Grausige Flucht
Bis in die 1980er Jahre war der Bürgerkrieg ein Tabuthema – Wie haben die Malagueños diese Zeit erlebt? – Eine Innenansicht
Die Massenflucht von 300.000 Zivilisten von Málaga nach Almería ist in die Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs eingegangen. Bis zu 5.000 Personen kamen dabei ums Leben, viele wurden entlang des Wegs, an der heutigen Nationalstraße N-340, verscharrt. Der Historiker Francisco Arcas Cubero hat Zeitzeugen interviewt.
Mit 24 hatte Francisca Lara eine Glatze. Unfreiwillig – Francos Schergen hatten ihr wallendes Haar zur Strafe abgeschnitten. 1937 war es gefährlich, auf der falschen Seite zu stehen. Lara war Schneiderin im Örtchen Villanueva de Tapia in der Provinz Málaga und hatte eine Fahne für die anarchistische Gewerkschaft CNT genäht. Sie ist eine von rund 200 Personen im Alter zwischen 80 und 104 Jahren, die der Historiker Francisco Arcas Cubero im Jahr 2006 interviewt hat. Daraus sind das Buch „Yo estaba allí“(dt.: Ich war dabei) sowie der gleichnamige Dokumentarfilm entstanden.
„Einige können bis heute nicht über ihre Erlebnisse sprechen, da sie in einer kleinen Dorfgemeinschaft leben und Angst davor haben, von den Nachbarn gemieden zu werden“, sagt Arcas Cubero. Am 9. Februar hat er den Film im Rathaus von La Cala de Mijas gezeigt. Die Journalistenvereinigung Costa Press Club hatte den Film- abend mit anschließender Diskussionsrunde organisiert. Ein passendes Datum, denn am 8. Februar jährte sich zum 80. Mal die Massenflucht der Zivilbevölkerung aus Málaga. Bis zu 300.000 Personen waren ab jenem Tag im Februar 1937 auf der N-340 Richtung Almería unterwegs.
Während der Zweiten Spanischen Republik (1931 bis 1939) galt Málaga als eine Hochburg der Arbeiterbewegung, insbesondere der Gewerkschaft CNT und der Partido Comunista de España. Cayetano Bolívar von der Partido Comunista de España war aus den Wahlen vom Februar 1936 als erster kommunistischer Abgeordneter der Provinz in der Geschichte hervorgegangen.
Starke Bürgerwehr
Deshalb wurde die Provinzhauptstadt als „Málaga la Roja“(dt.: Málaga, die Rote) betitelt. Die Gesellschaft war wegen der starken sozialen Unterschiede tief gespalten. Málaga war geprägt von politischen Gewaltakten, auch Konvente wurden in Brand gesteckt.
Vor dem Einmarsch Francos zerstörte die Bürgerwehr Málagas Stadtteil La Caleta, wo damals Familien der Bourgeoisie lebten. Nach dem Militäraufstand vom 18. Juli 1936 gegen die Republik blieben Málaga wie auch weite Teile der Provinz aufgrund der starken Bürgerwehr der Arbeiter unter republikanischer Kontrolle. Málaga war damals in der Hand des Ejército Popular Republicano (dt.: Volksarmee). Die Volksarmee wurde per offiziellem Dekret der spanischen Volksfrontregierung vom 16. Oktober 1936 gebildet.
In die Geschichte ging der Exodus von Málaga nach Almería als „Masacre de la Carretera MálagaAlmería“(dt.: Massaker auf der Straße von Málaga nach Almería) ein. Im Volksmund wird die jähe Flucht auch als Desbandá (dt.: wilde Flucht) bezeichnet. Viele Malagueños hörten am Abend des 7. Februar im Radio, wie Francos General Queipo de Llano ankündigte, am darauffolgenden Tag bereits in der Calle Larios in Málaga Kaffee trinken zu wollen. Und tatsächlich nahmen Francos Truppen am 8. Februar 1937 Málaga in Beschlag.
Die Flüchtenden zog es daraufhin Richtung Almería, weil sie dachten, dort vor den Franquisten sicher zu sein. Außerdem war es einfacher, von dort aus zur französischen Grenze zu gelangen. Auf ihrer Flucht wurden die Malagueños von den von Norden einfallenden italienischen Truppen und jenen von General Borbón, einem Cousin von Alfonso XIII, aus dem Westen sowie vom Meer aus von
der spanischen Flotte angegriffen. Auch die deutsche Legion Condor attackierte die Flüchtenden aus der Luft. Aus dem Norden drangen die als Camisas Negras (dt.: Schwarzhemden) bezeichneten italienischen Truppen mit etwa 10.000 Mann ein. Die Bürgerwehr der Republikaner war mit rund 12.000 Mann und nur 8.000 Gewehren, wenig Munition und Artillerie stark unterlegen.
