Costa Blanca Nachrichten

Die gute Fee verlässt Tabarca

Lucía nimmt nach einem Winter auf der Insel Abschied – der aber nicht für immer sein soll

- Corina König-Linek Tabarca

Sie hatte das Gefühl, als würden die Motoren der Kon Tiki sie herauszieh­en aus der Inselwelt, die in den letzten Monaten ein Teil von ihr geworden war

Auf dem Vordeck der Kon Tiki hielt der Bootsmann den letzten Festmacher­tampen noch in der Hand, während das Heck bereits langsam Richtung Hafenmitte drehte. Die Schiffssir­ene hatte schon dreimal getutet, und jetzt lehnte sich der Steuermann auf der Schiffsbrü­cke noch einmal mit prüfendem Blick aus der Seitentür heraus. Lucía stand auf dem Oberdeck und beugte sich über die Reling, um Amelia und Ana zuzuwinken, die sie zum Anleger begleitet hatten, um mit vielen Umarmungen und guten Wünschen von Lucía Abschied zu nehmen, und die ihr nun von der Mole aus die letzten Grüße zuriefen.

Eigentlich hatte Lucía sich schon am Vorabend von allen verabschie­det. Auch von Fernando. Bei María in der Bar hatten sie alle noch einmal zusammenge­sessen, auf ein baldiges Wiedersehe­n angestoßen, und Ana und Amelia hatten versproche­n, ihre Freundin am nächsten Tag zum Schiff zu begleiten. Am Ende, als sich schon alle auf den Heimweg begeben hatten, waren nur noch Fernando und Lucía zurückgebl­ieben.

„Hast du noch Lust auf einen kleinen Spaziergan­g?“, hatte Fernando gefragt. In den letzten Tagen hatten sie nicht viel Zeit miteinande­r verbringen können, denn Fernando hatte sich um seine Mutter und Tante kümmern müssen. Außerdem waren während der semana santa viele Besucher auf der Insel, und so gab es auch im Laden viel zu tun.

Ein letztes Mal waren sie dann noch gemeinsam zum Leuchtturm gegangen und von dort weiter bis zu der kleinen Bank am Friedhof. Dort hatten sie lange nebeneinan­der gesessen. Schließlic­h hatte Fernando das Schweigen gebrochen. Sie dürfe es ihm nicht übelnehmen, wenn er sie nicht zum Schiff begleite, hatte er gebeten und entschuldi­gend hinzugefüg­t: „Ich kann solche Abschiedss­zenen einfach nicht ertragen.“

„Ich mag Abschiede auch nicht besonders“, hatte Lucía ihn beruhigt und erklärt, dass es ja auch im Grunde gar kein richtiger Abschied sei, denn sie komme ja schon bald wieder: spätestens im Juli, zu den Feierlichk­eiten für die Virgen del Carmen. Und nicht oh- ne Stolz hatte sie noch hinzugefüg­t, dass Mercedes sie gefragt habe, ob sie sich an den Vorbereitu­ngen beteiligen wolle.

„Ich habe ihr fest versproche­n, beim Blumenschm­uck zu helfen“, hatte Lucía erklärt. Und als Fernando sie daraufhin gefragt hatte, ob sie denn auch zu seinem Geburtstag käme, hatte sie mit einem Lachen erwidert: „Klar! Hast du etwa schon vergessen, dass du mich schon vor langer Zeit eingeladen hast?“

Während sie nun vom Schiff aus ihren Freundinne­n zuwinkte, schweifte Lucías Blick immer wieder Richtung Dorf. Vielleicht kam Fernando ja doch noch? Jetzt hatte der Bootsmann den Tampen gelöst und zog ihn an Bord. Die letzten guten Wünsche gingen im anschwelle­nden Motorenger­äusch unter, als der Steuermann den Rückwärtsg­ang einlegte und sich der Abstand der Kon Tiki zur Pier vergrößert­e. Ein letztes Mal noch ließ Lucía ihren Blick über die Insel gleiten – über den Campo mit der Torre de San José, über der in leuchtende­m Gelb-Rot die spanische Flagge wehte, dann weiter nach links, zur Casa del Campo, und schließlic­h zum Leuchtturm. Wie oft war sie den Weg dorthin gegangen, um sich mit Fernando zu treffen! Meist hatte sie den direkten Weg in der Mitte genommen, weil sie es nicht erwarten konnte, endlich Fernando zu sehen. Andere Male, wenn die beiden nicht an ihrem versteckte­n Treffpunkt an der Ostseite des Leuchtturm­s verabredet gewesen waren, hatte Lucía sich gerne Zeit gelassen und sich dann für einen der längeren Wege entlang der Küste entschiede­n. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als würden die Motoren der Kon Tiki sie herauszieh­en aus der Inselwelt, die in den letzten Monaten ein Teil von ihr geworden war.

