Lebendiige Weiihnachtt
Gemeinsames und Eigenes: Weihnachtliche Variationen im Bergland von Alicante und im sächsischen Erzgebirge
„ Venga, vamos por el árbol!“, Los, wir holen den Baum, sagte der Schwiegervater aus Monóvar und lud mich, nachdem er den zweiten Heiligmorgen-Anis gekippt hatte, in seinen Pick-up. Es ging in die Berge, eine Don Quijote-Gedächtnis-Kiefer von trauriger Gestalt musste dran glauben, ich, als germanischer Sancho hatte Schmiere zu stehen. Das Gleiche machte mein Großvater mit meinem Vater einst auf dem Pöhlberg, dem Hausberg von Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, dem deutschen Weihnachtsland. Da war es meist eine Fichte, manchmal eine Tanne, aber immer Männersache. Dass es hier wie dort verboten war, kümmerte niemanden, es war ja Weihnachten. Sorgen machte man sich nur über die missbilligenden Blicke der Gattin zu Hause, die natürlich sofort Lücken im Astwerk erspähte, die es zu kaschieren galt.
Weihnachten wäre nicht so richtig heimelig in Spanien, sagen Deutsche, auch Österreicher oder Schweizer, die hier leben. Weniger Lichter, nicht so prächtige Märkte, es fehlen die Kälte und der Schnee und das Aufwärmen, fast spröde sei die Adventszeit. Wenn Spanier Richtung Heilige Drei Könige zu ihren Kavalkaden und zu Hochform auflaufen, hat der Germane meist schon abgeräumt und innerlich auf Alltag umgestellt.
Ob Weihnachten so anders ist, kann man eigentlich nur feststellen, wenn man es dort wie hier in Familie erlebt hat. Denn in diese gehört die Weihnacht, die schließlich durch eine kleine entwurzelte Familie aus Nazareth überhaupt entstand. Skeptisch war ich, denn Weihnachten im Erzgebirge, das macht den Leuten dort so schnell niemand nach.
Kotelett und Königin
2.170 Kilometer liegen zwischen dem Alicantiner Bergland und dem sächsischen Erzgebirge, die Leute hier wie dort sind ähnlich stur, wissen aber trotzdem nichts voneinander. Hier ein bisschen katholisch, dort meist noch weniger evangelisch und beide sind christlich mehr auf dem Papier und aus Anhänglichkeit, denn aus Glauben. Es gibt eine Menge Parallelen, historische Zufälligkeiten vielleicht oder ein unsichtbares Weihnachtsband, das sich wahrscheinlich auch von Lappland bis Sizilien spinnen ließe, wenn man nur genau hinschaut.
An den Haaren herbeiziehen könnte man, dass es im Alicantiner Hinterland einen Ort namens Sax, also auch „ Saxen“gibt. Sax hieß auch das Hiebmesser, das dem Germanen-Stamm bei den Lateinern seinen Namen gab und die Römer, an der Jesus-Story nicht ganz unbeteiligt, waren schließlich auch in Hispanien. Das Kasseler
Kotelett heißt hier „ Chuletón sajonia“, also Sachsen-Kotelett und mit der Wettinerin María Amalia de Sajonia, Gattin von Carlos III., hatte
Spanien im 18. Jahrhundert sogar einmal eine sächsische Königin.
Doch die Gemeinsamkeiten gehen tiefer. Tief in die Berge. Das Erzgebirge wurde auf Silbererz gebaut, Alicante macht in Marmor.
Beides finden wir im Petersdom in Rom wieder. Dort wurde der Alicantiner Marmor verbaut, bezahlt wurde er mit dem Silber der Bergleute aus Sachsen, das man ihnen über päpstliche Ablassbriefe abluchste oder notfalls herausprügelte: „ Wenn der Taler im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“, rief ihnen der Dominikaner Johann Tetzel zu, ein zynischer Scharlatan im Dienste des Papstes, den alsbald Luther ins Visier nahm. Arm blieben die Erzgebirger wie die Alicantiner.
Ihre „ Aktien“haben sie vor 500 Jahren im Vatikan hinterlegt, doch anstelle einer Dividende für ein kleines Himmelreich auf Erden, kassierte man bis heute nur salbungsvolle Predigten auf ein Paradies im Jenseits. Menschen wiegen zerstörte Träume mit Legenden auf. Im Erzgebirge wurde es der Stülpner Karl, eine Art sächsischer Robin Hood.
