Brexit, so what?
EU-Austritt scheint viele britische Residenten nicht aus der Ruhe zu bringen
Die Briten begegnen dem Austritt aus der Europäischen Union mit gemischten Gefühlen. Manche Residenten sind verunsichert, einige fürchten auch Nachteile für ihr Leben an der Costa Blanca, etwa bei der Gesundheitsversorgung. Bei vielen aber löst der Brexit nach drei Jahren Hickhack nur noch ein Schulterzucken oder eine schelmische Schadenfreude darüber aus, dem entfremdeten Bürokratiemonster namens EU mal eins ausgewischt zu haben. Kaum einer erwägt, deswegen auf die Insel zurückzukehren – zumal sich bis Jahresende wenig ändert. Dabei trügt die Ruhe. Auf politischer Ebene kommen wichtige Verhandlungen auf Spanien, die EU und Großbritannien zu.
Da ist sie ja noch! Die Flagge des Vereinigten Königreichs: Der Union Jack. Es ist ein historischer Morgen vor dem EU-Amt für geistiges Eigentum (Euipo) in Alicante. Am 1. Februar ist Brüssel ohne London aufgewacht – und der Brexit ist Realität. Nur noch 27 Nationalflaggen wehen am Euipo. Aber den Union Jack entdecken wir, wie gesagt, auch. Jedoch nur auf der anderen Seite der Allee, die tatsächlich ein länglicher Kreisverkehr ist: vor der britischen Schule.
Nie wirkten die zwei Seiten weiter voneinander weg als heute. Längst war Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eingetreten, 1973, als diese Kreisel-Straße, die Glorieta Reino Unido („Vereinigtes Königreich“) entstand, und daneben das EUAmt (1994), die britische Schule (2000) und das moderne Alicante Hills. Eine neue, unsichtbare Mauer trennt nun, im Februar 2020, den so zukunftsorientierten Bezirk.
Dass letzte Nacht auch hier europäische Geschichte geschrieben wurde, liegt nicht in der Luft. Unter der lachenden Sonne bläst ein angenehmer Wind. Auf dem funkelnden Meer schaukelt ein Bötchen, wie ein verlorener Stern auf einer blauen Flagge. Spaziergänger machen es sich auf der Glorieta bequem. Ein Autofahrer biegt in die Urbanisation, frech das Rondell gegen die Fahrtrichtung abkürzend, von der Seite der Euipo auf die Seite der britischen Schule.
Im „Que será, será“-Modus
Mal sehen, ob er auf die unsichtbare EU-Mauer prallt... Nein, unbekümmert rollt er in die Garage. Am Brexit-Morgen bleibt hier in Klein-Brüssel alles ruhig. Kein Wunder, es ist Samstag, Euipo und British School haben frei. Ganz anders muss das Erwachen weiter im Süden gewesen sein. Im Little Britain der Costa Blanca, in den La Marinas, Ciudad Quesadas, Gran Alacants und wie sie alle heißen.
Rund 70.000 Menschen aus dem Vereinigten Königreich bewohnen laut Statistikinstitut INE die Provinz Alicante. Waren es wohl 70.000 schlaflose Nächte zum 1. Februar? Viel mehr könnten es gewesen sein, da es sich nur um die
Zahl der Gemeldeten handelt. Weitaus höher wird sie, wenn man die Briten mit einrechnet, die unangemeldet Spaniens Sonne genießen.
1.000, 3.000 und 6.000 Bürger aus dem Land der Queen bewohnen jeweils offiziell die Urbanisationen von Santa Pola, San Fulgencio und Rojales. Wie haben sie ihn erlebt, den Brexit-Morgen 2020?
„ Ich habe die Treppe gewischt, Tische aufgestellt, gekocht – wie immer“, erzählt Angie Simons, die eine Fish&Chips-Bar in Gran Alacant betreibt. Seit 13 Jahren in Spanien, gemeldet, Steuern zahlend, wolle sie auch bleiben. „ Ich bin eine ‚ Qué será, será‘-Person“. Qué será, será. Was sein wird, wird sein. Die Barfrau nimmt die Fernbedienung, um leiser zu stellen.
„ Im Fernsehen läuft gerade soviel Zeug zum Brexit. Etwa: Was bedeutet er für Ihre Roaming-Gebühren? Ich kann es nicht mehr hören – das Meiste ist doch völlig unerheblich für unser Leben“, lacht sie angestrengt. Auch wenn sie sich spanisch fühle, verletze es sie, wie man angesichts des Brexits über ihr Heimatland berichte.
„ Vor einigen Jahren nannte man Portugal, Italien, Griechenland und Spanien Europas ‚ PIGS‘ (Schweine), nun sind wir es wohl.“Mit einer Handbewegung blättert sie scheinbar eine Seite weiter.
„ Looks like rain on Wednesday“, klagt in einer Bar etwas weiter in der Straße ein Mann zu seiner Partnerin. Das Wetter: die einzige Zukunftssorge, die wir aufschnappen. Mehrere englische Unterhaltungen laufen gleichzeitig – in keiner geht es um den Brexit. An einem Tisch plant zum Beispiel Shaunagh Chapman mit ihren Freunden Joanne und Paul Whearity ihren Flug nach England.
