Der Fall „Gabriel“
Gewaltsamer Tod eines Kindes macht ganz Spanien fassungslos
Wie kaum ein anderes Verbrechen hat der gewaltsame Tod des achtjährigen Gabriel Cruz aus einer kleinen Ortschaft bei Almería ein ganzes Land bewegt. Seit seinem Verschwinden vor über zwei Wochen verdrängt der Fall „Gabriel“ sogar den Katalonien-Konflikt als Top-Thema in den Medien. Ob König, Regierungschef oder Fußballstars: Alle trauern um das ermordete Kind. Die Wut des Volkes aber richtet sich auf die geständige Mörderin, die 43 Jahre alte Lebensgefährtin des Vaters. Sie hatte sich noch selbst an der Suche nach dem vermissten Jungen beteiligt und vor laufender Kamera den Vater getröstet. Vor wenigen Tagen gestand die Frau, das Kind getötet zu haben.
Es ist kurz vor Mittag an einem normalen Werktag. Dennoch füllen einige Tausend Personen das Umfeld der Kathedrale in Almería restlos aus. Die Zugänge müssen bereits gesperrt worden, auf den Platz vor dem sakralen Bauwerk passt wirklich niemand mehr. Dort stehen obendrein zahlreiche ÜWagen lokaler, regionaler und auch nationaler Fernsehsender. Sie alle wollen live von dem Geschehen in Almería berichten. Von der Trauerfeier für einen achtjährigen Jungen, dessen Verschwinden und letztendlich Ermordung das ganze Land so bewegt hat, wie nur wenige Verbrechen zuvor.
Wortlose Trauer
Trotz der großen Menschenansammlung herrscht auf dem Kathedralsplatz eine fast absolute Ruhe, so dass man den Polizeihubschrauber am Himmel kreisen hört. In der Altstadt ist nämlich ein immenses Sicherheitsaufgebot aufgefahren worden. Schließlich wer- den neben weiteren hochrangigen Politikern die spanische Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría, der Innenminister Juan Ignacio Zoido sowie die andalusische Regierungschefin Susana Díaz erwartet.
Nach und nach treffen die politischen Würdenträger ein. Kurz darauf erscheint der schneeweiße Leichenwagen, in dem sich der kleine Sarg mit Gabriel Cruz befindet, der mit nur acht Jahren gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Dahinter folgen zwei weitere Fahrzeuge des Bestattungsinstitutes mit etlichen Blumenkränzen und die Autos mit den engsten Angehörigen des Verstorbenen, erst das mit seiner Mutter Patricia Ramirez, dahinter jenes mit seinem Vater Ángel Cruz.
Die respektvolle Stille ist mittlerweile einem anhaltenden Beifall gewichen. Ein Applaus der in vielen Fällen von Tränen begleitet wird. Unterbrochen wird dieser von ermunternden Zwischenrufen wie No estáis solos (Ihr seid nicht alleine) oder Todos somos Gabriel (Wir alle sind Gabriel) die den nahen Verwandten des toten Kindes Trost spenden sollen.
Im Inneren der Kathedrale wird die Familie des Jungen von Almerías Bischof Adolfo González zur Totenmesse empfangen. All jene, die gekommen sind, um den Eltern von Gabriel Cruz in ihrem Leid beizustehen, werden den Gottesdienst auch nicht verpassen, denn auf einer Großleinwand kann man draußen die Ereignisse im Inneren der Kathedrale verfolgen.
Dankbar für Solidarität
Nach der Messe nehmen Ángel und Patricia vor der Kathedrale noch einmal Abschied von ihrem Kind, bevor sie vor die Medien treten, um all jenen zu danken, die sie bei der fast zweiwöchigen Suche
Tausende Almerienser stehen den Eltern von Gabriel in ihrem Leid bei
nach ihrem Sohn unterstützt und ihnen in dieser schweren Zeit Mut gemacht haben. Das erfahrene Mitgefühl helfe ihnen, ihr trauriges Schicksal ertragen zu können.
„Gestern haben wir über das Internet eine Zuschrift erhalten, in der uns jemand mitteilte, dass mein Sohn nicht verloren, sondern gewonnen habe, da er die böse Hexe aus dem Märchen vertrieben habe“, erklärt die Mutter von Gabriel. Damit appelliert sie an alle, es ihr gleichzutun und ihren Jungen in guter anstatt die inzwischen geständige Täterin, Ana Julia Quezada, in schlechter Erinnerung zu behalten.
Leiche im Kofferraum
Die „böse Hexe“, Lebensgefährtin des von der Mutter geschiedenen Vaters von Gabriel, war zwei Tage zuvor festgenommen worden. Sie hatte den toten Jungen im Kofferraum ihres Autos. Von den Ermittlern in Bedrängnis gebracht, hatte sie den leblosen Körper des Kindes aus einem Brunnen in der Nähe von Rodalquilar geholt und nach Puebla de Vícar gebracht, wo sie mit Ángel Cruz eine Wohnung teilte. Was Quezada jedoch nicht ahnte: Die Guardia Civil beschattete sie, da die Frau bereits seit Tagen als Hauptverdächtige galt.