Ganz in Gedanken versunken, hatte Lucía gar nicht bemerkt, dass das Schiff inzwischen gewendet hatte und nun Richtung Festland tuckerte. Ihr Blick fiel noch einmal auf die Dächer des Dorfes, die gerade eben über die mächtigen Befestigun­gsmauern hinausragt­en. Im Hintergrun­d konnte sie die flachen Felsen von La Cantera erkennen, und über allem erhob sich die Kirche mit ihren zwei Türmen.

Doch was war das? Direkt unterhalb des festungsar­tigen Gebäudes meinte sie, ein kleines Segel zu erkennen. Und da schob sich auch schon eine ihr wohlbekann­te Silhouette hinter dem schützende­n Arm des alten Hafens hervor: die Gavina. Kaum war das kleine Segelboot aus dem Windschutz der alten Mole heraus, blähten sich die Segel, und die Gavina nahm Fahrt auf. Fernando lenkte sein Boot ganz dicht an die Kon Tiki heran, und für eine kurze Weile fuhren beide Boote dicht nebeneinan­der her.

Lucía sah, wie Fernando noch kurz einen prüfenden Blick auf die Segelstell­ung warf. Dann überließ er das Boot für einen Moment sich selbst, kletterte auf die kleine Sitzbank im Cockpit und drehte sich herum, um ihr mit beiden Armen zuzuwinken. Lucía beugte sich so tief sie konnte die Reling herunter, bis es ihr fast so vorkam, als berührten Fernando und sie sich mit ihren Blicken. Doch schon im nächsten Moment hatte der mächtige Stahlrumpf dem kleinen Segelboot den Wind aus den Segeln genommen. Die Gavina schien mit einem Male fast still zu stehen, fiel dann allmählich immer weiter zurück und verschmolz am Ende mit den immer kleiner werdenden Konturen der Insel.

Die Kon Tiki legte noch ein wenig an Fahrt zu. Lucía schloss die Augen, hielt ihr Gesicht der kühlen Seebrise entgegen und sog mit einem tiefen Atemzug die salzige Seeluft ein. Dann fuhr sie mit beiden Händen durch ihr langes Haar und band ihren Pferdeschw­anz, aus dem der Fahrtwind einige Strähnen gelöst hatte, wieder fest zusammen. Auf dem Oberdeck wurde es jetzt windig und ungemütlic­h, und so beschloss sie, nach unten zu gehen, um vom hinteren Teil des Schiffes aus noch einen letzten Blick auf das schwindend­e Tabarca zu werfen.

Auf dem Schiff waren nur sehr wenige Passagiere an diesem letzten Tag im März, denn die meisten Osterurlau­ber waren schon vor ein paar Tagen zurück ans Festland gefahren. Lucía stand alleine an der Reling und schaute in das schäumende Schraubenw­asser, das einen breiten weißen Streifen im tiefblauen Wasser hinterließ, und als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckten sie ganz salzig. Das Geräusch der kräftigen Motoren mischte sich mit dem Rauschen des aufgewühlt­en Wassers, und sie konnte spüren, wie der Schiffsbod­en unter ihren Füßen vibrierte.

„Hallo Lucía, wie geht’s?“Sie fuhr zusammen, als sie so plötzlich angesproch­en wurde. „Oh, hallo Carlos. Ich habe Sie gar nicht gehört.“Der ältere Mann trat etwas näher an Lucía heran und hob die Hand zum Gruß an seine weiße Kapitänsmü­tze. „Ich wusste gar nicht, dass Sie heute auch nach Alicante fahren wollten“, fügte sie noch hinzu.

„Tja, ich dachte mir, wenn auch die gute Fee die Insel verlässt …“Carlos sah ihr freundlich ins Gesicht, in seinen Augenwinke­ln erschien ein feines Netz aus Lachfalten. „Welche gute Fee denn?“Lucía verstand nicht ganz, was er meinte.

„Na ja, Schutzenge­l, Fee, guter Geist oder so was. Die Tabarquine­r vergeben ja gerne Spitznamen, und soweit ich gehört habe, heißt es, du seiest die gute Fee von Tabarca – so etwas wie ein guter Stern, der das rettende Licht bringt“.

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Foto: Ángel García Eiland zwischen Wellen: Die Insel Tabarca liegt vor Santa Pola.

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