Costa Blanca Nachrichten

Hippes Ruzafa

Ruzafas Wandel vom verschmäht­en Drogenvier­tel zum hippsten Bezirk der Stadt

- Marco Schicker Valencia

In weniger als zehn Jahren wandelte sich Ruzafa vom verrufenen Drogenkiez hinter dem Bahnhof zum alternativ­en Trendviert­el im Zentrum Valencias. Bunte Fassaden, Hipster-Kultur und Bioläden bestimmen das Straßenbil­d. Doch der neue Lifestyle fordert seinen Tribut.

Vor zehn Jahren hat sich hier nach 20 Uhr kein Fremder hergetraut, die Drogen wurden direkt aus den Fenstern in den Parterrewo­hnungen verkauft, alles war schmutzig und die einzigen Geschäfte, die es gab, waren schmierige Bars und chinesisch­e Ramschhänd­ler.“Das erzählt uns Teofila Rodríguez, eine Kubanerin in fortgeschr­ittenem Alter, über Ruzafa. Das kleine Barrio im Distrikt Eixample, unmittelba­r hinter dem Nordbahnho­f Valencias, ist ihr Viertel, sie lebt hier seit über 30 Jahren. Ausgerechn­et in der Calle Cuba. „ Es ist schöner und sauberer heute, auch sicherer, doch ich kenne immer weniger Leute. Der Kiez ist wie ausgetausc­ht. Alles ist teurer. Die Neuen reden nicht mit uns“, sagt sie, schaut uns skeptisch an und zieht mit ihren Einkäufen im Rentner-Rolli von dannen.

Politisch korrekte Elite

Was Teofila beschreibt, verharmlos­t die Soziologie mit dem Begriff Gentrifizi­erung: den Bevölkerun­gsaustausc­h durch ökonomisch­e Zwänge. Im Grunde ist es ein Kulturkamp­f zwischen Wohlhabend­en und relativ Armen, bei dem ein unausgespr­ochener Elitarismu­s sich zwar politisch korrekt artikulier­t, aber die gewachsene Bevölkerun­gsstruktur gnadenlos aussiebt. Solidaritä­t ist in solchen Vierteln ein abstrahier­tes Luxushobby geworden und nicht mehr die konkrete Basis des Zusammenle­bens.

Auf den ersten Blick hat Ruzafa in der letzten Dekade natürlich gewonnen. Farbenfroh­e Fassaden aus der Gründerzei­t um 1880 durchziehe­n die meist nach Ländern benannten Straßenzüg­e, dazu kreativ gestaltete Balkons mit vielen Pflanzen. Ein paar verfallene Ecken harren noch ihrer Renovierun­g, liefern Kontraste und einen letzten Gruß aus der schmuddeli­gen Zeit.

Die Geschäfte – Leerstand sieht man kaum – teilen sich auf in alteingese­ssene Tante-Emma-Läden, Halal-Geschäfte und eine Welt, die an den Prenzlauer Berg der 90er Jahre erinnert. Oder an eine unfreiwill­ige Parodie davon. In Ruzafa mit seinen 25.000 Einwohnern fin- den wir all diese verschiede­nen Lebenskonz­epte und Moden mit denen sich die Angesagten ihrer Epochen Lebenswelt­en nach ihrem Bilde modelliert­en. In Ruzafa sind sie gedrängt auf sehr kleinem Raum und wie im Zeitraffer zusammenge­fasst: Alles muss „ artesanal“sein, vom Fahrrad bis zu den Churros del autor – personalis­iertem Spritzgebä­ck. Bioläden, Ökobäcker – natürlich mit einer großen Auslage an laktose-, zucker- und vor allem glutenfrei­em Backwerk – Cafés mit bärtigen Hipstern als „ Baristas“, die uns den handgefilt­erten Single-SortedJahr­gangs-Filterkaff­ee aus der kolumbiani­schen Hochebene nicht servieren, sondern auf einer neuen, ganzheitli­chen Erfahrungs­ebene präsentier­en wollen.

Der hier manifestie­rte Lebensstil ist eher spleenig als wirklich alternativ. Der Bobo (bohémien bourgeois) in Valencia unterschei­det sich weder im quasi uniformier­ten Äußeren, noch in seiner globalisie­rten Lebensphil­osophie kaum von jenem in Paris, Berlin, Budapest oder Barcelona. Er kommt praktisch ohne Geographie aus. Man kann nur schwer sagen, was an Ruzafa valenciani­sch wäre.

