Gestohlene Identität
Wie ein mächtiger Gynäkologe aus Alicante, die Kirche und der Franquismus einer Mutter ihr Kind raubten
„ Ich heiße José Andrés, bin adoptiert und meine Geschichte beginnt im Jahr 1997, als ich einen mysteriösen Zettel von einem unbekannten Absender vor meiner Tür fand“, beginnt José Andrés Sempere Molina aus Santa Pola zu erzählen. Und er hat viel zu berichten, Dinge, die er selbst bis zu diesem Moment nicht kannte. Damals war er 34 Jahre alt, verheiratet und erwartete sein zweites Kind.
Das Papier hielt er für eine Notiz seines Vaters an seinen Sohn.
„ Mein Vater liebte es, kleine Briefe und Botschaften zu schreiben“, lächelt er. Doch der Brief war nicht für das Kind, sondern für ihn bestimmt. Geschrieben stand darauf: „ Hallo José Andrés, deine Mutter hat mir anvertraut, dass deine biologische Mutter Krankenschwester beim Gynäkologen Dr. Francisco Gómez (Name geändert, siehe *) war, Mediziner an der Klinik San Juan de Dios in Alicante.“Zu diesem Zeitpunkt wusste der in Santa
Pola aufgewachsene Sempere Molina kaum etwas über seine Vergangenheit, nicht einmal, dass er überhaupt adoptiert war. „ Meine Eltern sprachen viel über meine Kindheit, aber gar nicht über meine Geburt. Es wurde viel geschwiegen bei uns“, erinnert er sich. Hätte er seine Eltern nach seiner Geburtsurkunde gefragt, hätte es anders ausgesehen, diese besaßen sie nämlich nicht.
Doch die Suche nach seiner leiblichen Mutter und nach seiner Lebensgeschichte sollte von 1997 bis Januar 2020 dauern und enthüllen, dass er ohne Erlaubnis seiner leiblichen Mutter an seine Adoptiveltern übergeben wurde. Dieses Schicksal teilt José Andrés Sempere Molina mit Tausenden anderen Spaniern, die ab den 1950er Jahren ihren Müttern weggenommen wurden, die sogenannten „ Bebés robados del franquismo“, die geraubten Babys des Franquismo. Den Frauen wurde damals von Ordensschwestern in den katholischen Geburtshäusern erzählt, ihre Kinder seien eine Totgeburt gewesen.
Argwöhnisch über seine Vergangenheit sei er schon immer gewesen, berichtet Sempere Molina. „ Die älteren Leute im Ort nannten mich immer ‚ Gómez’ Kind‘, wenn sie über mich sprachen, da versuchte ich immer wegzuhören, weil das Gerücht meine Eltern traurig machte“, sagt er. Wahrscheinlich habe eine ältere Person aus dem Ort ihm den schicksalhaften Brief geschrieben. „ Mehr weiß ich nicht. Ich wünsche dir viel Glück. Viele ältere Nachbarn wissen es auch“, so endet die Botschaft, doch für Sempere Molina bedeuteten die Worte den Anfang eines Lebens ohne Geheimnisse.
Zuerst habe er seine Eltern zur Rede gestellt. Im Gespräch spricht Sempere Molina nicht von „ Adoptiveltern“sondern nennt die Menschen, die ihn aufgezogen haben weiterhin „ Mutter“und „ Vater“, auch wenn sie ihn um seine wahre Identität betrogen haben.
Jahrzehnte der Ungewissheit
Daraufhin haben sie ihm die Dokumente zu seiner Adoption gezeigt: „ Es lagen viele Papiere und Nachweise darüber vor, wie meine Eltern an mich gekommen waren. Das erinnert mich eher an einen Hauskauf als an die Aufnahme eines Kindes in eine neue Familie“, stellt er mit Blick auf einen großen Papierstapel fest, auf dem unterschiedlichste Stellen und Behörden in Spanien sein Leben festgehalten haben.
Doch die dringlichste Antwort musste der Identitätssuchende selbst finden: „ Sie haben mir gesagt: ‚ Wir wissen, wer deine Eltern sind, aber das werden wir für immer für uns behalten‘, das hat mich sehr wütend gemacht. Bis zu ihrem Tod haben mein Vater und meine * Der Name des Frauenarztes wurde zum Schutz seiner Familie geändert.
„Meine Eltern sprachen über meine Kindheit, aber nie über meine Geburt.“