Mit Marina Abramovic werden Nacktheit, Blut und Schmerz zu Kunst
Sie ist die Hohepriesterin der Performance und setzt todesmutig ihren Körper aufs Spiel: Marina Abramovic kennt keine Prüderie, nur künstlerische Freiheit
Verstohlen schaut sich der Museumsbesucher um. Sein Gesichtsausdruck spiegelt Hilflosigkeit wider, aber auch Unbehagen. Wie nur soll er in den nächsten Saal gelangen? Der Durchgang wird versperrt von einem jungen Paar, das rechts und links im Türrahmen steht und sich regungslos anschaut. Unmöglich an den beiden vorbeizukommen, ohne sie zu streifen. Die zwei sind nackt. Der Besucher atmet tief durch, dann schiebt er sich so schnell es geht zwischen den beiden nackten Leibern hindurch in den nächsten Raum.
Kein Zweifel – auch auf ihrer Retrospektive im Amsterdamer Stedelijk zwingt die serbische Performancekünstlerin Marina Abramovic die Besucher, ihre Grenzen zu verlegen. So wie sie es selbst auch seit nunmehr 50 Jahren tut. „Godmother“der Performance wird die Mitbegründerin dieser Kunstform auch genannt. Abramovic ist es gelungen, sie zum Mainstream zu machen. Dabei ging die inzwischen 77-Jährige immer wieder bis zum Äußersten, um ihr Durchhaltevermögen und ihre Leidensfähigkeit auszuloten. So ließ sie sich für tisch und auch so unentbehrlich sei: „Ein Dialog ist es, ein Energiestrom. Sehen kann man ihn nicht, man muss ihn fühlen.“
Die Amsterdamer Schau, die in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Art in London entstand, führt anhand von Videos, Fotos und Installationen wie ein Rundgang entlang der wichtigsten Arbeiten der Ausnahme-Künstlerin. Vier ihrer Performances werden von jungen Darstellern neu ausgeführt – neben der Radsattel-Performance auch die mit dem nackten Paar in der Türöffnung, „Imponderabilia“heißt sie. Als sie 1977 entstand, waren es noch Abramovic selbst und ihr damaliger Partner Ulay, an denen sich die Besucher vorbeischieben mussten: „Wir wollten als Künstler den Durchgang zur Kunst formen, das fanden wir sehr poetisch.“
Für Puristen ist eine Performance keine Performance mehr, wenn andere als der Künstler, von dem sie konzipiert wurde, sie ausführen. Abramovic sieht das anders: „Ich will meine Kunst an andere Generationen weitergeben, Bach wird auch nicht nur von Bach gespielt, sondern von vielen anderen Pianisten.“ „The House with the Ocean View“(2002) zwölf Tage lang beim Wohnen in einem Apartment zuschauen, das offen wie ein Regal an die Museumswand montiert worden war – ohne Essen, nur mit Wasser. Auch auf die Toilette begab sie sich vor den Augen aller. Für Luminosity (1997) setzte sie sich sechs Stunden lang auf einen ebenfalls an die Wand geschraubten Fahrradsattel und erinnerte an den gekreuzigten Christus – nackt und frei balancierend, mit weit ausgestreckten Armen und Beinen. Wer ihr dabei zuschaute, fühlte die Anspannung unwillkürlich auch in seinem eigenen Körper.