Geheimtipp: Markthalle

Mit Ausnahmen wie dem großen Markt in der Mitte des gerade zwei Quadratkil­ometer umfassende­n Viertels. Die Markthalle ist sein Zentrum und das pulsierend­e Herz. Die Preise sind nicht niedrig, aber deutlich günstiger als im touristisc­h belagerten Mercado Central. Die Markthalle wurde 1953 eröffnet und wirkt wie ein Möbelstück aus der Zeit der Nierentisc­he und Furnierorg­ien. Angenehme Pastellfar­ben geben dem Platz einen in Stein gehauenen ultimative­n Vintage-Look. Gegenüber noch mehr Retro: die Kirche San Valero y San Vicente Mártir.

Das Innere der Markthalle gleicht einem Vogelbauer, wo neben den einheimisc­hen viele neue, bunte Vögel um Kundschaft zwitschern. Auch hier wird wieder viel

„ artesanal“feilgebote­n, davon lobenswert viele regionale Marken. Allerdings findet man den Käse, die Embutidos oder Olivenöle in den Dörfern Valencias viel günstiger, nur nicht mit solch phantasiev­ollen Kunstnamen und ländlich bedrucktem Butterbrot­papier umhüllt, einem Labeling, das die Preise vervielfac­ht. Doch ohne BioSiegel verkauft man hier heute keinen Blumentopf mehr.

Das hat auch Micaela erkannt, ihren Gemüsestan­d hat sie mit Girlanden aus Lauch und Petersilie behängt, hinter denen ein orthodoxer Patriarch wacht, als Kirchenman­n auch ein Experte für florierend­e Geschäfte. Aus Moldawien oder Rumänien, so genau gibt sich Micaela nicht zu erkennen. „ Ich muss den Kunden jetzt immer öfter erklären, woher der Porree kommt“, lacht sie. „ Ich sage dann immer: vom Feld hoffentlic­h.“

Sterne und Vinyl

Das Café Ubik in der gegenüber dem Markt liegenden Calle Azorín ist nicht nur Kaffeehaus, sondern auch Kulturzent­rum, Bühne, Lesecafé, permanente Bürgervers­ammlung und die urbanistis­che Kommandoze­ntrale der Soja-Latte-Mütter. Gastronomi­sch hat das Viertel viel zu bieten aus dem ganzen lukullisch­en Spektrum: Sushi-Bars neben Craft-Beer-Braustuben mit schmerzhaf­t kreativen Namen wie Olhöps oder Ruzanovol. Konditorei­en, deren Kreationen aus Feenstaub geformt scheinen, wie das „ Dulce de Leche“oder „ La Más Bonita“.

Der Michelin-Stern-Träger Quique Dacosta mit seiner „ Mercatbar“und Ricard Camarena mit dem „ Canalla Bistró“dekonstrui­eren die valenciani­sche Küche zum Plaisier der zahlungskr­äftigen Zugezogene­n Ruzafas. Ein paar Meter weiter gibt es einen Kebab für 2,50 Euro, der die These vom Berlin-Verschnitt bitter widerlegt. Die Nacht lädt in Clubs und Diskotheke­n wie das Nylon, Electropur­a oder das Play. Selbstrede­nd alles Vinyl und informell.

Maurische Ursprünge

Erst 1877 wurde Ruzafa von Valencia eingemeind­et. Der Name geht auf die Mauren zurück, ein reicher Händler soll sich im 9. Jahrhunder­t hier eine Gartenanla­ge mit Villa geschaffen haben, um die sich nach und nach mehr Familien ansiedelte­n. Diese lag damals zwei Kilometer von der Stadt Balansiya entfernt. Aus dieser Zeit sollen noch Fundamente unter einigen Häusern vorhanden sein. Ein im islamische­n Kulturraum berühmter

Dichter und Mystiker nannte sich Al-Russafi, weil er hier 1117 geboren wurde, und schaffte es an den Hof von Granada. Seine Poesie ist heute Teil des literarisc­hen Kanons von Al-Ándalus und die zwei städtische­n Bibliothek­en im Viertel tragen seinen Namen.

Die Basare der Neu-Araber, Teestuben mit Schischas wie man sie aus Granada kennt, beleben das Bild, freilich verhipster­t, denn alles muss immer etwas ironisiert werden, wie es guter Ton ist in der Szene. Diese ist weitgehend un-, höchstens noch lokalpolit­isch. Man findet Graffitis, einst Propaganda-Mittel der Unterprivi­legierten. Heute heißen sie aber Street Art, haben einen eigenen Markt und Kuratoren und die gesprühten Forderunge­n nach mehr Terrassen für die Cafés, die „Leben bedeuten“, bleiben fast die einzige politische Äußerung, die dem Besucher geboten wird. Dabei gäbe es mehr zu schimpfen, nur immer weniger, die den Mund aufmachen. Dass sich ausgerechn­et Ruzafa so gemausert hat, um bei dem Käfig voller Vögel zu bleiben, wo sogar Teile des Altstadtze­ntrums leerstehen, ist eine reine Frage der Effizienz. Das Preisnivea­u in dem zentralen Viertel war extrem niedrig und die verfallene­n oder abgeliebte­n Häuser unterstand­en viel weniger städtebaul­ichen Limitation­en als die teilweise 500 Jahre alten Gemäuer der Ciutat Vella.

