Der Duft von Zimt
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„Einmal ist sie in die Küche gelaufen und hat sich das Brot aus dem Kasten geklaut! Und ein anderes Mal stand sie neben Madame Laurent und hat ihren Kopf in ihren Schoß gelegt. Für einen kurzen Moment hätte ich schwören können, die Madame sehe glücklich aus. Zwar hat sie wie immer aus dem Fenster geschaut, doch mit einer Hand hat sie die Kuh gestreichelt.“Louise schüttelte nachdenklich den Kopf. „Et bien, seitdem habe ich aufgegeben. Ich bin nur froh, dass sie noch nicht das Treppenlaufen gelernt hat, sonst würde sie sich noch nachts zu mir ins Bett legen!“
Karl konnte nicht anders, als leise zu lachen. „Wer könnte es ihr verdenken?“, sagte er und zwinkerte Louise zu.
Die lachte laut auf und warf den schönen Kopf zurück, so dass die Zimtstangen an ihrem Hut wackelten. Karl musste einfach ihre schimmernde Haut bewundern, unter der sich ihr Schlüsselbein weich abzeichnete. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie heute mitzunehmen? Es kostete verdammt viel Anstrengung, sich den ganzen Tag lang zusammenzureißen, während diese Frau neben ihm so wunderbar duftete. Es wäre viel klüger gewesen, sich dauerhaft von ihr fernzuhalten. Er war bei Weitem nicht gut genug für sie, und jeder ihrer Schritte, jeder ihrer Blicke führte ihm das vor Augen. Unwillkürlich tauchte vor seinem inneren Auge nun Helena auf, das Mädchen von nebenan, die Tochter des Metzgers. Eigentlich war er auch für sie nicht gut genug gewesen. Und doch war sie vor langer Zeit seine Frau geworden. Gemeinsam hatten sie eine Mietwohnung in der Steinstraße bezogen – mit Küche, Stube und Schlafzimmer. Und sie hatten von einem Kind geträumt. Die bald sechzehn Jahre, die seitdem vergangen waren, erschienen ihm so schrecklich lang, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte. Er wusste nur, dass ihr gemeinsamer Traum Helena getötet hatte. Und dass ihre kleine Tochter zu schwach gewesen war, um dieser Welt zu trotzen. Träume waren etwas für eine andere Zeit. Für eine andere Stadt. Für einen anderen Mann. Karl wollte nicht mehr träumen.
Vor ihnen ragte nun das Millerntor in die Luft: Durch die steinerne, reich verzierte Öffnung im grün bepflanzten Wall schoben sich langsam die Reihen von Kutschen und Passanten nach Hamburg hinein.
Tief atmete er durch. „Dann wollen wir mal“, knurrte er.
Die düsteren Mienen der Grünröcke waren schon von Weitem zu erkennen. Mit ruppigen Bewegungen durchsuchten sie einen Hamburger nach dem anderen.
„Siehst du ihn?“, raunte er Louise zu. Die stellte sich immer wieder auf die Zehenspitzen und reckte sich, ohne zu antworten.
„Heute Vormittag war er doch noch da.“
„Vielleicht macht er Pause? Wir sollten ein wenig warten.“
Sie lösten sich so unauffällig wie möglich von der Schlange und schlenderten in die andere Richtung.
Karl sah zu Louise hinüber, und sie fing seinen Blick auf. Schnell sah er wieder weg. Er durfte nicht schwach werden. Noch nicht. Nur wenn sein Plan aufging und er tatsächlich wagenweise Zucker und Zimt in die Stadt brachte, könnte er genug Gewinn machen, um sich eine richtige Wohnung zu leisten und eine Zukunft aufzubauen. Nur dann könnte er es sich erlauben, Louise seine Gefühle zu gestehen. Vorher nicht. Und doch lief er so dicht neben ihr, dass sein Unterarm ihren berührte. Wie warm sie war. Er versuchte, ruhig ein- und auszuatmen, doch am liebsten hätte er sie jetzt und hier gepackt und an sich gezogen.
„He, ihr da! Was lungert ihr hier herum?“
Karl drehte den Kopf und sah sich einem besonders großen und breiten Zollbeamten gegenüber, dem Zotteln seines schwarzen Schnauzbartes in den Mund ragten.
„Rein oder raus? Hier rumstehen könnt ihr jedenfalls nicht.“
„Oh. Das wussten wir nicht. Wer sagt denn das?“, erkundigte sich Karl in gespielter Verwirrung und zog eine Augenbraue hoch.
„Derselbe, der dir gleich Respekt beibringen wird“, drohte der Douanier und trat einen Schritt auf ihn zu.
Schnell schob sich Louise zwischen die beiden Männer und lächelte den Grünrock an. „Pardonnez-moi, Monsieur“, sagte sie auf Französisch und ließ dabei ihre Ohrringe klimpern. „Mein Bruder meint es nicht so. Wir waren nur so furchtbar müde von unserem langen Marsch hierher. Wir haben unsere Schwester in Altona besucht, wissen Sie, und ihr Säugling hat die ganze Nacht geschrien. Sie können sich nicht vorstellen, wie …“
„Ja, ja“, unterbrach der Beamte sie. „Hier entlang.“
Obwohl Louise ganz offensichtlich ihren ganzen Charme spielen ließ und darüber hinaus versuchte, mit ihrer Muttersprache zu punkten, schien der Mann nicht im Geringsten beeindruckt. Er winkte sie hinter sich her, und ein paar Schritte weiter bedeutete er Karl, sich breitbeinig hinzustellen und die Arme hochzunehmen.
Karl schluckte. So hatten sie das ganz und gar nicht geplant. Doch als er sich nicht rührte, zeigte der Douanier auf das Gewehr an seinem Gürtel. „Mach schon!“
Karl sah zu Louise hinüber, die kaum merklich nickte. Also tat er, wie ihm geheißen, und sofort fühlte er, wie die groben Hände des Douaniers seine Hosenbeine abklopften, grob an seinen Waden, den Knien, den Oberschenkeln hinauffuhren. Gleich würden sie bei den vollgestopften Taschen ankommen. Karl sah sich verstohlen um. Neben diesem Douanier waren noch drei weitere Beamte am Tor eingesetzt. Zwei von ihnen kletterten gerade in eine Kutsche, der Dritte betastete schief grinsend ein junges Mädchen.
Karl kniff die Augen zusammen. Kurz nickte er Louise zu. In diesem Moment kamen die Hände des Mannes an seinen Taschen an.
„Oh, Monsieur!“, rief Louise in den hellsten Tönen. Der Douanier sah sie an, sofort packte Karl ihn und rammte ihm das Knie ins Gesicht.