Der Duft von Zimt
32
Nun stand sie inmitten eines hohen Raumes, der voll von ihnen war. In den Ecken sah sie tiefe, gemütlich aussehende Sessel, daneben brannten Kerzen auf dreiarmigen Ständern. Ein groß gewachsener Mann mit ernstem Blick und tiefen Geheimratsecken trat auf sie zu.
„Guten Tag, die Dame. Mein Name ist Friedrich Perthes. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Oh, um ehrlich zu sein … mich hat vor allem die Musik hergelockt.“Josephine spürte, dass ihr Gesicht heiß wurde, und sah zu Boden.
„Ah, das verstehe ich gut.“Der Mann schmunzelte.
„Unglaublich, dass ein Soldat so spielen kann, nicht wahr?“
Josephine sah überrascht auf. „Ein Soldat?“
„Ja, die Truppe wohnt seit ein paar Wochen bei mir im ersten Stock. Ich hatte zunächst einige Bedenken, aber ich habe Glück gehabt. Sie benehmen sich tatsächlich anständig. Und das Klarinettenspiel gefällt mir gut.“
„Eine Klarinette …“, sagte Josephine langsam.
„Ich denke, es ist eine Bassklarinette. Der Junge versteht hervorragend, damit umzugehen …“
„Herr Perthes!“, rief eine fremde Stimme hinter Josephine, sie drehte sich um. „Ah!“, machte der Buchhändler erfreut. An Josephine gewandt fragte er:
„Würden Sie mich bitte entschuldigen?“
„Natürlich“, sagte sie und beobachtete, wie er den gerade eingetretenen Kunden so überschwänglich wie einen alten Freund begrüßte.
Einen Moment lang blieb sie unschlüssig vor einem der Regale stehen. Dieser Ort gefiel ihr. Die wohlige Wärme, die von einem Kamin vor Kopf ausging, der Geruch von ledernen Bucheinbänden, das schummrige Licht und natürlich das Spiel der Bassklarinette über ihrem Kopf. Doch dann riss sie sich los und ging nach draußen. Sie hatte in einer Buchhandlung schließlich nichts verloren.
Zurück auf dem Jungfernstieg drehte sie sich noch einmal um und sah zu dem Fenster hinauf, aus dem die Musik drang. Sie legte eine Hand an die Stirn, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen, und erkannte hinter dem Glas schemenhaft einen Menschen.
Er hielt ein langes Instrument in beiden Händen, wiegte sich vor und zurück – und Josephine erschrak. Schlagartig wusste sie, wer das war. Zwar trug er keinen Helm, und anscheinend hatte er auch den Rock seiner Uniform abgelegt, doch die Art, wie er sich beim Spiel bewegte, verriet ihn dennoch. Sie wollte sich sofort umdrehen und davoneilen, doch der wunderbare Klang der
Musik hielt sie nach wie vor fest. Sie war voller warmer, schwerer Melancholie, und doch fühlte sich Josephine von ihr getragen, als schiebe sie sich wie ein Teppich unter ihre Füße. Mit einem Mal fühlte sie sich ganz leicht, so als könne sie fliegen, wenn sie es nur versuchte, als könne ein einziger Schritt sie überallhin tragen, eine einzige Entscheidung alles ändern. Wie kam es, dass gerade er so spielen konnte? Und dann brach er plötzlich ab. Langsam öffnete sich das Fenster über ihr. Er hatte sie bemerkt. Mit zwei Fingern schob er das Fenster auf, langsam, Stück für Stück, und seine lustigen Halbmond-Augen sahen sie unverwandt an. Sie konnte nicht anders, als seinen Blick zu erwidern.
„Bonjour Mademoiselle Thielemann“, sagte er so leise, dass sie es kaum hören konnte. Beinahe war es ein Flüstern. Sie bekam eine Gänsehaut.
„Guten Tag, Pépin“, sagte sie steif. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sie nie seinen Nachnamen gehört hatte. Einen Moment noch starrte sie ihn an, doch als er nichts sagte, drehte sie sich unbeholfen um und lief hölzernen Schrittes den Jungfernstieg hinunter.
Pépin Sabatier schaute Josephine Thielemann noch lange nach. Sie hatte diesen geraden, stets aufrechten Hals, und sie schien nie zu wissen, was sie mit ihren langen Arme anfangen sollte. Von diesem mühelos graziösen Gang, der den Frauen in seiner Heimat angeboren schien, war sie weit entfernt, dennoch fand er sie bezaubernd: ihr kleines Gesicht mit dem spitzen Kinn und den runden Augen. Sie konnte so herrlich spöttisch gucken! Sogar die dunklen, zu groß geratenen Sommersprossen auf ihren Wangen gefielen ihm. Und immer wieder zog sie – wohl ohne es zu merken – die Nase kraus. In der Bäckerei neckte er sie hin und wieder ein wenig, denn sobald er einen Witz machte, funkelte sie ihn zornig an. Hätte sie keine so gute Erziehung genossen, hätte sie ihm sicherlich längst eine derbe Beleidigung an den Kopf geworfen. Bei dem Gedanken lächelte er in sich hinein. Ja, er würde sich gern ein wenig mit Josephine Thielemann streiten.
Sein Herz schlug stets schneller, sobald sie ihn fixierte und dabei die Lippen fest zusammenpresste, um die Beschimpfungen zurückzuhalten. Wie lange müsste er sie provozieren, bis sie den Mund öffnete und ihm entgegenschleuderte, was sie wirklich dachte? Nie kamen sich Menschen so nah wie in einem heftigen Streit, fand Pépin. Außer vielleicht, wenn sie gemeinsam schwiegen. Alles andere kam ihm häufig wie bloße Höflichkeit vor. Wahrscheinlich war es das, was Pépin an Josephine so mochte: Stets glaubte er, in ihren Augen lesen zu können, dass sie ihm gegenüber leidenschaftlich gern unhöflich sein wollte.
Und doch hatte sie nun dort unten gestanden und zu ihm hochgesehen. Wie lange sie ihm wohl zugehört hatte?
Und dann schüttelte er über sich selbst den Kopf. Was spielte das schon für eine Rolle? Sie war ein Hamburger Mädchen, und er würde sicher nicht mehr lange hierbleiben. Nirgends hatte er lange bleiben können. Mit dem Musikkorps war er immer wieder von einer Schlacht zur nächsten gezogen. Er musste wieder daran denken, wie er vor drei Jahren aufgebrochen war. Von diesem kleinen, warmen Haus mitten in Paris.