„In solchen Momenten hundertprozentiger Konzentration bist du im Hier und Jetzt und nirgendwo sonst – und das ist für mich der wichtigste Ort von allen“, erklärt die Künstlerin, die es sich nicht nehmen ließ, zur Ausstellungseröffnung aus New York anzureisen. „In solchen Momenten bist du auch so verletzlich, dass du nichts vorspiegeln oder vortäuschen kannst. Du zeigst dein wahres Ich.“Dadurch entstehe jenes essenzielle Band mit dem Publikum, wie es für die Performancekunst so charakteris
An ihrem 2007 gegründeten Marina Abramovic-Institut MAI in New York können sich junge Menschen deshalb mit einem speziellen Entspannungs-, Meditations und Konzentrationstraining dazu ausbilden lassen, die Performances der „Godmother“und die damit verbundenen Strapazen und Grenzerfahrungen zu durchstehen. 27 von ihnen sind auf der Stedelijk-Schau im Einsatz. Allerdings verlangt ihnen die Meisterin weitaus weniger ab als sich selbst in jungen Jahren: „Auf dem Radsattel brauchen sie es nur 30 Minuten statt wie ich damals sechs Stunden auszuhalten.“
Säge, Hammer, Rasierklingen, Messer, Pistole
Aber, räumt sie ein, selbst sei sie in ihren Anfangsjahren auch extrem „wild, böse und verrückt“gewesen. Immer wieder habe sie als Heranwachsende im kommunistischen Jugoslawien den Aufstand geprobt – zur Verzweiflung ihrer Lehrer und auch ihrer Eltern, beide Tito-Partisanen: „Alles im Kommunismus war verboten, alles! Ich war immer das schwarze Schaf.“
Bereits auf der Kunstakademie in Belgrad entdeckt sie, dass sie ihren Körper als Instrument für ihre Kunst einsetzen will. 1974, mit 27, konzipiert sie „Rhythm 0“, eine ihrer ersten und extremsten Performances: Sie stellt sich an einen Tisch mit 72 Gegenständen – Säge, Hammer, Rasierklingen, Messer, Pistole samt Kugel – und liefert sich sechs Stunden lang den Besuchern aus. Die können sich an ihrem Körper abreagieren und werden im Laufe der sechs Stunden immer aggressiver: Zunächst zerschneiden sie nur die Kleider der Künstlerin, dann ritzen sie blutige Spuren in ihre Haut, zum Schluss hält ihr jemand die geladene Pistole an die Schläfe.
Ein Jahr später zieht Abramovic um nach Amsterdam, die Stadt, in der im Hippiezeitalter nichts verboten ist. Das nimmt ihr zunächst den Wind aus den Segeln, sie ist es gewohnt zu provozieren und zu rebellieren. „Aber hier war alles erlaubt und Nacktsein völlig normal.“Sie versteht die Welt nicht mehr, dann geht eine neue für sie auf: „Ich war im Paradies gelandet.“
Eine spektakuläre Kakophonie
In Amsterdam lernt sie auch ihre große Liebe kennen, den deutschen Künstler Frank Uwe Laysiepen (1943 bis 2020), kurz Ulay genannt. Es klickt sofort. Fortan loten sie gemeinsam die Grenzen ihrer Körper aus, rennen aufeinander zu, ohne abzubremsen, sodass sie mit voller Wucht aufeinanderprallen. Brüllen sich an, so laut es nur geht. Geben sich 20 Minuten lang Ohrfeigen – nicht, um sich wehzutun, sondern um den Klang der Schläge zu erkunden.
Diese Performances sind als Videos im zentralen Ausstellungssaal zu sehen: Er wurde in ein Labyrinth aus riesigen Bildschirmen verwandelt, auf denen gestöhnt, geschlagen und geschrien wird – eine spektakuläre Kakophonie. Auch ein Video von Rest Energy wird hier gezeigt, eine Performance, die symbolisch geworden ist für die Beziehung des Künstlerduos: Er steht mit gespanntem Bogen vor ihr, den Pfeil auf ihr Herz gerichtet, sie hält den Bogen fest und vertraut ihm. Beide lassen sich nach hinten fallen, sodass die Spannung immer größer wird. Er weiß: Hält er dieser Kraftanstrengung nicht stand, bezahlt sie das mit ihrem Leben.
