Murcia als Silicon Valley
Sozialanthropologe Klaus Schriewer vergleicht die deutsche und spanische Wirtschaft: „Grundlegend unterschiedlich“
Welche Philosophie steckt hinter der deutschen und der spanischen Wirtschaft? Wie haben sich die Länder in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Und was unterscheidet Deutschland und Spanien? Grundlegendes“, sagt Klaus Schriewer, seit 2007 als Professor für Sozialanthropologie an der Universität von Murcia tätig. Der deutsche Kulturverein Amudal in Murcia hatte Klaus Schriewer eingeladen, einen Vortrag zu halten über Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Wirtschaft und Arbeit. Deutschland und Spanien im Vergleich“.
CBN: Herr Schriewer, worin bestehen die Unterschiede?
Klaus Schriewer: Spanien setzt viel weniger auf Innovation als Deutschland. Das ist der große Unterschied. Viele große Firmen kommen von außerhalb. Ein gutes Beispiel dafür ist die Automobilindustrie mit Seat, Renault, Ford, Toyota, die alle in Spanien produzieren. Aber der Reichtum bleibt nicht im, sondern bei den Firmen im Ausland.
Wo liegt das Problem der spanischen Wirtschaft?
Die spanische Wirtschaft setzt auf Tourismus, Landwirtschaft und Baugewerbe. Diese Sektoren erfordern kaum hochausgebildete Mitarbeiter, die eine robuste Wirtschaft aber braucht. Deutschland hat in der Krise wesentlich weniger gelitten als Spanien.
Aus welchen Gründen setzt Spanien auf Landwirtschaft und Tourismus?
Vermutlich waren es Standortvorteile. Dass das Konzept Sol y Playa funktioniert, hat man auf Mallorca gesehen, als die ersten Charterflüge kamen. Die Landwirtschaft wurde unter der FrancoDiktatur (1936-1977) gefördert mit Kolonialisierungsprojekten wie El Ejido. Nachdem dort Wasser gefunden worden war, wurden Leute angesiedelt, die auf 3.000 Quadratmetern intensive Landwirtschaft betreiben sollten. In Murcia wurde der Kanal gebaut, der Wasser aus dem Fluss Tajo in den Río Segura führt. Das System wurde schon in der spanischen Republik geplant und von Franco ausgeführt. Die Landwirtschaft in Murcia profitiert von dem Kanal. Seit dem Eintritt in die Europäische Union wird das ganze Obst und Gemüse nach Nordeuropa exportiert.
Gibt es Bestreben, hochentwickelte Industrien in die Region zu holen?
In Murcia gibt es eine Firma, die für die Flugzeugindustrie produziert. Über Förderprogramme wird auch Geld investiert. Aber die Zusammenarbeit mit den Universitäten und der Privatwirtschaft funktioniert einfach nicht. Es müsste andere Anreize geben.
Zum Beispiel?
Technologie-Firmen könnten mit Vergünstigungen angelockt werden. Gerade Murcia, Alicante und Valencia sind Regionen, die allein wegen des Klimas eine hohe Lebensqualität bieten, so wie Silicon Valley in Kalifornien. Und es gibt viele junge Leute, die eine gute Universitätsausbildung haben, aber weggehen, weil sie hier in ihrem Bereich nicht arbeiten können.
Wie ticken spanische Unternehmen?
Da ziehe ich gerne den Vergleich mit Dänemark heran, wo ich eine Zeit lang gearbeitet habe. In Dänemark setzen sich Gewerkschaften und Betriebsführung an einen
Tisch, um gemeinsam Lösungen für bestimmte Probleme zu finden. In Spanien sehe ich eher ein Gegeneinander. An der katholischen Universität in Murcia wird gerade versucht, eine Gewerkschaftsvertretung aufzubauen. Ein einziger großer Konflikt. Die Gewerkschaft wird nicht als eine Möglichkeit gesehen, sondern als Bedrohung.
Welche Rolle spielt die Gewerkschaft im Vergleich?
Die spanischen Gewerkschaften sind stark im öffentlichen Sektor vertreten, aber nicht in der Privatwirtschaft. Das liegt auch daran, dass es viele Kleinstunternehmen gibt. Wenn Gewerkschaften nicht nur als Forderer von höheren Löhnen und weniger Arbeit gesehen werden, sondern als seriöse Partner, die auch ein Interesse daran haben, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, dann ist es sinnvoll, sie zu beteiligen. In Deutschland sitzen Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsräten der großen Firmen.
Was kann sich die spanische Wirtschaft von der deutschen abgucken?
Ganz klar das duale Ausbildungssystem. Ich habe in den letzten fünf Jahren versucht, mit dem Land Niedersachsen in Yecla ein europäisches Projekt auf die Beine zustellen. In Yecla sind viele Möbelfirmen angesiedelt, mit denen wir das duale System als Pilotprojekt durchführen wollten.
Was nicht geklappt hat.
Weder die Regionalregierung noch die Betriebe und Berufsschulen haben ein Interesse daran. Bei dem jetzigen Ausbildungssystem bekommen die Firmen für drei Monate einen jungen Lehrling und können schauen, ob sie ihn vielleicht behalten oder nicht. In Deutschland übernehmen die Firmen mit der Ausbildung eine gesellschaftliche Verantwortung. Ich glaube, dass das auch sehr gut für Spanien wäre.
Aber die Regionalregierung in Murcia wirbt mit einer Formación Profesional Dual, einer dualen Ausbildung.
Ich nenne das chapuza (Pfuscherei). Das ist eher politische Propaganda als duale Ausbildung. Hier in Spanien hat die Formación Profesional, die Berufsausbildung, ein sehr schlechtes Prestige. Deshalb wollen alle an der Uni studieren. Die Abschlüsse haben einen viel höheren Stellenwert. In der Schweiz ist das genau umgekehrt. Die Fachleute mit einer Berufsausbildung haben ein höheres Ansehen als Akademiker mit zwei linken Händen, die als etwas verschroben gelten.
Muss ein Umdenken in der spanischen Wirtschaft einsetzen?
In Deutschland sind die Firmen eingebunden in Entwicklungsprozesse. Berufsschulen, Betriebe, Behörden und Handelskammern erarbeiten gemeinsam zukünftige Profile von Fachkräften, die in der Wirtschaft benötigt werden. Es ist erstaunlich, wie sich ein Berufsbilder in 15, 20 Jahren verändern kann. Hier in Spanien läuft das anders. Eine Schulbehörde ordnet an, was die Auszubildenden Neues lernen haben.
Ein weiterer Unterschied zwischen deutscher und spanischer Wirtschaft?
Spanien ist kapitalschwach. Im Bergbau im 19. Jahrenhundert waren es französische, belgische und britische Firmen. Spanien hatte noch nie das Kapital, selbst etwas aufzubauen und wenn doch, wurde es für etwas anderes ausgegeben.