An die 60 Kilometer hatten die Fahnder die Verdächtige verfolgt, falls sie mit einem möglichen Komplizen zusammenkommen sollte. Die Falle schnappte schließlich zu, als sie die Tiefgarage ihres Hauses in der Calle Horacio ansteuerte. „Ich hörte einen Tumult und ging daraufhin auf den Balkon hinaus,“berichtet Jessica, die in dem Gebäude gegenüber der Garagenzufahrt wohnt.
Wie in einem Krimi
„Die Frau war zunächst von sechs Polizisten in Zivil umzingelt worden, kurz darauf trafen aber noch weitere, uniformierte Beamte mit Streifenwagen ein“, erzählt sie. „Einer von ihnen öffnete den Kofferraum ihres Autos und als er sah, was sich darin befand, sagte er nur: ‚Bestätigt.‘ Woraufhin ein Kollege der Frau Handschellen anlegte.“Dass die Täterin, die ihr aus dem Fernsehen bekannt war, in ihrer direkten Nachbarschaft lebte, habe sie gar nicht gewusst. So wie Jessica geht es vielen Anwohnern, denn im Ort ließ sich Ana Julia Quezada anscheinend kaum blicken.
„Sie war erst vor etwa neun Monaten zu Ángel gezogen, der zur Zeit Vorsitzender der Eigentümergemeinschaft im Haus ist“, weiß José Miguel zu berichten, der im gleichen Gebäude eine Wohnung hat. Unter den Nachbarn herrsche zwar allgemein wenig Kontakt, sie aber sei allen besonders fremd geblieben. Auch habe er sie kein einziges Mal zusammen mit dem Jungen gesehen. „Ángel war schon öfters mit Gabriel in der Gegend unterwegs, wenn er seinen Sohn an den Wochenenden bei sich hatte“, ergänzt José Miguel.
Seine Angaben bestätigen weitere Anwohner wie José. Den Vater habe er hin und wieder in der Umgebung angetroffen, manchmal auch mit dem Kind, seine Lebensgefährtin aber ist ihm kaum bekannt. Was sie dem Kleinen angetan hat, sei furchtbar gewesen und sein Empfinden darüber kaum in Worte zu fassen. „Die Nachricht hat mich wie alle im Ort erschüttert“, kommentiert José.
Fassungslose Nachbarn
Als er im Fernsehen, die von einem Balkon aufgenommene Handyaufnahme der Festnahme sah, habe er es nicht glauben können. In den Nachrichten erfuhr auch Amelia von der Verhaftung Quezadas. „Die Straße habe ich gleich erkannt, nur warum bloß hat sie die Leiche hierher gebracht“, fragt sich die tief betrübte Anwohnerin, die keine logische Erklärung für das Verhalten der Täterin findet.
Ihr Entsetzen über den Vorfall äußerten viele Einwohner aus Puebla de Vícar am Tag nach der Festnahme der Täterin. Eine von der Gemeinde einberufene Kundgebung zum Gedenken an das Opfer, brachte mehrere Hundert Personen vor dem Rathaus zusammen. Darunter befanden sich auch die Schüler der örtlichen Sekundarschule, deren Lehrer alle den Unterricht unterbrochen hatten, um den Jugendlichen die Teilnahme zu ermöglichen.
Nach einer anfangs stillen Andacht, kamen in der Menge dann Sprechchöre auf, in denen unter anderem Justicia (Gerechtigkeit) oder Asesina (Mörderin) gerufen wurde. In der Folge wurde vereinzelt auch noch Que no salga nunca (Dass sie nie wieder rauskommt) oder Que se pudra (Sie soll verfaulen) gerufen. Womit die derzeit in der spanischen Politik kontrovers debattierte Beibehaltung der lebenslangen Haftstrafe eingefordert werden sollte.
Wie schnell die Stimmung von einer sprachlosen Trauer in eine entfesselte Wut umschwenken kann, zeigte sich im Ort nur wenige Stunden später. Als die überführte Täterin am Nachmittag nämlich für eine Durchsuchung ihrer Wohnung nach Puebla de Vícar gebracht wurde, mussten die Polizeibeamten die Kindsmörderin vor einigen rachsüchtigen Anwohnern schützen, die auf sie los wollten.
Ähnliche Szenen hatten sich schon am Tag zuvor in Almería abgespielt. Nach Bekanntwerden, dass der vermisste Junge tot aufgefunden wurde, versammelten sich tausende Menschen spontan an der zentralen Puerta de Purchena.
Nicht alle wollten es indes dabei belassen, denn zahlreiche Personen zogen von dort anschließend zur Kaserne der Guardia Civil weiter, wo sich Ana Julia Quezada in Polizeigewahrsam befand. Dort musste die Zufahrt geschlossen werden, um ein Eindringen der tobenden Menge zu verhindern.
Stimmung in der Bevölkerung befindet sich auf einer Gratwanderung