Der Duft von Zimt
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Er jaulte auf, taumelte zurück, und Louise und Karl sprinteten los. Zwischen zwei Handkarren und einer Traube junger Dienstmädchen hindurch – spitz schrie eine von ihnen auf – und an einer gewaltigen Kutsche vorbei. Sie duckten sich unter einer Absperrung hindurch, und Karl hörte, wie zwei Grünröcke wütend brüllten. Gleichzeitig jubelte ihnen jemand zu und klatschte laut.
„Richtig so!“, rief ein Fremder. „Gut gemacht!“, fand ein Zweiter.
„Stehen bleiben!“, schrie ein Grünrock.
Karl spürte eine Hand an seinem Mantel, doch er schüttelte sie ab und rannte weiter. Fast war er auf der anderen Seite des Tores, auf dem weitläufigen Zeughausmarkt, angekommen. In dem Gewusel aus fast leeren Marktständen, Händlern und hungrigen Kindern könnte er sicher schnell verschwinden, dachte er – doch dann bemerkte Karl, dass er Louise nicht mehr im Augenwinkel neben sich sehen konnte. Sofort bremste er in vollem Lauf ab, wirbelte herum – und sah, dass ein Grünrock sie festhielt.
„Langsam!“Der Franzose lachte, während er Louises Handgelenke packte. „Wo wollen wir denn so schnell hin?“Er umfasste ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger, damit sie ihn ansah.
Es kostete Karl all seine Willenskraft, nicht mit geballter Faust auf den Kerl zuzustürmen, ihn wegzustoßen und Louise hinter sich herzuziehen. Schließlich kannte er diesen kleinen, breitschultrigen Soldaten, der den Kopf wie immer weit zurück gelegt hatte, wohl um trotz seiner geringen Körpergröße auf sein Gegenüber hinabsehen zu können.
„Hamo, mon cher“, rief Louise und blinzelte dem Grünrock kokett zu. Karl verstand kaum etwas von dem, was sie auf Französisch zu ihm sagte. Aber es schien um Louises zerrissenes Kleid und Hamos rücksichtslose Kameraden zu gehen.
Zumindest beugte er sich hinab, um den Saum ihres Rockes genauer zu begutachten, wohl in der Hoffnung, dabei einen Blick darunter zu erhaschen. Gleichzeitig sah Louise über seine Schulter hinweg eindringlich Karl an. Mehrfach fuhr sie mit dem Handrücken durch die Luft, als verscheuche sie eine Fliege. Sicher sollte er den Moment nutzen und sich verstecken. Doch er wollte keine Fliege sein.
Hamo säuselte irgendetwas und rückte Louise dabei immer mehr auf den Pelz. Karl drehte es den Magen um vor Wut. Wie sehr er diesen widerlichen französischen Hohlkopf von einem Zollbeamten verabscheute.
In diesem Moment tauchte der Beamte mit dem Schnäuzer schnaufend hinter ihm auf und zeigte schreiend in Karls Richtung.
Endlich erwachte Karl aus seiner Erstarrung und rannte, so schnell er konnte, zwischen die Marktstände und dann hinein in die engen und dunklen Gassen Hamburgs.
10. Kapitel
„Hast du alles, was du brauchst?“, fragte Josephine und sah sich suchend im Backhus um, als könnte sie in der ein oder anderen Ecke noch wichtige Habseligkeiten von Onkel Fritz entdecken. Oder, noch besser: einen guten Grund, um ihn doch in dieser Stadt zu halten, in dieser Bäckerei, an Josephines Seite. Die Weihnachtsfeiertage mit ihm waren besonders gemütlich gewesen – und zugleich traurig wegen des bevorstehenden Abschieds. Sie schluckte und kämpfte gegen die Tränen an. Auf keinen Fall wollte sie weinen und es ihm damit noch schwerer machen. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau, sie war verlobt, und sie würde in Fritz’ Abwesenheit die Bäckerei übernehmen. Wer eine solche Verantwortung trug, weinte nicht. Jedenfalls nicht bei Tageslicht, nicht vor dem Onkel.
„Natürlich, Josephine.“Er bemühte sich sichtlich, unbekümmert auszusehen, doch Josephine ahnte, dass er ebenso viele Sorgen hatte wie sie selbst. Sein Gesicht erinnerte sie an diesem Dezembermorgen an eine Mandelmakrone, so bleich und zerfurcht sah es aus. Über die Schulter hatte er einen Beutel geworfen, und neben ihm stand der größte Koffer, den er im Haus hatte finden können. Er ragte ihm bis zur Hüfte.
„Viel wichtiger ist doch die Frage: Hast du alles, was du brauchst?“Er zwinkerte ihr zu, doch er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme rau und brüchig klang. Die Traurigkeit in seinen Augen war nicht zu übersehen.
„Ich habe Mehl für drei Tage, genügend Wasser und Hefe.“
„Außerdem ein wenig Zucker und ein paar Eier“, ergänzte er stolz. Beides hatte er gestern noch für sie ergattert. „Und ich habe den lauten Fiete gebeten, dich, wann immer er kann, mit Zutaten zu versorgen. Er sagte mir, er habe eine gute Quelle.“
Josephine nickte und verkniff sich die Bemerkung, dass auch sie selbst eine gute Quelle hatte. „Außerdem habe ich den Handkarren, mit dem ich meine Einkäufe transportieren kann.“
„Aber das tust du nur, wenn Christian es nicht schafft. Er hat mir versprochen, dass er das für dich übernimmt, sooft er kann. Du brauchst ihm nur jeweils morgens, wenn er die Post bringt, deine Bestellung zu geben.“
Josephine griff nach seiner Hand und lächelte. „Mach dir keine Sorgen, ja? Christian besucht mich hier jeden Tag, und schon in wenigen Wochen heiraten wir.“
An seinem Kehlkopf erkannte sie, dass Onkel Fritz schwer schluckte.
„Und du weißt doch: Die ganze Straße kennt uns. Sie alle werden ein Auge auf mich haben. Wahrscheinlich mehr, als mir lieb ist.“
Fritz breitete die Arme aus. „Na, komm schon her.“Sie seufzte und ließ sich in seine Arme sinken.
„Du bist dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?“
„Vollkommen sicher. Aber ich werde dich schrecklich vermissen.“
„Und ich dich erst, meine Kleine.“
Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7