Am Ende geht’s ums Glück
„Tablao“von Gabriela Călutiu Sonnenberg: Eine besonders rührende Flamenco-Show
Trotz geschlagener Stunde hat die Vorstellung noch nicht begonnen. Das englische Ehepaar an meiner Seite übt sich stilvoll im Gedulden. Als Zeichen ihrer Ungeduld heben sich fast unmerklich ihre Augenbrauen. Die charmante Britin bietet mir eine Praline an.
„Encuentro“– Begegnung – ist der Name dieser Show. Sie soll einen typischen Flamenco-Abend darstellen, so wie es ihn seit hunderten von Jahren in den Tanzcafés Andalusiens gab, wo man ihn einfach „Tablao“nannte. Immer wieder trafen sich auf diese Weise Sänger und Tänzer, um in musikalischem Dialog die Vergänglichkeit der Welt auszublenden.
Wir haben das Glück und die Ehre, zwei erstklassige Künstler bewundern zu dürfen: einen in etwas fortgeschrittenem Alter, bekannt und erfahren, und einen anderen, jünger, auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ob es den beiden gelingen wird, den Funken ihrer Begeisterung in die Herzen des internationalen Publikums der Costa Blanca hinüberspringen zu lassen, wird sich noch zeigen.
Gong! Das Licht wird gedimmt, der Vorhang ehebt sich und wir sehen ein Podium und ein paar Stühle. Keine Dekoration, keine Extras; nur schlichte Konturen, gebadet in sattem, rotschimmernden Lampenschein.
Einzeln, ohne Eile, betreten die Musiker die Szene. Sie gehen ganz locker zu ihren Plätzen und setzen sich auf ihre Stühle, zu ihren Instrumenten. Es sind zwei Gitarristen, ein Schlagzeuger, ein Blasmusiker. Dazu gesellen sich zwei weitere, die gar kein Instrument spielen. Später wird sich herausstellen, dass sie trotzdem wichtig sind, denn durch Händeklatschen und Zwischenrufe geben sie den Rhythmus an.
Alle tragen korrekte Anzüge, mit weißem Hemd und Krawatte. Die Haare, ordentlich gekämmt und mit Gel frisiert, sind in Zöpfen zusammengebunden. Einer hat eine anfängliche Glatze, ein anderer trägt Bart, zwei haben einen kleinen Bauchansatz. Wir hören einen kurzen Ruf. Es ist kaum zu verstehen, aber der entschlossene Ton verrät uns, dass es sich um so etwas wie „Lasst uns loslegen!“handeln muss.
Eine Gitarre stimmt eine zarte Melodie an. Ihre tiefen Akkorde, mitten in der Stille des Raumes, reißen uns von unseren Gedanken weg und locken uns in eine Welt fernab des gewöhnlichen Alltags. Allmählich schütteln wir die mitgebrachten „Geräusche“ab. Einatmen, ausatmen. Das Leben schenkt uns eine Pause. Wir nehmen sie uns.
Der erste Tänzer betritt die Bühne. Er ist schlank, elastisch, groß. In der Mitte bleibt er stehen und dreht sein Gesicht zum Publikum. Ganz entspannt blickt er über unsere Köpfe, grüßt aber nicht, verzieht keinen Muskel und macht keinerlei theatralische Gesten. Nur wer es nie probiert hat, glaubt dass ein solch regloses Stehenbleiben in einem gut besuchten Saal einfache Sache sei.
Der Mann macht einen verwegenen Eindruck. Für einen Augenblick bohrt sich ein Dorn durch mein Herz, denn, in Anbetracht der Tatsache dass wir uns die Mühe gemacht haben, hierher zu kommen, erscheint mir seine Gleichgültigkeit geradezu frech. Meine Zweifel verschwinden jedoch sehr schnell nachdem ich seinen Blick, der merkwürdig nach innen gerichtet ist, bemerke. Er scheint voller Wut zu sein, wie ein umzingeltes, gejagtes Tier. Es kann sein, dass ich mich täusche, vielleicht verdanke ich diese Wahrnehmung einfach nur dem künstlichen Licht. Auf jeden Fall schließt sich die winzige Lücke meiner vermeintlichen Eingebung blitzschnell, genauso wie sie entstanden ist. Eine verschwommene Vorahnung überdauert jedoch die Kürze meines Schrecks. Der Solist macht ein paar anmutige Schritte, dreht sich zu den Musikern und ruft ihnen etwas zu. Sie antworten ihm, in ähnlich rauem Ton. Einer beginnt die Saiten zu zupfen. Die anderen passen sich an. Klang und Bewegung wirken etwas unterbrochen und grob; von Harmonie kann hier noch keine Rede sein.