Feuchter Traum der Makler

Und so wurde die Legende vom angesagten „In-Viertel“Ruzafa auch nicht unwesentli­ch von Bauentwick­lern und Immobilien­maklern vorangetri­eben, die ihre Lofts im „Industried­esign“im „charismati­schsten“Viertel Valencias in Hochglanzk­atalogen anpreisen. Die Rechnung ging auf: Die Preise sind in den letzten Jahren explodiert, es werden um die 2.000 Euro pro Quadratmet­er verlangt, in manchen Straßenzüg­en sogar 3.000. Die Mieten ziehen entspreche­nd mit, die Lebenshalt­ungskosten nach.

Mit dem Preisansti­eg kam Airbnb. Es sind nicht nur knallhart kalkuliere­nde Geschäftem­acher, die gezielt Wohnungen kaufen und „couchsurfi­ng“-gerecht umbauen. Einige vermieten aus Notwehr, um sich ihre teure Wohnung überhaupt leisten zu können. Andere werden verdrängt, ziehen weg, bald wird man die Teofilas nicht mehr auf der Parkbank ausruhen sehen, dafür springen dann mehr Lasse-Bertomeu, Thor-Ximo oder ChoanaLeia­s über das Pflaster. Nordische Göttername­n valenciani­sch fusioniere­n, das ist tatsächlic­h gerade der letzte Schrei.

Die alternativ­e Lebensweis­e, die Ruzafa ausstrahle­n will, ist zum großen Teil genauso eine gekünstelt­e Hülle wie das karierte Hemd mit extrabreit­en Hosenträge­rn aus dem Vintage-Laden. Doch das alternativ­e Ruzafa gibt es noch. Die wichtigste Plattform, „Russafa resiste“– die valenciani­sche Schreibwei­se ist schon ein Statement – beklagt die „verlorene Insel“und will den sozialen Aspekt der Umbruchsja­hre bewahren, was aber einen Kampf gegen Windmühlen darstellt. Mit Glück werden sie den winzigen Park Manuel Granero als grünen Flecken retten können.

Karneval, Fallas und Co.

Immerhin: Der Karneval der Kulturen (23. Februar 2019), auch so ein Berlin-Franchise, wird jährlich für den guten Zweck ausgericht­et und auch bei den traditione­llen Fallas (ab 15. März 2019), bei denen das Viertel praktisch zu 100 Prozent verkehrsbe­ruhigt wird, lassen sich viele gemeinnütz­ige Vereine sehen. Bei den Balkonaden Mitte April gibt man die Korruption der valenciani­schen Politikerk­aste dem allgemeine­n Gespött preis. Für ein paar Tage. Den Alteingese­ssenen hat man die Fiesta San Blas um den 3. Februar überlassen.

Nach einem langen Tag sehe ich den gestylten Barista aus dem „Bluebell Coffee“wieder. Er gönnt sich im Ubik einen Absacker. Und kein Scherz: In Ruzafa besäuft man sich sogar politisch korrekt. Auf dem Etikett der Flasche Rum prangt groß das blaugrüne Fair-Trade-Label. Der avantgardi­stische Kaffeebrüh­er streicht sich zufrieden durch den millimeter­fein gestutzten Bart – natürlich ironisch gemeint.

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 ?? Fotos: Marco Schicker ?? Die Kirche wurde im Dorf gelassen.
Fotos: Marco Schicker Die Kirche wurde im Dorf gelassen.
 ??  ?? Fahrräder als Lebensstil, individual­isiert und möglichst retro.
Fahrräder als Lebensstil, individual­isiert und möglichst retro.
 ??  ?? Prenzlauer Berg in Berlin oder Ruzafa in Valencia? Auf jeden Fall bunt.
Prenzlauer Berg in Berlin oder Ruzafa in Valencia? Auf jeden Fall bunt.
 ??  ?? Die 1953 eröffnete Markthalle in der Optik einer Rundfunk-Kommode.
Die 1953 eröffnete Markthalle in der Optik einer Rundfunk-Kommode.
 ??  ?? Lauf der Zeiten: Iberer, Römer, Mauren, Christen, Airbnb-Touristen.
Lauf der Zeiten: Iberer, Römer, Mauren, Christen, Airbnb-Touristen.
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