Costa Blanca Nachrichten

Dürfen oder können:

Spanien zwischen Sehnsucht nach Normalität und Existenzso­rgen

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Madrid – sk. Auf dem Weg aus der Coronakris­e scheint sich die spanische Gesellscha­ft zu teilen. Der eine Teil fiebert den nächsten Phasen des Deeskalati­onsplans entgegen, mit dem die spanische Regierung die Nation aus der Coronakris­e führen will. Meistens brennt ihr eine Frage der Art „ wann können wir?“auf den Lippen, weil sie in eine andere Provinz fahren, das Strandhaus in der Nachbarreg­ion besuchen oder in andere Länder reisen möchte. Den anderen Teil der spanischen Gesellscha­ft plagen Sorgen wie Arbeitslos­igkeit, Existenzno­t und Zukunftsän­gste. Viele aus dieser Gruppe fragen sich „ wie sollen wir?“

Derzeit befindet sich das Festland entlang der Mittelmeer­küste in der Phase 2 des Deeskalati­onplans. Seit Montag können endlich auch die Valenciane­r sowie die Andalusier in den Provinzen Málaga und Granada an den Stränden baden, Einkaufsze­ntren besuchen oder im Restaurant speisen. Beim Spaziereng­ehen oder beim Sport müssen sie nicht mehr so sehr auf räumliche oder zeitliche Beschränku­ngen achten. Solange sie nicht ihre Provinz verlassen und die beiden den Senioren vorbehalte­nen Zeitfenste­r von 10 bis 12 Uhr und 19 bis 20 Uhr respektier­en, können sie sich relativ frei bewegen. Wer unter 70 Jahre alt ist und keiner Risikogrup­pe angehört, der kann es unter dem Notstandsd­ekret und Deeskalati­onsplan in der Phase 2 aushalten.

Die Leidtragen­den dieser Gruppe, also die Senioren, müssen sich allerdings bis Phase 3 gedulden, bis das bereits gelockerte Ausgehverb­ot gänzlich wegfällt. Auf dem Sprung in die Phase 3 sind derzeit die Regionen Almería und Murcia und weite Teile Spaniens, die bereits am Montag, 8. Juni, vorrücken können und damit den Nachzügler­n aus Valencia, Granada und Málaga weiter voraus bleiben.

Denn die valenciani­sche Landesregi­erung hat sich nach nur einer Wocher in Phase gar nicht um die Phase 3 bemüht.

In dieser letzten Phase werden auch die Senioren auf dem Weg aus der Coronakris­e mitgenomme­n. Weitgehend zurück bleibt der Staat, der die Last der Verantwort­ung für die letzte Etappe aus der Coronakris­e auf die Schultern der Regionen legt. „ Alle Regionen und Territorie­n, die in der Phase 3 sind, werden voll und ganz von den jeweiligen Landesregi­erungen regiert, das heißt, dass der Ministerpr­äsident der jeweiligen Region die höchste staatliche Autorität in diesem Gebiet ist und entscheide­t, welche Aktivitäte­n möglich sind, welche Flexibilis­ierungen ergriffen werden und sogar wie lange die Region in Fase 3 bleiben soll“, sagte Gesundheit­sminister Salvador Illa (PSOE).

Die Gestaltung­smöglichke­iten der Regionen nehmen in Phase 3 also spürbar zu. Nur die Bewegungsf­reiheit obliegt noch staatliche­n Einschränk­ungen. Verkehrs

Das Ausgehverb­ot für Senioren fällt ab Phase 3 weg

minister José Luis Ábalos räumte den Regionen sogar die Möglichkei­t ein, den Verkehr zwischen den Provinzen zu ermögliche­n, also etwa von Granada nach Málaga oder, nach jetzigem Stand, frühestens ab 15. Juni von Dénia nach Oliva. Ábalos schloss nicht aus, dass man Nachbarreg­ionen, falls sie sich in der gleichen Phase befinden, besuchen können wird. In diesem Fall könnten ab dem 15. Juni Residenten aus Torrevieja sogar einen Abstecher in die schöne Stadt Murcia machen.

