„Kein Tropfen, der verdampft“
Mit der Spendeninitiative Pradip unterstützt eine deutsche Lehrerin von Alicante aus indische Straßenkinder in Kalkutta
Anja Fischer hat vor über 20 Jahren „Pradip – Partner Eine Welt“gegründet, eine ehrenamtliche Spendeninitiative, die Entwicklungsprojekte im Raum Kalkutta finanziert. Fischer kommt aus Simbach am Inn, ist 43 Jahre alt und seit 2016 im Auslandsschuldienst Lehrerin für Deutsch und Geografie an der Europäischen Schule Alicante. Sie war schon als Teenager aktiv in der evangelischen Jugendarbeit und hat sich für Entwicklungshilfe interessiert.
Während ihres Studiums in Regensburg kam sie zum ersten Mal nach Indien. Sie begann, für behinderte Straßenkinder Patenschaften zu suchen. Als Spendenkonto konnten sie das der evangelischen Kirche Simbach nutzen. Das ist bis heute so, nur, dass die Initiative mit den Jahren gewaltig gewachsen ist. Inzwischen unterstützt Pra- dip eine ganze Reihe von Projekten zusammen mit der indischen Women’s Interlink Foundation (WIF) und anderen Nichtregierungsorganisationen. Anja Fischer hat für ihren Einsatz die Bundesverdienstmedaille der BRD erhalten. Auf die Frage, wieso Medaille, wieso nicht Kreuz, antwortet sie lachend: „Ich war da noch unter 40, da gibt’s kein Kreuz.“
Indien, das sollte man sich vor Augen rufen, ist ein riesiges Land: 3,3 Millionen Quadratkilometer groß, 1,2 Milliarden Einwohner. Der europäische Kontinent ist dreimal so groß, hat aber mit 740 Millionen nur halb so viele Einwohner. Indien ist ein Land schockierend großer sozialer Unterschiede, „auch in Indien kann man viel Geld ausgeben“, sagt Fischer. Ruhig und ihre Worte gezielt setzend, erzählt sie von Pradip und ihrem Einsatz. Keine Vorwürfe an die verschwenderische Wohlstandsgesellschaft, aber klare Worte an die EU in Sachen Flüchtlingspolitik.
Eines dieser schwerbehinderten Kinder, das sie auf ihrer ersten Reise in Kalkutta kennengelernt hat, war der Junge Pradip. Er hat die Glasknochenkrankheit. Fischer konnte ihm einen Platz in einem katholischen Heim organisieren und finanzieren. Heute ist er ein junger Mann, der selbst etwas Geld verdient, indem er Kerzen macht. Trotz seiner schweren Krankheit war er immer fröhlich und ist voller Hoffnung. Das hat Anja Fischer so beeindruckt, dass sie ihre Spendeninitiative nach ihm benannt hat. Er stehe stellvertretend für die vielen Menschen, denen es nicht gut geht und die nicht aufgeben, sagt sie.
Ein anderer Fall ist Rajkumar Mondal. Seine Eltern verkaufen Tee in einem Büdchen am Straßenrand. Der Junge hilft ihnen, ist aber auch, dank Fischers Initiative, zur Schule gegangen und macht gerade sein Abitur. Er will Polizist werden und seinen Eltern ein festes Dach über dem Kopf ermöglichen. Sein größter Traum: ein Raum für sie.
Schulunterricht ist nach der Behinderteninitiative und Gesundheitsprojekten ein ganz wichtiges Standbein von Pradip. Das vierte ist Hilfe für Opfer von Menschenhandel, etwa Kinderprostitution. Pradip kümmert sich um die Töchter und Söhne der Frauen, die als Prostituierte in kleinen Kammern leben und arbeiten. Die Kinder werden mit Schlaftabletten betäubt und liegen unterm Bett. Die Mädchen sind schon ab acht Jahren in Gefahr, von Zuhältern ausgebeutet oder verkauft zu werden. Das Zentrum, das Pradip unterstützt, gibt ihnen einen Raum, in dem sie in Sicherheit lernen und spielen können, wenn ihre Mütter arbeiten.