Im Dialog der gleichberechtigten Stimmen verkörpert jedes Instrument eine Meinung. Anfänglich wirkt es etwas unharmonisch, doch allmählich weicht das Chaos; die Einstimmigkeit setzt sich durch, obwohl keiner auf seine persönliche Note verzichtet. Ein bisschen wirkt das wie im Leben, wenn ein Meinungsaustausch unter wohlerzogenen Menschen stattfindet.
Die stolzen „Majos Flamenco“verfolgen meist ihre eigene Linie und sind im musikalischen Sinne oft streitsüchtig. Der eine spielt lieber in Dur, der Andere in Moll, es gibt laut und leise, schnell und langsam, melodisch oder schrill, mechanisch oder romantisch. Manche mögen genau das was die anderen meiden. Wahres Leben eben, aber als Klang serviert!
Manche Töne passen gut zusammen, andere überlappen sich, lassen sich kaum Luft, streiten oder versöhnen sich, vibrieren bis man sie fast körperlich, wie Faustschläge im Bauch spürt. Worte braucht man hier nicht, sie wären überflüssig. Für jeden von uns ist es klar, dass Hände, die im Rhythmus schlagen, Harmonie erzeugen, während die, die gegen den Fluss der Musik fallen, das Gegenteil bewirken.
Mit gehobenen Händen, wie ein Torero, der sich auf den Stier konzentriert, bringt sich der Tänzer ein. Behutsam berühren seine Sohlen den Boden, als ob sie ihn liebkosen. Dann wird der Rhythmus immer schneller, seine Absätze knistern immer lauter und fester, das ganze steigert sich und mündet in einem gewaltigen Trommelrausch. Das Publikum kann nicht umhin und lässt sich mitreißen. Am Ende klatschen wir alle in Reih und Glied und man kann vereinzelte Begeisterungsrufe wie „¡Guapo!“oder „¡Olé!“hören.
Der Tänzer hat längst keine Jacke mehr an und die Krawatte liegt auch irgendwo auf dem Boden. Bekleidet mit seinem schneeweißen Hemd gleitet er manchmal nur noch auf Zehenspitzen über die Tanzfläche, angespannt wie ein lebendiger Bogen. Sein Tanz erzählt die Geschichte eines Lebens voller Schmerz und Hoffnung; mal wirkt er kämpferisch und rebellierend, mal romantisch und zart. Als würde ihn ein Faden aus der Höhe aufrecht halten scheint er immer noch über genug Kraft zu verfügen, obwohl ihm der Schweiß von der Stirn tropft und sein Körper vor Anstrengung zittert. Sein Tanz drückt nicht nur den Überlebenskampf aus, sondern auch die Suche nach einem höheren, verborgenen Sinn des Lebens.
Die Musik verstummt langsam, wie ein Wiegenlied. Wir hören unseren eigenen, stockenden Atem. Inmitten der endgültigen Stille, die keiner zu stören wagt, betritt der andere, ältere Tänzer die Bühne. Völlig unbeschwert und gut gelaunt, steht er im gewaltigen Kontrast zu seinem Vorgänger.
Wie ein Dandy macht er sich an seine „Geschichte“ran, deutet mit den Schuhspitzen ein paar leichte, regelmäßige Takte an, bringt Struktur und Gleichgewicht mit. Jawohl, das Leben kann schön und in Zufriedenheit verbracht werden! Wieso denn auch nicht? Das Vertrauen und die Hoffnung in ein positives Ende lassen uns alle wieder Aufatmen. Die Begegnung – „Encuentro“– zwischen alt und jung, zwischen Kampf und Ruhe verkörpert kurz das ewige Spiel der Gegensätze und lässt ahnen, dass sie, trotz Unterschiede, ganz prima zusammenpassen. Die zwei Hauptdarsteller umarmen sich und tanzen dann zusammen, auf diesselbe Melodie, aber fröhlicher und zufriedener.
Dann betreten die Tänzerinnen die Bühne. Ihre bunten Kleider, ihre großzügigen Volants, Rüschen und Fransen erfreuen das Auge. Ihre geschmeidigen Schlangenbewegungen scheinen die Musik in flüssiger Bewegung umzuwandeln. Anmut im kostbarsten Aggregatszustand!
Die zwei Hauptdarsteller treten abwechselnd auf, sie tauschen ihre Rollen, zeigen sich gegenseitig Schritte, lernen von einander und nutzen die Fläche des Tablao um sich gegenseitig zur Vollendung der Bewegung zu verhelfen. Die Unbekümmertheit der Jugend geht Hand in Hand mit der Genügsamkeit der reiferen Jahre, das Ganze rundet sich in einem einheitlichen Bild ab, das ein erfülltes Leben zeigt. Plötzlich drängt sich eine Offenbarung durch: hier geht es um das einzig Wichtige, um Übereinstimmung! Es zählt die Kongruenz mit sich selbst, die Unabhängigkeit von der Meinung anderer. Es gilt, sich von den Launen des Schicksals nicht beeinflussen zu lassen, kurz gesagt es geht ums glücklich sein!