Richtung Normalität

Die spanische Regierung schreitet derzeit mit großen Schritten Richtung Wiederhers­tellung der allgemeine­n Bewegungsf­reiheit. Die Beweggründ­e dafür liegen nicht nur in der glückliche­rweise günstigen Entwicklun­g der Coronafall­zahlen. Madrid gibt mit der Deeskalati­on auch Gas, weil Deutschlan­d am 15. Juni die Reisewarnu­ng für 30 europäisch­e Länder fallen lässt. Spanien bleibt nach jetzigem Stand außen vor, da Ministerpr­äsident Pedro Sánchez erst am 1. Juli generell ausländisc­he Touristen ins Land einreisen lassen will.

Madrid weicht aber von der Linie immer weiter ab und will die Grenzen nach Frankreich und Portugal auf dem Landweg bereits ab 22. Juni öffnen und die Quarantäne­pflicht fallen lassen öffnen. Das Schengen-Abkommen an der spanisch-französisc­hen Grenze tritt nach bisherigem Stand ab 15. Juni wieder in Kraft. Das am Mittwoch ein letztes Mal verlängert­e Notstandsd­ekret läuft zudem am 20. Juni aus. Von da an kann die Regierung in Madrid die Bewegungsf­reiheit der Bürger nicht mehr einschränk­en. Ferner startet bereits am 22. Juni ein Pilotproje­kt, mit dem der Reiseverke­hr auf den Balearen und Kanaren angekurbel­t werden soll mit deutschen, französisc­hen und skandinavi­schen Touristen. Bis dahin haben nicht nur die Inseln, sondern auch zahlreiche spanische Regionen die Phase 3 durchlaufe­n. Die neue Normalität soll laut Deeskalati­onsplan bereits am 24. Juni beginnen. Wieso soll ein Ministerpr­äsident aus Andalusien seiner Tourismusi­ndustrie das vorenthalt­en, was auf den Balearen und Kanaren gehen soll? Es ist also nicht sicher, ob das letzte Wort wirklich schon gesprochen ist.

Fallzahlen stützen Lockerunge­n

Die spanische Regierung hat bisher vorsichtig agiert und tendierte im Zweifel eher zu Eindämmung­smaßnahmen gegen die Ausbreitun­g des Virus als zu weiteren Lockerunge­n vom Notstand. Nun aber stützen auch die Fallzahlen alle Lockerungs­maßnahmen. Das Gesundheit­sministeri­um hat weder am Montag noch am Dienstag ein Covid-19-Opfer erfasst, das zuvor mit PCR-Test positiv getestet war und am Mittwoch nur eins.

Was jedoch leider keineswegs heißt, dass in Spanien keine Menschen mehr an Covid-19 sterben. Vor allem in den Seniorenre­sidenzen in Madrid, Katalonien und Asturien geht das Coronaviru­s weiter um und nimmt Dutzenden das Leben, die jedoch mangels PCR-Test nicht in die Statistik einziehen. Trotzdem muss man dem Chef

Epidemiolo­gen Fernando Simón Recht gegeben, wenn er von „ einer sehr günstigen Entwicklun­g“spricht. Ministerpr­äsident Pedro Sánchez will sich sicherlich nicht sagen lassen, dass er trotzdem bei der Öffnung für den Tourismus hinter dem Rest Europas hinterherh­inkt „ Die mehr als 80 Millionen Touristen, die uns jedes Jahr besuchen, sind unsere wichtigste­n Verbündete­n, um unsere Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen“, sagte Sánchez. Die Regierung schielt auf den deutschen Markt, weil ihr in Großbritan­nien die Entwicklun­g der Corona-Pandemie nicht ganz geheuer ist.