Verscharrt am Wegesrand
Jüngsten Forschungen zufolge kamen zwischen 3.000 und 5.000 Personen bei dem Exodus gen Almería ums Leben. Viele Überlebende wissen bis heute nicht, wo ihre Familienangehörigen vergraben sind, die meisten Getöteten wurden notdürftig am Wegesrand verscharrt. Viele Dorfbewohner weigerten sich, den vorbeiziehenden hungrigen und durstigen Flüchtlingen zu helfen, aus Angst vor den Repressionen des FrancoRegimes und dessen Verbündeten.
1937 gab es in der Provinz Málaga nur eine Handvoll Medien. Fotos und Berichte aus dieser Zeit sind deshalb rar. Der Dokumentarfilm „Yo estaba allí“zeigt Schwarz-Weiß-Fotos von Hazen Sise, einem Assistenten des kanadischen Arztes Norman Bethune. Darauf sind Mütter mit Säuglingen im Arm, Männer mit Bündeln über der Schulter und schwer bepackte Maultiere zu sehen. Bethune versorgte die Verwundeten mit seinem mobilen Bluttransfusionsgerät und einem kleinen kanadischen Ambulanzwagen entlang des Fluchtwegs, gab Bluttransfusionen, führte Amputationen durch und linderte Schmerzen.
Bis dahin größter Exodus
Bethune schildert seine Eindrücke in der Erzählung „El crimen de la carretera Málaga-Almería“(dt.: Das Verbrechen auf der Straße Málaga-Almería). Bis zu 300.000 Personen, vorwiegend aus der gesamten Provinz Málaga, aber auch aus anderen andalusischen Provinzen, zogen damals gen Almería. Bis zum Balkankonflikt, der von 1991 bis 2001 dauerte, war dies der größte Exodus in Europa. Beim Bombenangriff der deutschen Legion Condor auf Guernica am 26. April 1937 starben 200 Menschen. Er wurde zum Inbegriff der Kriegsbarbarei. Picassos Gemälde Guernica aus dem Jahr 1937 wurde gar zum Mahnmal gegen den Krieg. Der Historiker Fernando Arcas Cubero weist darauf hin, dass das Massaker von Málaga bis in die 1980er Jahre nicht wissenschaftlich behandelt worden sei. Davor sei darüber höchstens hinter verschlossenen Türen und im engsten Familienkreis geredet worden. In diesen Kreis ist Arcas Cubero behutsam eingedrungen, um den letzten Überlebenden des Spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939) die Möglichkeit zu geben, ihr Schweigen zu brechen. Der Geschichtsprofessor an der Universität Málaga beziffert die Zahl der in Málaga Erschossenen auf mehr als 4.100. Sie wurden in Massengräbern auf dem Friedhof San Rafael in Málaga vergraben.
Im Film kommen Zeitzeugen beider Seiten zu Wort. Da ist zum einen José Atencia García aus Málaga, der erzählt, dass seine gesamte Familie Monarchisten gewesen seien und der Partei Ceda (Confederación Española de Derechas Autónomas) von José María Robles angehört hätten. Keiner von ihnen sei jedoch politisch gewesen, weshalb sie den Bürgerkrieg unbeschadet überstanden hätten.
Mit bebender Stimme berichtet María Reyes García, dass ihr Vater Republikaner gewesen sei und im Esszimmer Bilder des als Helden der Republikaner gefeierten Legionärs Fermín Galán und des Hauptmanns Ángel García Hernández gehangen hätten. Beide wurden 1930 zum Tode verurteilt und galten fortan in den Augen der Republikaner als Märtyrer. Reyes Garcías Vater hatte die Fotos in Bilderrahmen in den republikanischen Farben rot, gelb und violett eingerahmt. Als Francos Truppen die Stadt belagerten, habe ihr Vater die Bilder zerstört und verbrannt. Auch ihre Großmutter habe alle politischen Bücher im Haus verbrannt. „In Málaga gibt es in der Kathedrale eine riesige Gedenktafel, die an die Opfer aus den Reihen des Franco-Regimes erinnern. Auf dem Friedhof San Rafael erinnert ein Monument an die ums Leben gekommenen Republikaner“, sagt der Historiker Fernando Arcas Cubero.
Erinnerungen wachgerufen
Stark geprägt hätten ihn die Gespräche mit den Malagueños, die Massenerschießungen miterlebt und unter den Repressionen gelitten hatten. Schwer wiegen die Erinnerungen noch heute. Während der Gespräche habe er Erinnerungen wachgerufen, so der Historiker, die lange Zeit schlummerten. Bei einigen mögen die Gespräche Erleichterung geschaffen haben, andere weigerten sich zu sprechen, sagt Arcas Cubero. Wieder andere gaben nur Ausschnitte preis, denn sie wollten nicht darüber reden, dass sie im Herzen Kommunisten waren, aber von Francos Leuten dazu genötigt wurden, Personen aus den eigenen Reihen zu erschießen. Ab und zu hörte der Historiker nach einem Moment des Schweigens: „Ich wurde dazu gezwungen, diese Dinge zu tun.“
„Yo estaba allí“: Buch mit der DVD des Dokumentarfilms auf Spanisch mit englischen Untertiteln. Zweite Auflage Málaga, 2016, 18,50 Euro, ISBN: 978-8416626-22-9