zu einem vielschichtigen Stimmungsbild aneinanderfügen?
Lesezeit
Spätestens bei der dritten, vierten Geschichte wird aus der Ahnung Gewissheit: Dann entpuppt sich Guy Helmingers Ansammlung von „Stories“zu einem eindrucksvollen Gesamtkunstwerk. „Das Geräusch der Stillleben“geht allmählich, doch mit immer präziserer Systematik in eine zunehmend harmonische, thematische und atmosphärische Komposition über. Und wieder ist der in Köln lebende Luxemburger Autor mit dieser Publikation seinem Ruf als ebenso feinsinniger wie seiner Umwelt immer wieder neue Ansichten abringender, gleichzeitig zu narrativen Innovationen neigender Autor gerecht geworden.
Langsam entstehende Konturen und Kontexte
Seine Wahlheimat Köln ist das Zentrum der von Guy Helminger in „Das Geräusch der Stillleben“beschriebenen Lebenswelten, doch auch Luxemburg taucht immer wieder auf in diesen Geschichten, die sich in ihrer weitläufigen Kontextualität bis nach Kroatien und sogar Indien spannen.
Es geht dabei um persönliche, alltägliche, um sehr individuelle Erlebnisse und Einsichten, die den engen emotionalen Erfahrungsraum der Personen erst in dem Moment sprengen, wenn sich in einer nächsten Geschichte neue Zusammenhänge offenbaren.
Und dann, mit dem Auftauchen eines Namens (Sylvie, Ahmed, Nico Fless, Caro, Toni …) entstehen urplötzlich die Zusammenhänge, erweitern sich die Horizonte und fließen die Geschichten, Schicksale und Lebenswege der handelnden oder auch nur am Rande erwähnten Personen ineinander. Aus dem Fleckenteppich entsteht ein Bild, Mosaiksteinchen fügen sich zusammen und lassen Konturen erkennen, verdeutlichen, was bislang in einem kontextlosen Raum baumelte.
Feine Sinnfäden spinnen sich zu einem immer deutlicheren, immer weiter ausufernden Netz. Der Sohn des dementen
Vaters wird erkennbar im orientierungslos einer Internetbekanntschaft hinterher irrenden Kroatienreisenden, wo eine Enttäuschung auf ihn wartet, die, auf einmal in einem ganz anderen Zusammenhang, in der Lebensbeichte einer Ärztin, ihre Erklärung findet. Bekanntschaften und Beziehungen nehmen Konturen an, Handlungen und Eigenschaften verkehren sich nach ersten Leseeindrücken ins Gegenteil, verdichten und verzweigen den thematischen Strang der Geschichten und geben diesen so eine zunehmende, weiterführende Intensität und Dramatik.
Weil Wörter nicht neutral sind
Von der hartnäckigen, in der Erinnerung der Menschen weiterlebenden Seele eines aus der Landschaft gedrängten Braunkohleortes handeln Helmingers Geschichten, von fabulierenden, im Rausch nach Trost und Sinn suchenden Randfiguren der Gesellschaft, zwischen Einsamkeit und Zukunftsängsten schwankenden Zeitgenossen, von einem Seitensprung in Luxemburg bis zu einem verschwundenen Sari in Hyderabad.
Personen, Orte und Geschehnisse tauchen auf und unter, spiegeln und wiederholen sich: ein immer wieder und überall, zur selben Uhrzeit aus dem Bücherregal fallender Kierkegaard-Band, eine alte englische Siedlung in Köln, eine Kneipe mit dem sonderbaren Namen L.B., ein Silberkettchen mit Sonnenblumenmotiv; ein Assistenzarzt in einem see
lenlosen Spital taucht wenige Seiten weiter als Teilnehmer an einer spiritistischen Sitzung wieder auf, wo er Angelika begegnet, die wiederum den ComicZeichner Toni aus Luxemburg oder den Kierkegaard-fixierten Ich-Erzähler näher kennt.
Obwohl es zu seinen gewohnten Stilmitteln gehört, bringt Guy Helminger in diesen, interessanterweise z. T. schon vor Jahren erstpublizierten Geschichten doch mit besonderer Schärfe und Eindringlichkeit seine ebenso reife wie subtile Kunst der Kreation von atmosphärischer Dichte zum Tragen. In ganz banalen Alltagssituationen, Bewegungen, Haltungen, räumlichen Veränderungen, bringt er durch einzelne Wörter, unerwartete Assoziationen nuancenreiche Stimmungen und Intensitäten zum Ausdruck, die der Botschaft eines Bildes, dem Kontext einer Situation eine neue Wendung, eine neue, hintergründige Realität verschaffen.
„In den Birken hing eine Menge Licht und hoffte auf den Abend.“Aus der Tiefe eines Stilllebens drängen urplötzlich, mit einem einzigen Wort, einem so gar nichts ins bedächtige Bild passenden Prädikat, andere, mitunter verstörende, aber in neue Dimensionen lenkende Töne an die Oberfläche, bringen das Gleichgewicht in Schieflage. Ist es das, was der Autor sagen will, wenn er in einer der Geschichten eine seiner Personen sagen lässt, dass „jedes Wort eine Fälschung“sein kann, dass Wörter „nun einmal nicht neutral“sind?
„Das Geräusch der Stillleben“von Guy Helminger ist ein bereichernd skurriles, verzückend beirrendes, ein definitiv lesenswertes Buch.
:„ Das Geräusch der Stillleben“von Guy Helminger ist ein bereichernd skurriles, verzückend beirrendes, ein definitiv lesenswertes Buch.