Ohne EU wie ohne Handy
„ Für uns ist der Brexit kein Thema“, so Joanne Whearity. „ Es ist alles dazu gesagt, und doch weiß man nichts, auch wenn einem das vorgegaukelt wird.“Der Tisch ist sich einig: Furcht bereite ihnen der EU-Ausstieg nicht. „ Wir sind MittFünfziger, eine andere Generation als die heutigen jungen Leute. Wir nennen sie ‚ Snowflakes‘, Schneeflocken, in ständiger Angst lebend.“
„ Als Teenager reisten wir quer durch Europa“, erzählt Chapman, „ ohne EU, ohne Handy. Heute denken die Jungen, dass ohne diese Dinge die Welt untergeht.“Ob die drei nicht zumindest wegen des bröckelnden europäischen Zusammenhalts traurig seien? „ Die EU war für ganz andere Zwecke geschaffen worden, als sie das heute ist“, antwortet Paul Whearity.
„ Man wollte freien Handel – und den Frieden nach dem Krieg sichern. Heute will man die Vereinigten Staaten von Europa schaffen...“Seine Frau fährt fort: „... geführt von einer liberalen Elite, die es sich oben gut gehen lässt, völlig am Bürger vorbei.“„ Es ist alles nur noch Bürokratie“, murrt er.
Exodus ohne Zahlen
Bürokratie, deren Fehlen aber viele Landsleute verunsichert. Wie viele es sind, die Spanien nach der Brexit-Wahl den Rücken kehrten, ist ungewiss. In Orten wie San Fulgencio – wo mehr Ausländer als Spanier wohnen – sank die Zahl der gemeldeten Briten zwar zwischendurch klar. Allerdings war das wohl vor allem die Folge fehlender Anmeldungen der Bürger.
„ Persönlich kenne ich niemanden, der aus Angst vor dem Brexit heimgekehrt ist“, sagt Darren Parmenter (PSOE), San Fulgencios britischer Stadtrat für internationale Beziehungen. Auch Restaurantbetreiber Don Rountree stellt keinen Exodus fest: „ Meine Kunden sind höchstens ein wenig beunruhigt. Sie sagen: Wir haben das nötige Geld, was soll da passieren?“
Anders sieht es Friseurin Michelle Sellers. An die 30 Kunden seien wegen des Brexits weggezogen. „ Man hört, dass man bald für die Gesundheitsversorgung zahlen muss und keine Rente bekommt – aber in Wirklichkeit sind es nur Dinge, die die Menschen in einer
Bar aufschnappen, und eigentlich keiner sicher weiß.“Ob der britische Exodus nun real oder nur gefühlt ist: Trotzig schwammen die Whearitys dagegen an. Vor zwei Jahren – längst war der Brexit beschlossen – begannen sie ein spanisches Leben in Gran Alacant.
„ Wir sind noch keine Rentner, und hier sind die Lebenshaltungskosten eben niedriger“, erklären sie. Allerdings wohnten sie vorsichtshalber nur zur Miete. „ Bitte stellen Sie uns nicht als rechte Extremisten dar, weil wir die EU kritisieren“, sagt Joanne Whearity. In den Massenmedien würden kritische Stimmen dauernd in ideologische Ecken gestellt. „ Das sind die ganz normalen Menschen leid. Es scheint, als hätte nur eine Handvoll Leute in London das Sagen“, meint die Britin. „ Davon ließ sich auch David Cameron damals täuschen als er dachte, das Votum ginge klar für die EU aus.“
Die „ schweigende Mehrheit“ihres Heimatlandes habe die Brexit-Abstimmung dazu genutzt, ihren Protest kundzutun. „ Wer sagt denn, dass die Trennung nicht das Beste ist?“, fragt Whearity, die am 31. Januar in aller Ruhe einschlief.
In San Fulgencio ging auch Stadtrat Darren Parmenter früh zu Bett. „ Es war einfach traurig, im
Fernsehen zu sehen, wie das EUParlament unsere Flagge abhängte. Und schon gar nicht wollte ich jubelnde Brexit-Befürworter in London und anderen Orten sehen“, berichtet der 58-jährige Londoner in der Zeitung „ La Razón“.
Erst einmal keine Panik
Als überzeugter EU-Anhänger sei Parmenter nun zwar betrübt, doch auch beruhigt. „ Heute, am 1. Februar, gibt es für uns weniger Fragezeichen als noch vor mehreren
Monaten. Eben weil man weiß, dass die Änderungen in den Renten oder der Gesundheitsversorgung nur diejenigen betrifft, die sich ab 2020 anmelden – und nicht die, die bereits hier sind.“
Soviel sei also sicher. Ansonsten sei zumindest bis Ende des Jahres ein „ Wait and see“(Warten und sehen) angebracht, und keine panische Flucht. „ Es werden so manche am Morgen des 1. Februar gedacht haben: ‚ Was haben wir getan?‘“, sagt der Brite noch.
„Wer sagt denn, dass die Trennung nicht das Beste ist?“