Ein Brandbrief soll Olaf Scholz wachrütteln
Der renommierte deutsche Historiker Heinrich August Winkler wirft dem deutschen Kanzler und seiner SPD vor, mit ihrer Politik Wladimir Putin zur Fortsetzung seiner Kriegsstrategie zu ermuntern
Die Republik hat es nicht mitgekriegt, logisch — es sind ja auch nur 160 Gäste dagewesen, beim „Bürgergespräch“von Olaf Scholz in Brandenburg an der Havel, der Stadt, die gleich neben Scholz’ Wahlkreis Potsdam liegt. Und dann ist es ja auch die 13. Auflage gewesen am Montagabend, da ist das Interesse nicht mehr so groß. So weiß Deutschland in den letzten VorosterTagen nicht, dass sein Kanzler in Brandenburg gelobt worden ist, mehrfach sogar, für seine Weigerung, der Ukraine für ihre Verteidigung gegen Russlands Angriffskrieg Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Einmal sind sogar fast Tränen geflossen.
Das ist, ziemlich genau sogar, das Gegenteil dessen, was fünf Tage zuvor Heinrich August Winkler und je zwei seiner Kolleginnen und Kollegen Scholz und dem restlichen Spitzenpersonal der Kanzlerpartei SPD in einem Brief geschrieben haben — der nun öffentlich wird. Erst zitiert die „Bild“-Zeitung daraus, dann auch die „Süddeutsche“(SZ). Die Genossinnen und Genossen, schreiben Winkler und die Professoren Jan Claas Behrends aus Frankfurt/Oder, Gabriele Lingelbach und Martina Winkler aus Kiel und Dirk Schumann aus Göttingen, müssten endlich „begreifen, dass Putin nur dann ein Interesse daran hat, diesen Krieg zu beenden, wenn ihm die notwendige Stärke entgegengesetzt wird“.
Anlass des Schreibens — nicht aber sein Grund — ist ganz offensichtlich die Rede von SPDFraktionschef Rolf Mützenich im Bundestag am 14. März, in der er fragte, ob „es nicht an der Zeit“sei, darüber nachzudenken, „wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“. Nicht nur Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) reagierte da ablehnend; ihr Kopfschütteln fehlte in kaum einem Fernsehbeitrag. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius, ebenfalls Sozialdemokrat, und der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, distanzierten sich von Mützenichs
Position.
SPD „auf ganzer Linie gescheitert“
Mützenich verteidigte seine Wortwahl daraufhin in einem „SZ“-Interview mit dem Verweis, dass solche Überlegungen „irgendwann zu einer Abwesenheit militärischer Gewalt“führen könnten — und nannte als „Beispiele für eingefrorene Konflikte: Korea, Südossetien und in Europa: Zypern“. Und SPD-Co-Vorsitzender Lars Klingbeil sagt in einem am Dienstag auf Instagram veröffentlichten Video: „Diplomatie und militärische Stärke sind zwei Seiten einer Medaille.“
Kein Wort zum Historiker-Brief, der da schon öffentlich ist. Und damit die massive Kritik — zu deren Verständnis gehört, dass Winkler seit 62 Jahren SPD-Mitglied ist. Und dass er schon im Dezember 2016 im Parteiorgan „Vorwärts“mahnte: „SPD muss erkennen: Putin will Revision der Grenzen in Europa“— und zwar „auch mit Gewalt“. Ausgerechnet Rolf Mützenich, damals als stellvertretender Fraktionschef zuständig für Außen-, Verteidigungs- und Menschenrechtspolitik, wies Winkler zurecht: „Für Ignoranz und Ausgrenzung ist Russland zu groß und zu mächtig.“Und also sei „eine neue Entspannungspolitik heute wichtiger denn je“. Gruß an Willy Brandt.
Jetzt attestiert das Historiker-Quintett, voran der notorisch besonnene Winkler, der SPD damit auf ganzer Linie gescheitert zu sein. Und dem aktuellen Kanzler Scholz: „Seine jüngsten Äußerungen und auch die der Parteiführung“ließen in Sachen Ukraine „die nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen“. Was die RusslandPolitik angehe, „appellieren wir an den Parteivorstand, die notwendige Positionsklärung vorzunehmen“. Denn bislang seien „Argumente und Begründungen“von Kanzler, Fraktions- und Parteiführung „immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch“. Deshalb würden sie „in der Öffentlichkeit zu Recht scharf kritisiert“.
Kritik an Scholz‘ Führungsstil
Zur Europa- und Weltpolitik der SPD und des Kanzlers wird angemerkt: „Zudem ist die Abstimmung mit den Verbündeten unzureichend.“Und unter Verweis auf die Zwietracht etwa zwischen Berlin und Paris befinden Winkler und Co: „Dies sollte klar sein: Putin wird jegliche Uneinigkeit nur als Ermunterung verstehen.“
Schließlich attestieren die Historiker Scholz und Co „Realitätsverweigerung“, nennen die „hochgefährlich“und fordern, „endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine zu benennen, verbunden mit der ebenso klaren Aussage, dass es nicht darum geht, Russland anzugreifen und zu schädigen, sondern die 1991 auch von Russland anerkannte Unabhängigkeit der Ukraine wiederherzustellen“.
Am selben Tag, an dem das öffentlich wird, kündigt Michael Roth, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses im Bundestag, für das Ende der Legislatur nach dann 27 Jahren im Parlament seinen Rückzug aus der Politik an. Klarer als er redet niemand in der SPD einer Ukraine-Unterstützung das Wort, die der Vorstellung der Historiker entspricht. Beim Parteitag im Dezember ist er nicht mehr in den Parteivorstand gewählt worden. Im Magazin „Stern“beklagt Roth nun, dass Fraktion und Partei sich dem Kanzler „faktisch untergeordnet“hätten. Aber: „Politik ist Teamspiel, keine OneMan-Show.“