Je nach Projekt ist es ein Raum in einem Jugendzentrum, eine Hüt- te oder ein kleiner Tempel, den Pradip mietet, damit die Kinder von der Straße wegkommen und etwas lernen können. Ehemalige Schüler, wie Rajkumar, helfen ihnen bei den Schulaufgaben. Die Lehrerinnen kommen aus dem Viertel, in dem sie unterrichten. Sie kennen die Umstände und die Leute. Das ist wichtig, um Vertrauen zu schaffen. Sie sind keine Hochschulabsolventen. Sie haben einen Schulabschluss und eine Ausbildung als Straßenschullehrer.
Was hat sich in den 20 Jahren, die Fischer mit Pradip-Projekten hilft, verändert? „Früher mussten alle Kinder arbeiten“, erzählt sie. Jetzt dürfen sie in die Schule. „Früher mussten wir die Eltern mühsam überzeugen, dass Lesenund Schreibenlernen den Kindern mehr Möglichkeiten bietet. Dass sie mehr Chancen haben auf einen besseren Job, wenn sie sich waschen und lernen, gegenüber Arbeitgebern aufzutreten. Zuerst ha-
„Es ist eine Pflicht, Menschen in Not zu helfen“, so Fischer
ben sie gearbeitet und ein bisschen Unterricht erhalten. Jetzt schicken die ihre Kinder von selbst.“, so Fischer. Das ökonomische Argument, sie können nicht in die Schule, weil sie Geld verdienen müssen, ist entkräftet. Langfristig können sie viel mehr erwarten und die Eltern besser unterstützen.
Manche der ehemaligen Schüler sind inzwischen selbst Lehrer und unterstützen die ärmsten Kinder, damit diese auf der Schule bleiben können. „Wir klären die Kinder über ihre Rechte auf. Denen, die noch arbeiten müssen, haben wir helfen können, indem wir ihre Bedingungen verbesserten. Anderen helfen wir beim Studium“, sagt Fischer.
Was sich noch verändert hat? Die Polizei schützt die Kinder inzwischen mehr. Sie merkt, dass das zur Kriminalitätsprävention nützlich ist. Die Kinder wiederum suchen Schutz bei ihr, wenn sie von Menschenhändlern verfolgt werden. Die Nabadisha-Zentren, in denen Straßenkinder Hausaufgaben machen können, werden sogar von der örtlichen Polizei zur Verfügung gestellt. Fischers Aufgabe ist es, Menschen zu gewinnen, die helfen wollen. Die Sozialarbeiter und Lehrer in Indien müssen bezahlt werden, die Hausmütter, die sich um die Kinder in den Zentren kümmern. Die einzelnen Projekte, die Pradip unterstützt und die von WIF oder anderen Partnern durchgeführt werden, reichen vom Ankauf von Schulmöbeln bis zur Übernahme von Heimkosten. Bei manchen vom Staat unzureichend finanzierten Projekten schießt Pradip zu, was fehlt.
Die Kosten und Posten sind ausführlich in den Jahresberichten auf der Webseite aufgeführt. Für 2017/2018 liegen die Ausgaben bei 135.000 Euro. Einmal im Jahr, Fischer hat selbst zwei kleine Kinder, fliegt sie nach Kalkutta, um die Finanzierung zu besprechen und vor Ort die Heimleiter, Sozialarbeiter, Lehrerinnen und Freunde zu treffen.
Ob sie in Alicante unterstützt wird? Die Europäische Schule sei sehr offen, erzählt sie. Ein Solidaritätskomitee organisiert einen Flohmarkt und ein Tennisturnier zugunsten von Pradip. Mehrere Lehrerinnen haben sie nach Kalkutta begleitet. Sie führen Schulprojekte durch, bei denen die europäischen Kinder sich mit den indischen Straßenkindern austauschen. Beispielsweise Bilder malen von den Dingen, die sie bewegen. Ihre Schüler lernen eine Welt kennen, in denen Kinder nachts zu einer Tankstelle gehen müssen, um im Licht lesen zu können. Die arbeiten müssen und weniger als zehn Cent in der Stunde verdienen. Sie können sich das nicht vorstellen.
