Liebe Leser,
Wir stehen nun auf der Schwelle zur neuen
Normalität. Die Situation ist deeskaliert, so sagt man das jetzt jedenfalls. Sie können ruhig mal einen Blick hineinwerfen. Die Lage scheint ruhig, es sieht einladender aus als all das, was sich seit 14. März hinter uns angesammelt hat. Die ersten Schritte in die neue
Normalität müssen Sie ab dem 21. Juni selbst wagen. Erwarten Sie nicht, dass Sie dort jemand willkommen heißt. Es gilt Mindestabstand. Sollten Sie jemand auf sich zukommen sehen, ziehen Sie bitte schnell die Maske über die Nase.
Mit der Maske sehen wir alle gleich aus, der Schein aber täuscht. Wir haben leider keine Herdenimmunität gegen Corona entwickelt. All die Schläge, die wir in den vergangenen Monaten einstecken mussten, tragen wir noch mit uns herum, der eine mehr, der andere weniger. Denken Sie nur mal ganz kurz zurück, an die apokalyptische Stimmung in den leergefegten Straßen, an all die geschlossenen Geschäfte und Betriebe, die Express-Beerdigungen, die Intensivstationen, die Toten in den Seniorenheimen, die übermenschlichen Anstrengungen des medizinischen Personals, die Schlangen vor den Essensausgaben, die Stresssituationen einiger über Wochen eingesperrter Familien und an die Existenzangst tausender Menschen, die seit Wochen kein Auskommen haben und in eine unsichere Zukunft blicken. Leid in diesem Ausmaß breitet sich wie ein Virus aus, hinterlässt Folgeschäden.
Und es ist noch lange nicht vorbei, können Sie sagen. In Peking braut sich wieder was zusammen und wehe, wenn Corona, die Grippe und die Wirtschaftskrise im Herbst in einer Welle über das Land brechen. Pst! Seien Sie einen Moment still und werfen Ihren Blick nach vorne. Wellen gibt es nur im Meer. Die Lage in der neuen Normalität scheint wie gesagt ruhig, vielleicht zu ruhig. Also schließen wir dieses vergangene Kapitel der Corona-Saga. Dieses Land braucht eine Verschnaufspause. Es ist urlaubsreif. Alles dreht sich derzeit nur noch um den Urlaub, um die Reisefreiheit ab 21. Juni, das Ferienhaus und die Madrilenen-Phobie. Als ob Urlaub ein Grundbedürfnis wäre, ohne das niemand zufrieden leben kann. Von der Ernsthaftigkeit der Lage scheint niemand mehr etwas wissen zu wollen. Gut, es kann ja nicht schaden, wenn wir Corona mal ausblenden. Also schalten wir die Nachrichten, Internet und Whatsapp aus und machen die schönen Dinge des Lebens in Spanien zu unserer neuen Normalität. Tapas, Strand und Sonnenbad. Vielleicht starten wir in die neue Normalität mit einem Schuss mehr Bewusstsein für das Hier und Jetzt, und mit etwas weniger von dieser abgeklärten Selbstverständlichkeit als sonst – ein wenig so wie unsere Kinder oder Enkel, die sich über eine Muschel am Strand freuen können wie Christoph Kolumbus über die Entdeckung der Westroute nach Indien. Manchmal ist es nicht so wichtig, was wahr ist, sondern auch, mit welcher Einstellung man einer Wahrheit begegnet. Vor allem dann, wenn sich das nächste Kapitel bald öffnet.