Wahrsagung und Orakel
Über die Künste, in die Zukunft schauen zu können
Schon so lange es Menschen gibt, existiert auch der Wunsch, in die Zukunft schauen zu können. Und in allen Zeiten haben die Völker ihre ganze Erfindungsgabe darangesetzt, die Zukunft zu zwingen, diesbezügliche Fragen zu beantworten. Die Zukunft ihrerseits hat offenbar Spaß daran gehabt, wenigstens teilweise die Fragen der Menschen nach ihren Vorstellungen zu beantworten.
Was versteht man nun unter Wahrsagen, unter Weissagung oder unter einem Orakel?
Wahrsagen ist eine Sammelbezeichnung für die auf außersinnlicher Wahrnehmung beruhende Fähigkeit, Aussagen über verborgene, gegenwärtige oder zukünftige Ereignisse, Zusammenhänge oder Lebensumstände zu machen.
Die Weissagung dagegen ist die Prophezeiung zukünftiger Ereignisse, gleichzeitig aber auch die Deutung gegenwärtiger Situationen.
Orakel heißt jener Brauch, bei dem ein Ereignis vom menschlichen Willen nicht beeinflusst werden kann und das als Zeichen oder Antwort aufgefasst wird, um damit eine nicht geklärte Angelegenheit zu entscheiden oder noch zu erwartende Zusammenhänge von Ereignissen zu enthüllen, damit man sich in seinem Verhalten darauf einstellen kann.
Die Orakel in Indien
Dass sich auch in Indien wie überall auf der Welt die Orakelkunst ausbreitete, beweist die uralte Weissagungskunst der Inder. So beinhaltet zum Beispiel die WEDA, die älteste Literatur Indiens (1200 bis 600 v. Chr.) eine ganze Menge von Zukunftsoffenbarungen. Auch aus dem Gliederzucken des menschlichen Körpers wurde seinerzeit die Zukunft gedeutet. Indische Astronomen und Astrologen des Altertums erlangten großen Weltruhm und hinterließen Schriften, die fremde Kulturen wesentlich beeinflusst haben.
Auch die Weissagung durch magische Spiegel kommt aus dem alten Indien. Um einen solchen Spiegel selbst herzustellen nimmt man das Blatt eines Baumes und bringt es dadurch zum Glänzen, indem man es mit Schmalz einfettet. Heftet man dieses Blatt nun an die Wand und starrt für eine Weile darauf, soll sich nach einiger Zeit das Gewünschte darin spiegeln.
Dies war übrigens die Vorstufe zur späteren Kristallschau, bei der die Seherin auf eine spiegelnde Kristallfläche schaut und dabei in (echte oder vorgetäuschte) hellseherische Ekstase gerät.
Die griechischen Orakel
In Griechenland gehörte das Wahrsagen zur Staatsreligion. Allerdings lehnten die Hellenen die phantasievollen orientalischen Methoden ab. Auch von der Astrologie hielten sie lange Zeit nichts. Die größte Bedeutung hatten seinerzeit natürlich die Orakel, die für öffentliche Angelegenheiten in Anspruch genommen wurden und an denen das ganze Volk teilnehmen durfte.
Das bekannteste Orakel, das mit lautem Geräusch verbunden war, war das Orakel des Zeus von Dodona in Ephesus. Hier wurde aus dem Rauschen einer heiligen Eiche und aus dem Sprudeln einer Quelle, die am Fuße des Baumes entsprang, geweissagt. Später benutzte man dann für diese Weissagung ein Bronzebecken, bei dem der Wind eine Kette an den Rand schlug, die den Kessel zum Klingen brachte.
Das berühmteste Orakel seiner- zeit war jedoch ohne Zweifel das Orakel des Apollo zu Delphi. Dabei saßen die Priesterinnen auf einem Schemel direkt über einem Krater, aus dem Schwefelwasserstoff aufstieg, das „Gas des Apollo“. Aus den Lauten, die die Frauen in ihrem halb betäubten und halb erstickten Zustand ausstießen, formten die Priester dann nach ihrem Gutdünken die Antworten. Die Orakel waren meistens so zweideutig ausgeklügelt, dass sie durch spätere Ereignisse fast nie widerlegt werden konnten.
Sie drei ausgewählten Jungfrauen haben ihr Amt übrigens durchaus nicht freiwillig verrichtet, und so manche kam dabei ums Leben.