Rund um das „ Burgenland“des Biar geistern die Mythen um den Ritter El Cid umher, auch wenn der seine Heldentaten mehr auf eigene Rechnung vollführte. Die gemeinschaftlichen Eigenheiten teilen sich die beiden Bergvölkchen bis in die Mundart. Hier haben wir das Valencianisch, das Teil des
Katalanischen ist und mit Spanisch nichts zu tun haben will. Ein ähnliches Verhältnis pflegt das Erzgebirgische zum Sächsischen und dieses wiederum zum Hochdeutschen. Wird ein Erzgebirger die Bezeichnung Sachse noch murrend erdulden, sagen Sie zu einem Valencianer bitte nie Katalane! Seine Unabhängigkeitsbestrebungen liegen eher im Metaphorischen. Wie der Erzgebirger glaubt er zwar auch, er brauche alle anderen nicht für sein Glück, aber darauf ankommen lassen will er es lieber doch nicht.
Spielzeug als Alternative
In Tibi bei Alicante läuft vor Weihnachten die Spielzeugproduktion auf Hochtouren so wie im erzgebirgischen Seiffen der Verkauf von Holzspielzeug und vor allem „ Männln“, Nussknackern, Räuchermännchen, Pyramiden und Schwibbögen, die helles Licht in ein dunkles Winterland und in etliche Exportmärkte bringen. Die Schnitzer und Dreher entstanden, als das Silber versiegte. Einst Nebeneinkunft, wurde das Weihnachtsbusiness zum wichtigen Wirtschaftsfaktor beider Regionen.
Die Weihnachtsindustrie in Alicante setzt mittlerweile jährlich fast eine Milliarde Euro um, 80 Spielzeugfabriken hängen von ihr ab, 12.000 Menschen im Vinalopó-Tal leben von den Tafeltrauben, die man in Spanien zu Silvester verzehrt, der Turrón aus Alicante und Jijona ist landesweit die Weihnachtssüßigkeit schlechthin, genauso wie der Weihnachtsstollen aus Dresden oder dem Erzgebirge in Deutschland. Hier wie dort stehen pflanzliche Weihnachtssterne auf den Tischen, die Flor de Pascua oder de Navidad, wächst für fast ganz Europa heute in Alicante und Murcia auf Festtagsgröße heran.
Doppelte Bescherung
Die spanischen Kinder waren besonders clever. Fand die Bescherung auf der Halbinsel traditionell mit dem Einzug der Heiligen Drei Könige am 6. Januar statt, setzten sie bei ihren Eltern durch, dass man den Gepflogenheiten im Rest Europas des 24. und 25. Dezembers zu folgen hatte. Die armen Eltern müssen nun zweimal bescheren. Und kochen. Denn Weihnach
Die Gemeinsamkeiten gehen tiefer – tief in die Berge
ten ist ja nirgendwo ohne großes Tafeln denkbar. Der festtägliche Klumpen im Bauch ist als befriedender Anker in vielen Familien auch unumgänglich. Zu Heiligabend serviert man in Spanien gebräuchlicherweise ein üppiges Menü, das sich über Stunden hinzieht.
Edle Meeresfrüchte, vor allem die Gambas rojas, die Roten Garnelen, deren Kilopreis zum Jahresende dreistellig wird. Auf prachtvollen Platten kredenzt, folgt allerlei Fleischliches, der Schinken vom iberischen Schwein mit seiner pata negra, seiner schwarzen Hufe, darf nicht fehlen, ebenso die Käse aus der Mancha, in Moscatel-Wein gesottenes Kaninchen – gespart wird nicht.
Putxero und Neunerlei
In den Dörfern der valencianischen Berge aber ist zum Weihnachtsmale häufig der Putxero Valencià oder de Nadal der Favorit, der Weihnachtseintopf. Sozusagen die Königsdiziplin der Cocidos, die man in Spanien in dem, was man dort Winter nennt, den leichten Tapas vorzieht. So wie man im Erzgebirge an Heiligabend nicht schnöde Würstel mit Kartoffelsalat isst, sondern das Neunerlei, ein symbolträchtiges Menü aus neun Zutaten, die man alle zu probieren hat, sonst kommt das Unglück über Mensch und Vieh. In meiner Familie kochen meist die Männer, nicht nur zu Weihnachten. Mein gesteigertes Interesse am Treiben in der Küche der Schwiegereltern brachte mir eine skeptisch hochgezogene Augenbraue des Schwiegerpapas, aber Pluspunkte bei der Suegra ein.
Beides sind deftige Weihnachtsessen einfacher Menschen, ganz ohne Gans. Hier wie dort ist die Zubereitung selbst schon ein tagesfüllendes Event. Dass die Frauen in Valencia schon im Morgengrauen des Heiligen Abends aufstehen, um die Olla zum Kochen zu bringen, ist sogar in Liedern verewigt. Neun Zutaten sind beim Putxero wie beim Neunerlei unabdingbar. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Wikipedia-Artikel zu diesem traditionellen erzgebirgischen Weihnachtsmahl nur in einer einzigen weiteren Sprache verfügbar ist, nämlich auf Spanisch.
