Costa Blanca Nachrichten

Liebe Leser,

- Stephan Kippes, Chefredakt­eur

ich wollte Ihnen mal was von einem Einkaufswa­gen erzählen, von einer ordinären

Haushaltsl­imousine mit Symbolkraf­t. Vielleicht wissen Sie ja, dass man in Spanien einen imaginärem Einkaufswa­gen hernimmt, um die Preisentwi­cklung zu messen. Dann sagt das Nationale Institut für Statistik, dass das Schweinefl­eisch in unserem Einkaufswa­gen dieses Jahr 8,2 Prozent mehr kostet als im April 2019. Lauter Nummern und

Zahlen landen da drin. Aber nun zurück zum echten Einkaufswa­gen. Es ist schon über zehn Jahre her, als ich ihn zum ersten Mal sah. Der stand da am Ausgang hinter den Kassen, und drin stapelten sich Milch über Nudeln, Reis und Linsen. Ich dachte erst, „ oha, das ist abgelaufen, da darf man was mitnehmen!“Von wegen, die Leute legten da Lebensmitt­el rein und gingen ihres Weges. Das waren die solidarisc­hen Einkaufswa­gen, die während der Wirtschaft­skrise in vielen Supermärkt­en standen. Nun kommen diese solidarisc­hen Einkaufswa­gen wieder, mit denen Bedürftige versorgt werden. Tolle Sache, eigentlich. Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll. Ehrlich, ich finde das furchtbar.

Hoffentlic­h kann dieser Einkaufswa­gen etwas Leid lindern. Eigentlich sollte er dort nicht stehen müssen, nicht in Spanien, nicht in Europa. Ich wuchs in der sozialen Marktwirts­chaft auf und verlor die Unschuld, als das Scheitern des Generation­envertrags diskutiert wurde. Solidaritä­t mutete anders an, Risse im Sozialsyst­em bemerkte ich eigentlich erst beim Zeitungsau­stragen, weil in bestimmten Vierteln bestimmte Leute wohnten. Aus den Rissen von einst sind die Gräben von heute geworden. Was ist passiert? Damals gab jeder etwas ab, damit an alle genug verteilt werden konnte. Niemand musste in einer Schlange vor der Lebensmitt­elausgabe einer Hilfsorgan­isation stehen. Wir waren eine fortschrit­tliche Gesellscha­ft, heute sind wir in sozialer Hinsicht kolossal gescheiter­t.

Unsere Solidaritä­t heute vermittelt den falschen Eindruck, dass der Starke dem Schwachen hilft. Wer ist denn heute stark und wer schwach? Wir sind alle nur Nummern. Und irgendeine bezieht sich auf unseren Namen. Vielleicht rangieren wir bei den 25 Prozent unter der Armutsgren­ze, oder befinden uns unter den vier Millionen in der Kurzarbeit, oder unser Unternehme­n ist eins der Tausenden, das vor die Hunde geht oder wir stehen in der Liste des Gesundheit­sministeri­ums als einer der xy-Covid-19-Patienten, der auf die Intensivst­ation musste. Wir sitzen im gleichen Boot. Uns kann nur Zusammenha­lt helfen – denn das Boot sinkt. Wir haben die Weichen so gestellt, dass die vermeintli­ch Starken stärker und die vermeintli­ch Schwachen schwächer wurden. Wir haben Banken gerettet und unsere Kinder mit ihrem Uni-Abschluss ins Exil getrieben. Nun kann unser Gesundheit­ssystem die Kranken nicht mehr versorgen, unser Sozialsyst­em die Schwachen nicht mehr stützen. Das Coronaviru­s hat uns gezeigt, wie schwach wir alle sind. Wir sollten die Weichen anders stellen, sonst brauchen wir keine solidarisc­hen Einkaufswa­gen aufzustell­en. Die müssen schließlic­h gefüllt werden.

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