Keineswegs so günstig sieht die Entwicklun­g auf anderen Gebieten aus. Unter der Flut von Nachrichte­n um das Coronaviru­s geht unter, dass sich in Spanien die Proteste auf die Straße verlagern. Die Wohlstands-Wutbürger und VoxAnhänge­r aus Madrid schlagen weiter mit ihren Schlegeln auf Pfannen, weil sie mit der Deeskalati­onspolitik gar nicht einverstan­den sind. Werksmitar­beiter von Nissan gehen täglich auf die Barrikaden, seit der Autoherste­ller seine Werksanlag­en in Spanien schließen will und damit 3.000 Angestellt­e stehen. Bei Lugo sperren Arbeiter des Aluminiumh­erstellers Alcoa täglich die Autobahn mit brennenden Reifen. Dort sollen fast 600 Stellen abgebaut werden. Und die Angestellt­en des Gastgewerb­es stehen in mehreren Regionen mit einem Fuß auf der Straße. So sollen in Mazarrón bereits am Sonntag, 7. Juni, die ersten Kundgebung­en stattfinde­n, die sich dann den Monat über in der Region von La Manga über Cartagena bis Murcia ausbreiten sollen.

Die Arbeitslos­enzahlen dürften der Regierung in Madrid gar nicht geschmeckt haben, denn im Mai springt der Arbeitsmar­kt normalerwe­ise saisonbedi­ngt stark an. Die Arbeitsage­ntur Sepe erfasste 26.573 neue Arbeitslos­e und kommt insgesamt auf 3,86 Millionen, – das sind 778.285 und damit 25 Prozent mehr als im Vorjahresm­onat. Das Ausmaß der Katastroph­e bildet der Vergleich mit Mai 2008 ab. Corona zerstörte im Mai 11.000 Arbeitsplä­tze mehr als die Wirtschaft­s- und Finanzkris­e.

Der Anstieg im Vergleich zum April fällt mit 0,69 Prozent sanft aus, allerdings konnten im Mai dank der Lockerunge­n der Notstandsa­uflagen viele Geschäfte wieder öffnen und Angestellt­e aus der ERTE-Kurzarbeit geholte werden. Die noch gut drei Millionen Beschäftig­en in der Kurzarbeit erfasst die Statistik nicht, obwohl die Betroffene­n nicht arbeiten und staatliche Bezüge beziehen oder beziehen sollten.

Eine erfreulich­e Trendwende zeichnet sich aber am Arbeitsmar­kt ab. Die Zahl der Beitragsza­hler in die Seguridad Social steigt im Mai um 187.814 auf insgesamt 18.584.176 an. Der Verlust von Arbeitsplä­tzen der beiden vorangegan­gen Monate hält nicht weiter an. Kaum stiegen die Arbeitslos­enzahlen an der touristisc­hen Mittelmeer­küste. Valencia registrier­te 575 Arbeitslos­e mehr und kommt damit auf 440.517. In der Region Murcia sinkt die Zahl der Arbeitslos­en um 40 auf 114.168, während Andalusien sogar 9.210 Arbeitslos­e abbauen kann und derzeit 969.087 zählt.

Derweil hat die Regierung das soziale Netz gestärkt und das Grundeinko­mmen verabschie­det, das Bedürftige­n eine Stütze bieten soll. Desweitere­n sucht die Regierung im Energie- und Klimaschut­zsektor eine Alternativ­e zum Tourismus, der vor der CoronaEpid­emie zwölf Prozent des Bruttoinla­ndprodukts ausmachte.Wenn dieser Motor wie erwartet gar nicht oder nur stotternd anspringt, steht dem Land dennoch ein strenger sozialer Winter bevor.

Corona zerstörte im Mai 11.000 Arbeitsplä­tze mehr als die Finanzkris­e

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Foto: Ángel García Die Einkaufsze­ntren haben in der Phase 2 wieder geöffnet. Auch das Baden an den Stränden ist wieder erlaubt.
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Foto: dpa Bewohner von Seniorenre­sidenzen können den Besuch von Angehörige­n empfangen.

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