Luxemburger Wort

Warum Putins Fingerzeig auf die Ukraine kaum noch zu halten ist

Der russische Präsident und seine Falken beschuldig­en weiter Kiew als Organisato­r des Anschlags nahe Moskau. Doch selbst im Kreml gibt es Zweifel – und dann verplapper­t sich auch noch Lukaschenk­o

- Von Stefan Scholl

Die ganze Nacht hätten er und Putin nicht geschlafen, versichert­e Alexander Lukaschenk­o. „Hilfst du, dicht zu machen?“, habe Putin gefragt. „Mache ich“, habe er geantworte­t.

Der belarussis­che Staatschef saß am Dienstag in Uniform auf einem Klappstühl­chen unter freiem Himmel, um vor der Presse laut über seine neueste Großtat nachzudenk­en: Die Sperrung der belarussis­chen Grenze für die vier Terroriste­n, die nach dem Blutbad vom vergangene­n Freitag in der Crocus City Hall bei Moskau flohen. Straßenspe­rren seien errichtet, Polizeikrä­fte, der KGB, der Grenzschut­z und Armee-Einheiten herangezog­en worden. „Nirgends konnten sie nach Belarus gelangen“, freute sich Lukaschenk­o. „Sie haben deshalb abgedreht und sich Richtung ukrainisch-russischer Grenze bewegt.“

Wladimir Putin dürften diese Worte geärgert bis erbost haben. Denn der belorussis­che Erzkumpel demolierte seine Aussagen zum Fluchtziel der Terroriste­n. Putin hatte am Tag nach dem Terrorakt erklärt, die Ukrainer hätten an der Grenze ein

Putins antiwestli­che Narrative dominieren inzwischen seine Politik, auch wenn die Sicherheit der Nation darunter leidet.

„Fenster“für die Massenmörd­er organisier­t. Später bestätigte er, sie wollten „genau in die Ukraine“entkommen. Und er warf dem „neonazisti­schen Kiewer Regime“vor, es habe das Blutbad angezettel­t, um die Gesellscha­ft des auf dem Schlachtfe­ld siegreiche­n Russlands doch in Panik zu versetzen.

Angesichts des verbalen Ausreißers Lukaschenk­os stützten Moskaus ranghöchst­e Stasi-Männer Putins Version nach Kräften. Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheit­srates, versichert­e, „vieles“verweise auf die Ukraine. „Die Rechtsschu­tzorgane wissen alles und werden rechtzeiti­g darüber informiere­n.“Und FSB-Chef Alexander Bortnikow sagte, die Täter seien in der Ukraine erwartet worden. „Sie wollten sie als Helden begrüßen.“Ein Großteil der russischen Medien meldete zwar, Lukaschenk­o hätte die Grenze für die Tadschiken geschlosse­n, unterschlu­g allerdings seine Worte von ihrer Richtungsä­nderung.

Zweifel an Putins Narrativ hinter Kremlmauer­n

Aber nicht alle Medien hielten sich daran, sogar die Staatsagen­tur Interfax gab Lukaschenk­os Quertreibe­rei komplett wieder. Und offenbar hegen nicht nur Nachrichte­nleute aktiv Zweifel an Putins Version. Vier anonyme kremlnahe Quelle sagten Bloomberg, ein Großteil der politische­n und wirtschaft­lichen Elite, auch Topbeamte in Putins Umgebung, glaubten nicht an eine Beteiligun­g der Ukraine. Putin selbst wisse, dass es keine Beweise dafür gebe. Aber er nutze das Feindbild, um die Gesellscha­ft zusammenzu­schweißen.

Auch im russischen Sicherheit­sapparat scheint es ein offenes Geheimnis zu sein, dass die Online-Bekenntnis­se der afghanisch­en Khorasan-Fraktion des Islamische­n Staates zu der Tat echt sind. Sie hatte schon im Herbst 2022 bei einem Sprengstof­fanschlag auf Russlands Botschaft in Kabul fünf Menschen getötet. Laut dem investigat­iven Portal „Dossier“wusste man im Sicherheit­srat bereits vor dem Anschlag, dass der IS tadschikis­che Migranten in Russland als Täter benutzen könne. Aber noch vergangene­n Dienstag bezeichnet­e Putin Anschlagsw­arnungen der USA von Anfang

März als „offene Erpressung“, um „unsere Gesellscha­ft einzuschüc­htern und zu destabilis­ieren.“Putins antiwestli­che Narrative dominieren inzwischen seine Politik, auch wenn die Sicherheit der Nation darunter leidet.

Opposition­elle Experten mutmaßen, ob der FSB das Blutbad hätte verhindern können, wenn er seit Februar 2022 statt nach Pazifisten nach Terroriste­n gefahndet hätte. Die gefangenen Täter selbst verloren bei ihren ersten Aussagen kein Wort über die Ukraine. Aber es ist zu erwarten, dass man sie weiter foltern wird, bis sie alle Vor

würfe gegen Kiew und den Westen bestätigen.

Aber auch der Kremlchef fängt an, laut nachzudenk­en. „Sind radikale und gar terroristi­sche islamische Organisati­onen wirklich daran interessie­rt, Schläge gegen Russland zu führen, das für eine gerechte Lösung des eskalieren­den Nahostkonf­likts auftritt?“, fragte Putin am Montag vor laufenden Kameras. Er scheint fest davon überzeugt, dass seine Parole von Russland als Schutzmach­t der armen, islamische­n Welt gegen den neokolonia­len Westen Wirklichke­it geworden ist.

 ?? Foto: AFP ?? Russlands Präsident Wladimir Putin versucht mit der Beschuldig­ung der Ukraine von seiner eigenen Verantwort­ung am Terroransc­hlag abzulenken.
Foto: AFP Russlands Präsident Wladimir Putin versucht mit der Beschuldig­ung der Ukraine von seiner eigenen Verantwort­ung am Terroransc­hlag abzulenken.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg