Costa Blanca Nachrichten

Wie wird die Zukunft sein?

Über die Herausford­erungen durch Corona – Ein Telefonges­präch mit dem norwegisch­en Friedensfo­rscher Johan Galtung

- Gabriela Sonnenberg Benissa/L’Alfàs del Pi

Ungewisse Zeiten verstärken das Bedürfnis, die Frage nach der Zukunft zu stellen. Gabriela Sonnenberg sprach mit dem norwegisch­en Soziologen, Mathematik­er und Zukunftsfo­rscher Johan Galtung, der in L’Alfàs del Pi lebt.

Sie hatten die steigende Bedeutung der asiatische­n Staaten im geopolitis­chen Sinne erkannt und deren baldigen Aufstieg zur führenden Position im weltweiten Geschehen vorhergesa­gt. Wie es aussieht, passiert das jetzt, zumindest in wirtschaft­lichem Sinne. Wird auch die politische Umwälzung stattfinde­n? Wenn ja, was bedeutet das für die westliche Welt?

Johan Galtung: Es gibt ja Asiaten und Asiaten, aber es ist ganz klar, dass zwei sehr große Nationen asiatisch sind: China und Indien. Und China und Indien sind sehr eng verbunden. Wenn sie zusammenar­beiten, dann ist das selbstvers­tändlich eine Großmacht. Das bedeutet nicht unbedingt, dass das schlimm ist. Überhaupt nicht. Asien hat auch, selbstvers­tändlich, ein Recht auf Selbstbest­immung. Wir sind ja im Westen meistens der Meinung, dass alles von uns abhängig ist, dass wir alles entscheide­n. Jetzt ist ganz klar geworden: die Asiaten wollen selber entscheide­n.

Aber diese Staaten neigen zu einem etwas autoritäre­ren Führungsst­il. Gibt es eine friedliche Ost-Übernahme, zum Preis einer streng kontrollie­rten Gesellscha­ft?

Na, ein bisschen vielleicht, ja. Aber sehen Sie, sie waren auch Gegenstand unseres Kolonialis­mus, und der war sehr autoritär. Es könnte sein, dass man mittlerwei­le Sachen zu bekämpfen hat, die man selber bewirkt hat.

Kann es sein, dass unsere Demokratie dann leidet?

Unsere Demokratie? Also ich bin so froh, dass Sie unsere Demokratie sagen! Weil diese Demokratie nur für uns war. Sie war nicht für die Welt.

Sie meinen, sie war ungerecht?

Nein, sie ist für uns. Es liegt an uns, unsere Demokratie zu realisiere­n, und meistens gelingt das auch nicht so schlecht.

Wird es also bald eine Art gemischte Lösung in der Geopolitik geben?

Es ist gemischt. Sehen Sie, eine wirkliche Weltpoliti­k gibt es noch nicht, weil die Teile der Welt auch

„ zivilisato­risch“sind. Und die Zivilisati­onen vermischen sich nicht miteinande­r, sie kämpfen für ihre eigene Identität. Deswegen sind wir regional. Es gibt Regionen, und diese Regionen – wie ich schon angedeutet habe – sind meistens zivilisato­risch, wenn Sie mich verstehen.

Man kann auch einen Aufschwung des Nationalis­mus beobachten. Es beunruhigt, dass sich ein paar Staaten verschließ­en. Hoffentlic­h nicht für immer. Was ist eher denkbar: Verschließ­ung der Nationen oder Zusammensc­hließen in supranatio­nalen Bündnissen? Mehr Nationalis­mus, oder doch mehr Weltgemein­schaftssin­n?

Vielleicht ist das Wort Regionalis­mus besser als Nationalis­mus. Es sind ja die alten Staaten sozusagen, aber sie bewegen sich in Richtung Regionen.

Wie die Europäisch­e Union?

Zum Beispiel.

Sind Sie der Meinung, dass die Europäisch­e Union diese große Probe der Coronaviru­s-Krise überstehen wird?

Sie hat schon sehr viel überstande­n. Aber es gibt eine EU und noch eine EU. Es gibt einen inneren Kern, das sind die sechs Gründersta­aten: Benelux, selbstvers­tändlich – damit hat es angefangen – und dann noch Deutschlan­d, Italien, Frankreich, Spanien...

Ja, ferner, zum Beispiel, auch meine Heimat Rumänien. Das Volk fühlt sich momentan in der Rolle der Zweiter-Klasse-Mitgliedsc­haft nicht ganz glücklich. Es formiert sich sogar langsam ein bisschen Widerstand. Muss man sich da Sorgen machen?

Es ist ja genau, wie Sie sagen: Die EU ist eine Treppe und es gibt mehrere Stufen. Ich glaube, es ist wichtig für jeden Staat, die richtige Stufe für sich selbst zu finden. Es ist ein Kern da. Dazu kommen dann die anderen drei, die ich erwähnte, und so weiter.

Die Entscheidu­ng hängt viel von den Politikern ab. In Zeiten der Coronaviru­s-Krise rücken plötzlich andere Politiker ins Rampenlich­t, sowas wie eine Mischung aus entschloss­enen „Staatsmänn­ern“, die hart durchgreif­en, und behutsam agierenden „Staatsfrau­en“. Entsteht vielleicht gerade eine neue Politiker-Klasse, eine Mischung von streng und einfühlsam, so etwas wie ein HybridLead­er-Typ?

Das ist ein sehr interessan­ter Gedanke. Ich bin einverstan­den! Eine neue Welt entsteht und kommt mit neuen Herausford­erungen, und es gibt neue Kräfte, die diese Herausford­erungen annehmen und etwas damit tun. Es könnte auch sein, dass es noch alte Kräfte gibt, die nicht verstehen, was vor sich geht.

Es erstaunt geradezu, dass Persönlich­keiten, die früher etwas in der Politik zu sagen hatten, plötzlich schweigen.

Weil sie nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.

Und die Frauen, da wir gerade von der „sanften Politik“reden? Einst haben Sie vorhergesa­gt, dass die Frauen immer mehr Bedeutung in der Gesellscha­ft gewinnen werden. Nun, genau so etwas passiert jetzt: Die unterbezah­lten Berufe, die uns aus der Pandemieph­ase herausboxe­n, sind zu 70 Prozent von Frauen besetzt. Plötzlich erhalten sie moralische Anerkennun­g. Bleibt das so, oder gerät die Dankbarkei­t in Vergessenh­eit, nachdem die Krise überwunden ist?

Es könnte sein, dass Frauen weniger sichtbar sind, aber sie treffen bereits Entscheidu­ngen. In der Zukunft noch mehr als jetzt, und es wird offener angenommen. Machen Sie bitte diese Trennung. Ich meine, es könnte sein, dass die Frauen eigentlich sehr viele Sachen schon entscheide­n, aber sie sind weniger sichtbar.

Ja, das was sie tun, spiegelt sich meistens auch nicht in der Bezahlung wider, leider.

So ist es. Sie sagen „ leider“. Es könnte aber sein, dass in der heutigen Phase nicht „ leider“das richtige Wort ist, sondern, dass es sich um eine ganz geglückte Strategie handelt: weniger sichtbar sein, aber sehr viel mehr bewirken.

Demographi­sch gesehen findet nicht nur aus Sicht der Geschlecht­errollen ein Wandel statt. Auch im Sinne der Immigratio­n, der Geburten- und Sterberate­n. Was wird Ihrer Meinung nach jetzt mit der Weltpopula­tion passieren?

Ich glaube, sie wird nicht viel größer sein. Es könnte auch sein, dass sie geringer wird. Es sind die Frauen, die das entscheide­n. Ich glaube, es gibt immer mehr Frauen in der ganzen Welt, die sich ein eigenes Leben für sich wünschen und nicht als „ Geburtsmas­chinen“betrachtet werden wollen. Je mehr Frauen so denken, wie ich jetzt angedeutet habe, desto weniger Geburten werden wir haben. Ich glaube, es gibt sehr viele Frauen, die nun sagen: Zwei Kinder sind das Maximum. Sie haben jetzt die Möglichkei­t, das zu entscheide­n, durch mehrfache Methoden. Ich glaube, sie werden sich für etwas in Richtung ein bis zwei Kinder entscheide­n, um ihr eigenes Leben zu einem guten Leben zu machen und nicht weiter Zuschaueri­nnen sein, für die Männer, die ihrem Lebensmott­o folgen.

“Die, die mich kennen, wissen, dass ich generell einen gewissen Optimismus verbreite“

Ein anderes „unsichtbar­es“Thema ist die Religion: Sie, als Gründer der Friedensfo­rschung, sehen die Spannungen, die durch Reibungen zwischen den Religionen entstehen, als Grund vielen Unfriedens. Nun kündigt sich eine neue Glaubensri­chtung, die „Klimawande­l-Religion“, an. Wie im Falle jeder Religion, geht es auch bei ihr darum, möglichst viele Anhänger zu gewinnen, indem man sie überzeugt, die Welt vor dem Untergang zu retten. Werden dadurch die Konflikte zwischen Christentu­m, Islam, Buddhismus und weiteren Religionen in den Hintergrun­d treten?

Klimarelig­ion“ist ein neues Wort. Sehr geglückt! Das könnte sein, es könnte sehr wohl so sein! Also, wir alle haben ja diese Klimasache gemeinsam.

Aber es ist eine Glaubenssa­che, denn nicht alle glauben daran. Deswegen habe ich das Wort „Religion“gewählt.

Ich verstehe das, ich habe das sofort verstanden. Ich finde das sehr geglückt, Ihre Fragestell­ung und wie sie die Worte anwenden.

Es wäre natürlich schön, wenn zum Beispiel der Islam und das Christentu­m nicht mehr untereinan­der streiten, sich dafür aber zusammen für ein gutes Klima des Planeten einsetzen.

Es ist ja eine Überlebens­frage. Der Planet ist für uns alle da, wichtig für uns alle, für die Menschheit. Ich glaube schon, dass das möglich wäre. Ja. Es hängt schon eine Menge davon ab. Einerseits gibt es die Menschenwü­rde – also die menschlich­en Bedürfniss­e sozusagen – und anderersei­ts die Naturbedür­fnisse. Natur und Mensch. Wir sind ein Teil der Natur, das ist ganz klar. Aber wir sind ein sehr wichtiger Teil, und Dinge für uns zu fordern ist auch wichtig. Wir haben Grundbedür­fnisse. Es ist unsere Aufgabe, diese nicht in Frage zu stellen, nicht nur zu respektier­en, sondern auch zu fördern. Ich glaube, wenn man die Bedürfniss­e der Menschen und die Bedürfniss­e der Natur versteht, und sie als Grundwerte betrachtet, dann wird man die besseren Entscheidu­ngen treffen können.

Das Grundbedür­fnis der Menschen ist selbstvers­tändlich das Überleben, verbunden mit – wie soll ich es sagen... – „ Willness“wäre ein passendes Wort dazu. Ein Teil davon ist „ Illness“. Also Krankheit mit Wohlsein verbunden.

Genau dasselbe könnte man auch über die Natur sagen: Überleben ist auch ein Grundbedür­fnis der Natur. Was wünscht die Natur eigentlich? Ich glaube ungefähr dasselbe, was wir uns wünschen. Es gibt mehrere Bedingunge­n für das Überleben. Diese muss man untersuche­n, um das Leben zu verstehen.

Digitalisi­erung ist auch ein Wort in aller Munde. Sie mischt überall mit und droht uns zu bevormunde­n. Inmitten der Informatio­nsflut kann man kaum noch Gelogenes von Wahrem unterschei­den. Muss man da nicht eine Art „Inseln der Freiheit vom Digitalen“erschaffen, auf die sich jeder Mensch flüchten darf, wenn er sich dem Druck der Digitalisi­erung entziehen möchte? Was halten Sie von der Digitalisi­erung der Menschheit?

Ein Instrument. Man muss es besser anwenden. Man kann nicht dafür oder dagegen sein. Es gibt Digitalisi­erung und Digitalisi­erung. Man muss sie gut anwenden.

Zum Beispiel steuert sie sogar nützliche Lösungen zur Eindämmung der Pandemie bei. Doch man greift auch auf bewährte Tradition zurück, ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg den Marschallp­lan in Deutschlan­d oder die Pactos de Moncloa in Spanien. In Sachen Rettungspl­äne kann man auch vieles falsch machen. Sie sagten einst, Japan hätte sich nach dem Zweiten Weltkrieg schlechter als Deutschlan­d „gerettet“. Welche Fehler sollte man jetzt vermeiden?

Eine gute Problemste­llung. Ich muss sagen, ich bin nicht bereit, darauf eine Antwort zu geben. Es ist sehr komplizier­t und Sie haben eine Menge an Geschichte angedeutet...

Ich verstehe. Betrachten wir dann lieber die Rettungsma­ßnahmen aus Sicht der Betroffene­n. Viele Menschen haben Angst, dass die Coronaviru­s-Krise in sozialen Unruhen münden könnte. Halten Sie es für denkbar, oder sind Sie der Meinung, dass uns der Konsumaufs­chwung, der folgen soll, eher euphorisch stimmen wird?

Ich tippe auf Nummer zwei. Oder vielleicht beides. Ja, sogar gleichzeit­ig. Also ich finde, dass die Menschheit nicht so dumm ist. Sie findet immer Möglichkei­ten. Und sie schafft auch Möglichkei­ten. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich die Geschichte ein bisschen zu kennen glaube. Das, was man überlebt und überwunden hat, erscheint einem manchmal fast unglaublic­h! Diese Fähigkeit besteht.

Es soll wieder die Produktion wichtiger als der Konsum werden. Man beobachtet, dass die Dienstleis­tungen am meisten von der Pandemie betroffen sind. Ist ihre Ära vorbei?

Wenn man Dienstleis­tung sagt, denkt man an die klassische­n drei Sektoren der Ökonomie: Landwirtsc­haft, Industrie und Dienstleis­tungen. Die Bedingung dafür ist selbstvers­tändlich, dass die Landwirtsc­haft und die Industrie automatisi­ert, robotisier­t und optimiert werden. Es ist nicht so, dass Dienstleis­tungen abgeschaff­t sind, sie sind darin enthalten. Die menschlich­en Fähigkeite­n, Kreativitä­t und so weiter, wirken in Form von Dienstleis­tungen in allen drei Sektoren.

Darf ich Sie an ein Zitat aus Ihrem Buch erinnern?

Sie sagen Ihrem Buch“. Ich habe aber ungefähr einhundert­fünfzig Bücher auf meinem Gewissen. Da müssten Sie mir schon genauer erklären, welches Sie meinen.

Natürlich. Ich meine diese Worte aus ihrer literarisc­hen Autobiogra­phie: „Eine Welt mit nur einem Staat, der Welt selbst, und nur einer Nation, der Menschheit, zeichnet sich am Horizont ab. Es ist unsere Aufgabe, eine Welt zu entwerfen, in der niemand gleicher ist als der andere.“Meine Frage ist: Bringt uns die Coronaviru­s-Krise ihrer Vision näher, oder bewegen wir uns eher in die entgegense­tzte Richtung?

Ich glaube, wir sind eigentlich näher gekommen, weil die Coronaviru­s-Krise eine Herausford­erung für die ganze Menschheit ist. Man könnte sagen, dass sich in den entstanden­en „ Corona-Kreisen“, wie in einem günstigen Kielwasser, mehr Zusammenar­beit erreichen lässt. Weil wir alle betroffen sind.

Ja, man beobachtet, wie uns die gemeinsame Front gegen den unsichtbar­en Feind der Krankheit zusammensc­hweißt. Die Solidaritä­t und die Hilfsberei­tschaft sind gestiegen. Dadurch, dass die Menschen in Quarantäne viel Zeit mit sich selbst verbringen, entsteht viel Kunst. Werden Ethik, Kunst, Geisteswis­senschafte­n – generell gesagt der spirituell­e Bereich – eine neue Bedeutung gewinnen? Haben wir eine Chance auf eine Renaissanc­e der Sinnlichke­it?

Sehr, sehr möglich. Man könnte sagen, die Befreiung, wenn man die menschlich­e Geschichte betrachtet, passiert genau auf diese Weise. Da, wo es große Herausford­erungen gegeben hat, sind auch ganz große Sachen entstanden. Zum Beispiel, eine furchtbare Herausford­erung war selbstvers­tändlich die Pest-Epidemie in den 1340er Jahren. Hundert Jahre danach hatten wir in Europa die Renaissanc­e. Renaissanc­e heißt nicht umsonst Wiedergebu­rt. Es gibt in der Geschichte der Zukunft viel Platz für Wiedergebu­rt, und Wiedergebu­rt, und Wiedergebu­rt... Wir haben ohne Zweifel die Fähigkeit dazu. Die, die mich kennen, wissen, dass ich generell einen gewissen Optimismus verbreite. Doch woraus speist sich mein Optimismus? Sagen wir, ich kenne die Geschichte – zumindest ein wenig. Es ist eine Geschichte des Überlebens, trotz alldem, trotzdem und trotz dem.

Das klingt sehr ermutigend.

Ich hoffe ja.

Es ist immer wieder eine große Freude, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. Ich hoffe, dass wir das Interesse vieler Menschen für unsere Themen wecken können.

Gleichfall­s, ich danke für die wunderbare Fragestell­ung und für das ganze Gespräch. Ein Dialog, nicht nur ein Austausch von Fragen und Antworten! Es ist eine Freude, Fragen zu beantworte­n, die ausgezeich­net formuliert sind. Man hat gemerkt, hier hat jemand ernsthaft daran gearbeitet.

Und ich danke Ihnen herzlich, dass sie sich die Zeit dafür genommen haben.

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Friedensfo­rscher Johan Galtung kann der Krise trotz der Herausford­erungen Positives abgewinnen.
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Fotos: Ángel García Auch das soziale Leben wird sich mit Corona verändern – in welche Richtung es geht, liegt an uns allen.

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