Warum Putins Fingerzeig auf die Ukraine kaum noch zu halten ist
Der russische Präsident und seine Falken beschuldigen weiter Kiew als Organisator des Anschlags nahe Moskau. Doch selbst im Kreml gibt es Zweifel – und dann verplappert sich auch noch Lukaschenko
Die ganze Nacht hätten er und Putin nicht geschlafen, versicherte Alexander Lukaschenko. „Hilfst du, dicht zu machen?“, habe Putin gefragt. „Mache ich“, habe er geantwortet.
Der belarussische Staatschef saß am Dienstag in Uniform auf einem Klappstühlchen unter freiem Himmel, um vor der Presse laut über seine neueste Großtat nachzudenken: Die Sperrung der belarussischen Grenze für die vier Terroristen, die nach dem Blutbad vom vergangenen Freitag in der Crocus City Hall bei Moskau flohen. Straßensperren seien errichtet, Polizeikräfte, der KGB, der Grenzschutz und Armee-Einheiten herangezogen worden. „Nirgends konnten sie nach Belarus gelangen“, freute sich Lukaschenko. „Sie haben deshalb abgedreht und sich Richtung ukrainisch-russischer Grenze bewegt.“
Wladimir Putin dürften diese Worte geärgert bis erbost haben. Denn der belorussische Erzkumpel demolierte seine Aussagen zum Fluchtziel der Terroristen. Putin hatte am Tag nach dem Terrorakt erklärt, die Ukrainer hätten an der Grenze ein
Putins antiwestliche Narrative dominieren inzwischen seine Politik, auch wenn die Sicherheit der Nation darunter leidet.
„Fenster“für die Massenmörder organisiert. Später bestätigte er, sie wollten „genau in die Ukraine“entkommen. Und er warf dem „neonazistischen Kiewer Regime“vor, es habe das Blutbad angezettelt, um die Gesellschaft des auf dem Schlachtfeld siegreichen Russlands doch in Panik zu versetzen.
Angesichts des verbalen Ausreißers Lukaschenkos stützten Moskaus ranghöchste Stasi-Männer Putins Version nach Kräften. Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates, versicherte, „vieles“verweise auf die Ukraine. „Die Rechtsschutzorgane wissen alles und werden rechtzeitig darüber informieren.“Und FSB-Chef Alexander Bortnikow sagte, die Täter seien in der Ukraine erwartet worden. „Sie wollten sie als Helden begrüßen.“Ein Großteil der russischen Medien meldete zwar, Lukaschenko hätte die Grenze für die Tadschiken geschlossen, unterschlug allerdings seine Worte von ihrer Richtungsänderung.
Zweifel an Putins Narrativ hinter Kremlmauern
Aber nicht alle Medien hielten sich daran, sogar die Staatsagentur Interfax gab Lukaschenkos Quertreiberei komplett wieder. Und offenbar hegen nicht nur Nachrichtenleute aktiv Zweifel an Putins Version. Vier anonyme kremlnahe Quelle sagten Bloomberg, ein Großteil der politischen und wirtschaftlichen Elite, auch Topbeamte in Putins Umgebung, glaubten nicht an eine Beteiligung der Ukraine. Putin selbst wisse, dass es keine Beweise dafür gebe. Aber er nutze das Feindbild, um die Gesellschaft zusammenzuschweißen.
Auch im russischen Sicherheitsapparat scheint es ein offenes Geheimnis zu sein, dass die Online-Bekenntnisse der afghanischen Khorasan-Fraktion des Islamischen Staates zu der Tat echt sind. Sie hatte schon im Herbst 2022 bei einem Sprengstoffanschlag auf Russlands Botschaft in Kabul fünf Menschen getötet. Laut dem investigativen Portal „Dossier“wusste man im Sicherheitsrat bereits vor dem Anschlag, dass der IS tadschikische Migranten in Russland als Täter benutzen könne. Aber noch vergangenen Dienstag bezeichnete Putin Anschlagswarnungen der USA von Anfang
März als „offene Erpressung“, um „unsere Gesellschaft einzuschüchtern und zu destabilisieren.“Putins antiwestliche Narrative dominieren inzwischen seine Politik, auch wenn die Sicherheit der Nation darunter leidet.
Oppositionelle Experten mutmaßen, ob der FSB das Blutbad hätte verhindern können, wenn er seit Februar 2022 statt nach Pazifisten nach Terroristen gefahndet hätte. Die gefangenen Täter selbst verloren bei ihren ersten Aussagen kein Wort über die Ukraine. Aber es ist zu erwarten, dass man sie weiter foltern wird, bis sie alle Vor
würfe gegen Kiew und den Westen bestätigen.
Aber auch der Kremlchef fängt an, laut nachzudenken. „Sind radikale und gar terroristische islamische Organisationen wirklich daran interessiert, Schläge gegen Russland zu führen, das für eine gerechte Lösung des eskalierenden Nahostkonflikts auftritt?“, fragte Putin am Montag vor laufenden Kameras. Er scheint fest davon überzeugt, dass seine Parole von Russland als Schutzmacht der armen, islamischen Welt gegen den neokolonialen Westen Wirklichkeit geworden ist.