Im Unterschied zum deutschen Eintopf, isst, nein, zelebriert man Fleisch, Gemüse und die im Idealfall gülden glänzende Brühe des Putxero getrennt und hübsch der Reihe nach und jeder Bissen hat seine Bedeutung. Wie auch beim Neunerlei im Erzgebirge. Die extrahierte Brühe des Putxero wird am nächsten Tage wenn man in Deutschland zur Gans schreitet gerne noch mit Fadennudeln oder Reis angereichert, sozusagen gestreckt. Aus dem Bodensatz, ergänzt um Gehacktes, Pinienkerne und Zitronenabrieb werden Fleischklöße geformt, die der Brühe nochmals Intensität verleihen. Einige Dörfer umwickeln diese Bälle noch mit Kraut. Das Gericht nennt sich dann Cocido con pelotas oder auch Faseguras und ist nichts weniger als ein Gedicht. (Rezepte Putxero und Neunerlei, Service, Seite 8).
Anstelle des Stollen gibt es den Turrón, eine Variante des türkischen Honigs in allen Farben, die Zucker, Mandeln, Honig, Rosinen, Feigen und Schokolade ermöglichen, es ist dies eines der vielen nützlichen wie schmackhaften Erbschaften der Mauren. Just hier in Alicante ist die Hauptstadt des Turrón, Jijona, von der der einzig echte, wahre dieser Honigkuchen nach ganz Spanien geht so wie der beste Stollen bekanntlich aus dem Erzgebirge und nicht aus Dresden oder gar Nürnberg kommt. In traditionellen Familien wird beides nicht vor Weihnachten angerührt, früher aus Sparsamkeitsgründen, heute wegen der
Qualität. Die Lagerung tut dem handgemachten gut. Etwas Weihnachtliches hat Valencia sozusagen von Natur aus, dass das Weihnachtsland Erzgebirge importieren muss: Orangen, die Weihnachtsfrucht par excellence, auch Mandarinen, pflückt man sich hier nämlich im Dezember direkt von den Bäumen.
Lieder mit 100 Strophen
An der Darreichungsart erkennt der Leser leicht eine weitere Parallele zwischen Spanien und Deutschland, die sich auf alle Weihnachten feiernden Völker ausdehnen lässt, nämlich die besinnungslose Völlerei in besinnlicher Stunde. Die Geduld der Chicos und Chicas wird in Spanien durch dieses endlose Mahl auf eine ebenso harte Probe gestellt wie es bei den Burschen und Madln oder auf Erzgebirgisch Gunge und Maad der Fall ist. Oh, endlose Qual: Noch bevor der Weihnachtsmann oder das Christkind oder der Papá Noel kommt und endlich Geschenke bringt, wird gesungen, hier wie dort.
Im Erzgebirge singt man das Heiligabendlied, in waldfinsterer Mundart. Es ist 200 Jahre alt und hat im Original 13 Strophen, über 100 kamen im Laufe der Zeit hinzu, die allen möglichen Dorftratsch humoristisch bis zotig aufbereiten und unter lautem Gelächter reihum vorgetragen werden. Gleiches widerfuhr mir in Monóvar. Zieht man sich in Deutschland zur Heiligen Nacht eher in die Kleinfamilie zurück, werden es in Spanien stündlich mehr Leute, primos und tías so weit das Auge schauen kann – der Ort kommt im wesentlichen mit drei Nachnamen aus. Einige tratschen, andere trinken oder kiffen. Alle sind fröhlich oder betrunken, die meisten beides, für familiäre Konflikte hat man den Rest des Jahres. Als einer die Gitarre hervorholt, stimmen alle zum „ Ande, ande, ande“ein. Die „ Marímorena“ist genauso ein weihnachtlicher Bänkelgesang, im RumbaRhythmus, schon über 300 Jahre alt, der von der María Morena singt, die zur Kirche geht, mit unendlich vielen Strophen, traditionellen und solchen mit teils frechem Lokalkolorit.
Der nächtliche Gang zur Kirche geschieht hier wie da eher aus Neugier und Tradition, in Annaberg singt man, in Monóvar küsst man dem Jesulein die Füße. Es wird höflich gegrüßt, hier wie dort besucht und lacht man mit ein paar alten Freunden der Familie, die nicht mehr aus dem Haus können oder wollen. Dunkel sind die Straßen und bald fast menschenleer, drinnen glänzen Lichter, Bäckchen und Augen, bei den Großen hier vom Anis oder dort vom Vogelbeerschnaps getrübt – und von der Last des Lebens.
Hell und rein aber glänzen Kinderaugen vor Aufregung, Freude, Zuckerguss und Überdrehtheit. Ein Glanz, der von innen kommt. Weihnachten ist kein Ort, sondern ein Gefühl. „ Sí, sí la ilusión de Navidad“, macht es Schwiegerpapa kurz, kippt noch einen Kurzen und streicht seiner Frau, die natürlich María heißt, zart über die Hand.