Wenn sie dann ihren neuen Swimmingpool malen und nach Kalkutta schicken wollen, sagt Fischer schmunzelnd, müsse sie doch ein bisschen bremsen. Aber es kommen durchaus empathische Reaktionen, die ausgebaut werden sollen. „Wir werden die Website, die bislang auf Deutsch ist, ins Englische übersetzen und auch Handzettel auf Englisch und Spanisch drucken, um die Menschen hier an der Costa Blanca zu erreichen.“
Solidaritätskomitee an der Europäischen Schule Alicante, empathische Reaktionen mit indischen Straßenkindern. Was aber sagt sie zur Flüchtlingsproblematik der Europäischen Union? „Ein Armutszeugnis für die EU. Wir haben unsere Wohnung in Deutschland einer syrischen Familie überlassen. Das sind Menschen auf der Flucht, wie die Deutschen vor 60 oder 70 Jahren. Wir müssen solidarisch sein. Es ist eine Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Ich kann die Angst vor Flüchtlingen nicht nachvollziehen. Die EU muss ihnen helfen, ein menschenwürdiges Leben führen zu können.“
Durch die Zusammenarbeit mit WIF entsteht der Eindruck, die Projekte in Kalkutta sind in erster Linie auf Mädchen ausgerichtet. Das stimmt nicht. Die Straßenkinder sind Mädchen und Jungen. Auch bei den Familien der Leichenverbrenner, der Ärmsten der Armen, hilft Pradip Jungen wie Mädchen. Pradip übernimmt die Heimkosten und Ausbildungsprogramme von 95 Töchtern von Prostituierten. Die Prostitutionsbekämpfung richtet sich natürlich mehr an die Frauen. Und der Einfluss der Mütter ist wesentlich. Da tut sich viel. Die Mütter bieten Kontinuität und bilden starke Strukturen auch in der Gesellschaft. Sie sorgen dafür, dass die Kinder in die Schule gehen, wehren sich und suchen Hilfe, etwa bei Aggressionen oder bei Alkoholproblemen, die manche Männer in den Slums haben. Auch das ist relativ neu, sagt Fischer.
Auch die Frage, ob das nicht manchmal wie ein Tropfen auf den heißen Stein ist, bringt sie nicht aus der Ruhe: „Wir haben inzwischen Hunderten von Kindern geholfen, und das streut. Die schicken ihre eigenen Kinder jetzt in die Schule oder helfen uns. Ehe- malige Schüler halten Kontakt. Das sind Menschen, die sich unter größten Schwierigkeiten durchgeboxt haben, die in der Rohheit der Straße aufgewachsen sind. Jetzt haben sie einen Beruf, eine Familie, ein selbstständiges Leben und sie helfen anderen.“ „Unsere Kinder müssen kaum noch arbeiten. Jedes Mädchen, dem die Prostitution erspart wird, die das nicht durchleiden muss, ist ein Riesengewinn. Es gibt weniger Krankheiten, weil die Kinder in der Schule lernen, dass Hygiene wichtig ist. Es gibt weniger Kinderhochzeiten. Hinzu kommen strukturelle Veränderungen. Die neue Regierung in Westbengalen, also Kalkutta, hat seit vier Jahren viel gegen Kinderprostitution getan. Es gibt mehr Razzien in den Rotlichtvierteln. Die Polizei beob- achtet und fängt Menschenhändler gleich auf den Bahnhöfen in Kalkutta ab. Sie tut etwas für den Schutz sozial Benachteiligter. Unsere Arbeit ist kein Tropfen, der verdampft.“
Wer etwas tun will, kann Gutscheine verschenken. Oder direkt Geld spenden. Anja Fischer macht darauf aufmerksam, dass bei Pradip jeder gespendete Cent in die Projekte in Indien fließt. Die Verwaltungskosten, die außerhalb Indiens entstehen, werden ehrenamtlich von ihrer Familie gedeckt.