Der heilige Stier Apis
Die Weissagungen der Ägypter stützten sich hauptsächlich auf die Astrologie. Wie in vielen anderen Kulturen oblag auch hier die Ausübung aller okkulten Künste den Priestern. Ihre Kenntnisse hielten sie jeweils geheim. Horoskope berechneten sie nach der Stellung der Planeten und der Tierkreiszeichen. Besonders bekannt und berühmt war das ägyptische Traumorakel der Göttin Isis. In den Tempeln von Memphis und Busiris wurde im sogenannten Traumschlaf den Kranken einsuggeriert, was sie zu tun hatten, um wieder gesund zu werden.
Die Weissagungen des heiligen Stiers Apis waren fast ebenso berühmt wie das Orakel von Delphi. Nachdem die Fragenden dem Stier Speisen dargeboten hatten, deuteten die Priester aus dem Verhalten des Tieres, was die Zukunft bringen würde. Leicht war dabei, Krankheiten vorauszusagen, weil die Tiere den Geruch kranker Menschen nicht mögen und geradezu einen Widerwillen gegen diese Menschen zutage legen.
Die Bibel und ihre Orakel
Die Hebräer beherrschten die Traumdeutung meisterhaft. Dafür gibt es in der Bibel zahlreiche Beispiele. Die hebräischen Zauberer genossen ein ganz besonderes Ansehen und wurden noch bis weit ins Mittelalter hinein zu schwierigen okkulten Sitzungen und Voraussagen herangezogen.
Auch die Beschwörung der Toten war den Hebräern nicht fremd. So kann man in der Bibel die Legende über die Hexe von Endor nachlesen (1. Sam. 28, 7-25), die auf Wunsch König Sauls den Geist Samuels beschwor.
Wahrsager lebten gefährlich
In der Bibel, im Alten Testament, kann man nachlesen, wie gefährlich Wahrsager, Weissager, Traumdeuter und Magier einst leb- ten. So steht in der Bibel im fünften Buch Moses folgender Passus:
„Der Prophet oder Traumseher soll mit dem Tode bestraft werden.“
Wer Dantes ‚Göttliche Komödie‘ gelesen hat wird sich vielleicht daran erinnern, dass alle Wahrsager und Magier in die Hölle verbannt wurden und dort fortan mit zurückgewendetem Kopf umherwandern mussten, weil ihnen der Blick geradeaus verwehrt war, um nicht mehr in die Zukunft schauen zu können.
Unter dem römischen Kaiser Konstantin (285 bis 337 n. Chr.) wurden alle Astrologen rigoros mit dem Tode bestraft.
In Mittelalter ging es dann ganz grausam zu. Da waren es hauptsächlich die Frauen, die die Kunst des Wahrsagens ausübten. Die Inquisition machte mit ihnen kurzen Prozess. Sie wurden als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Stagnation und Wiederbelebung
Im 19. Jahrhundert verschwand das Wahrsage- bzw. Orakelwesen fast ganz von der Bildfläche. Heute hat sich die Wahrsagekunst jedoch längst wieder von ihrem Niedergang erholt. Und mehr denn je sind auch heute noch bzw. wieder die Menschen an einer Zukunftsdeutung interessiert. Sie lassen sich Horoskope erstellen, die Karten legen, sie lassen sich aus der Hand lesen und sich die Zukunft sogar aus dem Kaffeesatz deuten.
Auch das Pendeln mit einem Edel- oder Halbedelstein wird oft praktiziert. Fast alle großen Philosophen der früheren alten Zeit haben sich mit Weissagungen und Orakeln beschäftigt. Früher war die Magie Wissenschaft und Kunst zugleich.
Man kann sagen, dass sich aus der rationalen Seite der Magie die Naturwissenschaften erst entwickelt haben. Die Wissenschaftler von früher waren nämlich zu ihrer Zeit gleichzeitig auch Magier. Für einen Wissenschaftler der heutigen Zeit mag das vielleicht nur schwer zu verstehen und kaum noch nachvollziehbar sein.
Denn unsere heutigen Wissenschaftler haben sich höchstwahrscheinlich in der Zwischenzeit so weit von der Magie entfernt, dass sich die meisten von ihnen diese nichtrationale Seite wohl kaum mehr vorstellen können.