Liebe Leser,
ich wollte Ihnen mal was von einem Einkaufswagen erzählen, von einer ordinären
Haushaltslimousine mit Symbolkraft. Vielleicht wissen Sie ja, dass man in Spanien einen imaginärem Einkaufswagen hernimmt, um die Preisentwicklung zu messen. Dann sagt das Nationale Institut für Statistik, dass das Schweinefleisch in unserem Einkaufswagen dieses Jahr 8,2 Prozent mehr kostet als im April 2019. Lauter Nummern und
Zahlen landen da drin. Aber nun zurück zum echten Einkaufswagen. Es ist schon über zehn Jahre her, als ich ihn zum ersten Mal sah. Der stand da am Ausgang hinter den Kassen, und drin stapelten sich Milch über Nudeln, Reis und Linsen. Ich dachte erst, „ oha, das ist abgelaufen, da darf man was mitnehmen!“Von wegen, die Leute legten da Lebensmittel rein und gingen ihres Weges. Das waren die solidarischen Einkaufswagen, die während der Wirtschaftskrise in vielen Supermärkten standen. Nun kommen diese solidarischen Einkaufswagen wieder, mit denen Bedürftige versorgt werden. Tolle Sache, eigentlich. Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll. Ehrlich, ich finde das furchtbar.
Hoffentlich kann dieser Einkaufswagen etwas Leid lindern. Eigentlich sollte er dort nicht stehen müssen, nicht in Spanien, nicht in Europa. Ich wuchs in der sozialen Marktwirtschaft auf und verlor die Unschuld, als das Scheitern des Generationenvertrags diskutiert wurde. Solidarität mutete anders an, Risse im Sozialsystem bemerkte ich eigentlich erst beim Zeitungsaustragen, weil in bestimmten Vierteln bestimmte Leute wohnten. Aus den Rissen von einst sind die Gräben von heute geworden. Was ist passiert? Damals gab jeder etwas ab, damit an alle genug verteilt werden konnte. Niemand musste in einer Schlange vor der Lebensmittelausgabe einer Hilfsorganisation stehen. Wir waren eine fortschrittliche Gesellschaft, heute sind wir in sozialer Hinsicht kolossal gescheitert.
Unsere Solidarität heute vermittelt den falschen Eindruck, dass der Starke dem Schwachen hilft. Wer ist denn heute stark und wer schwach? Wir sind alle nur Nummern. Und irgendeine bezieht sich auf unseren Namen. Vielleicht rangieren wir bei den 25 Prozent unter der Armutsgrenze, oder befinden uns unter den vier Millionen in der Kurzarbeit, oder unser Unternehmen ist eins der Tausenden, das vor die Hunde geht oder wir stehen in der Liste des Gesundheitsministeriums als einer der xy-Covid-19-Patienten, der auf die Intensivstation musste. Wir sitzen im gleichen Boot. Uns kann nur Zusammenhalt helfen – denn das Boot sinkt. Wir haben die Weichen so gestellt, dass die vermeintlich Starken stärker und die vermeintlich Schwachen schwächer wurden. Wir haben Banken gerettet und unsere Kinder mit ihrem Uni-Abschluss ins Exil getrieben. Nun kann unser Gesundheitssystem die Kranken nicht mehr versorgen, unser Sozialsystem die Schwachen nicht mehr stützen. Das Coronavirus hat uns gezeigt, wie schwach wir alle sind. Wir sollten die Weichen anders stellen, sonst brauchen wir keine solidarischen Einkaufswagen aufzustellen. Die müssen schließlich gefüllt werden.