Als die Beziehung nach 13 Jahren zerbricht, setzt Abramovic ihre Solokarriere fort. Auf der Biennale in Venedig 1997 setzt sie sich vier Tage lang in einem weißen Kleid auf einen riesigen Haufen blutiger Rinderknochen und versucht, sie mit einer Bürste sauber zu schrubben, während ihr Kleid sich langsam rot färbt. Dazu singt sie jugoslawische Volkslieder. „Balkan Baroque“heißt diese Arbeit, mit der sie zwei Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica den immer noch wütenden Krieg im auseinanderfallenden Jugoslawien kommentiert. Sie erhält dafür den Goldenen Löwen. Das Stedelijk zeigt das Werk als Installation aus Videoschirmen und Requisiten – immer noch extrem ausdrucksstark, auch wenn es keine Performance mehr ist.
2010 wird Abramovic mit „The Artist is present“zum Weltstar: 75 Tage lang setzt sie sich im MoMA morgens an einen Tisch und hält sieben Stunden lang, ohne Essen und Trinken und auch ohne auf die Toilette zu gehen, dem Blick der Besucher stand, die sich, einer nach dem anderen, ihr gegenüber setzen. Die Menschen stehen Schlange, um der Künstlerin in die Augen zu schauen, darunter Lou Reed, Lady Gaga, Björk, Sharon Stone und Isabelle Rossellini. Berührende Momente entstehen, es kommt zu heftigen emotionalen Momenten, die vom menschlichen Grundbedürfnis nach Verbundenheit zeugen. Einmal kann auch die Künstlerin die Tränen nicht zurückhalten – als unerwartet Ulay, ihr Seelenverwandter aus Amsterdamer Zeiten, am anderen Ende des Tisches Platz nimmt. Auch diese Performance konnten die Kuratoren gelungen umsetzen anhand von zwei mit Monitoren übersäten Wänden: auf der einen Wand ist das Gesicht der Künstlerin zu sehen, auf der anderen das der Menschen, die ihr gegenüber saßen.
„The artist is present“markiert einen Wendepunkt in Abramovics Schaffen: Aus der bisher rein körperlichen Kraftanstrengung ist eine mentale geworden. Die Werke, die folgen, sind stiller, spiritueller, inspiriert von den Ritualen der Aboriginals oder tibetanischer Mönche. Sie sei softer geworden, heißt es deshalb oft. „Unsinn!“entrüstet sie sich. „Setzen Sie sich mal acht Stunden reglos auf einen Stuhl!“Es sei weitaus schwieriger, seine psychischen als seine physischen Grenzen zu verlegen. „Während der Performance im MoMA war ich 64. Mit 30 oder 40 hätte ich das nicht gekonnt – mir hätte es an Willenskraft, Konzentrationsvermögen und Weisheit gefehlt!“
Da der Austellungsparcours chronologisch aufgebaut ist, kann der Besucher diese Entwicklungen sehr gut nachvollziehen. Löblich auch, dass die Kuratoren es nicht dabei beließen, Abramovics Schlüsselwerke nur als Videos oder nachgebaute Installationen zu zeigen. So gut das auch gelungen sein mag: Es hätte der Schau einen stark dokumentierenden Charakter verliehen. So jedoch sorgen die jungen Darsteller mit ihren Re-Performances dafür, dass es eine live art-Schau geworden ist, sprich: eine, die der „Grand Old Lady der Performance“gerecht wird.
Was anno 2024 allerdings nicht ohne strenge Auflagen und Verbote ging. So dürfen die Darsteller nicht fotografiert oder angefasst werden. „Die Zeiten haben sich geändert, Nacktsein ist nicht mehr normal!“klagt Abramovic. Politische Korrektheit und eine neue Prüderie würden die künstlerische Freiheit zunehmend einschränken. Bei der Re-Performance von „Imponderabilia“musste sie sich deshalb auf einen Kompromiss einlassen: Für alle, denen es widerstrebt, sich zwischen zwei nackten Körpern hindurchzuschieben, wurde ein zweiter Durchgang geschaffen. „Besser als ganz auf die Performance zu verzichten“, seufzt sie. Und hat recht.
Bis zum 14. Juli im Stedelijk , Museumplein 10, Amsterdam, täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet.