Schlucht für Misanthropen
Einsames Barranco de Malafí in Tollos ist Empfehlung für Wanderer, die Menschenmassen in den Bergen entfliehen wollen
Wenn Alicante zwei Seelen besitzt – eine maritim-touristische, und die andere, bergig und verlassen – dann ist Tollos für die zweite, was Benidorm für die erste bedeutet: Symbol und Nemesis. Von allen Orten der Provinz mit eigener Verwaltung gibt es keinen menschenleereren als Tollos. Es pfeift ein eisiger Wind im Einwohnerregister eines Dorfes, das vor Urzeiten, im Jahr 1860, 354 Einwohner zählte, und heute 53. Mit mehr Personen in den Achtzigern als Kinder und Jugendliche wird seine unmittelbare Zukunft wohl weiter einsam sein.
Name von düsterer Bedeutung
Zwei Kilometer vom Ortskern entfernt – hier gibt es keine Peripherie – in einem stillen Winkel dieses Paradieses für Misanthropen, beginnt die Wanderroute durch das Barranco de Malafí, zu Deutsch „Schlucht des bösen Endes“. Name von düsterer Bedeutung und poetischem Klang. Glücklicherweise wurden die Namen für Flüsse, Schluchten, Berge und Dörfer vor Jahrhunderten gewählt. Müsste man es heute tun, würde es reichen, ein paar gefaltete Zettel mit den Wörtern „sol“, „mar“, „vista“, „horizonte“und „bello“zusammenzusetzen, um vielfältige Kombinationen zu erfinden, mit denen die Urbanisationen der Küste süß in unseren Ohren klingen.
Der Weg des Barranco de Malafí (er startet am PR-V 168) führt vorbei an alten Viehställen, die heute verlassen sind. Mauern, in deren Innern vertrocknete Schichten aus Schafs- und Ziegenkötteln den ursprünglichen Boden um 30 Zentimeter erhöht haben. Trotz des Aussterbens der Berufe bleiben die Gerüche. Der des Dungs, der des Wachses aus den leeren Bienenstöcken, der blühenden Mandelbäume, die niemand mehr pflegt.
Zwei Kalksteinausläufer markieren wie zwei riesige, versteinerte Haifischflossen das Ende des freien Geländes und öffnen das Tor zur eingezwängten Schlucht, eine Narbe am Fuß der Sierra de Alfaro. Der Klang vervielfältigt sich und der Wanderer hat das Gefühl, in einen gewaltigen Resonanzkörper einzutreten. Der verzerrte und traurige Schrei eines Esels klingt, als ob das Tier einen bemitleidet. Das Krächzen eines Krähenschwarms lebt als Echo weiter, das ausgelassen an den hohen Felswänden abprallt.
Grabhügel aus Kieselsteinen
Die grauen Wolken filtern das Sonnenlicht und plötzlich nimmt alles in der Schlucht eine unheilvolle Tönung an. Ein kleiner Grabhügel aus Kieselsteinen markiert einen Zenotaphen – ein Grab ohne Leichnam, aber mit Fotografie – eines europäischen Residenten. Unmöglich herauszufinden, ob er hier starb oder einfach diesen Ort liebte.
Häufig ist der Wanderweg identisch mit dem Flussbett, gepflastert mit weißlichen und abgeschliffenen Steinen, abgewaschen von der Furie einer reißenden Strömung, die während des erbarmungslosen Januarsturms Gestrüpp und Büsche kämmte und sie in eine einzige Richtung gebogen hat: die des Meeres. Das Flussbett führt weiter, in Kurven, wenn das natürliche Amphitheater es dazu zwingt, mit blendenden Lichtreflexen, wenn die Sonne wieder herauskommt. Violette Flechten besprenkeln die Felsen, als ob jemand eine riesige Weinflasche zerbrochen hätte.
Nach oben hin durchbrechen orange gefärbte Felshänge die graue Monotonie der Kalkmasse und hängende Höhlen verstecken den Eingang zu ihrem schwarzen Schlund hinter einem Vorhang aus wildem Efeu. Schon länger untersucht die Archäoakustik Orte wie diesen, sucht eine Verbindung zwischen den für prähistorische Felsmalereien gewählten Höhlen und der Akustik ihrer Umgebung, als ob der Klang Teil der für Versammlungen, Zeremonien und Rituale notwendigen Magie war.
Nach zweistündigem, gemächlichem Marsch rechtfertigt dieses Juwel hydrogeologischen Naturerbes seinen Namen und endet am Pla de Petracos. Ein Ort, an dem es für die Morisken in der Tat ein böses Ende nahm.