Sehr Stille Nacht
Eingeschränkte Weihnachten zum Jahresabschluss und Hoffnung auf 2021
Das Coronavirus hatte noch eine letzte Pointe parat, bevor es sich aus dem skurrilen und tragischen Jahr 2020 verabschiedet: den viralen Brexit. Auch Spanien verhängt wegen der Virusmutation ein Einreiseverbot über die britischen Inseln. Die aktuellen Schwankungen bei den Corona-Fallzahlen in Spanien sind im Vergleich mit Daten aus anderen EU-Ländern fast zu vernachlässigen.
Das Land rüstet sich für ein sehr eingeschränktes Weihnachten, das geradezu zur Besinnung verdammt. Während die Politik vorsichtig Bilanz zieht, geht der Blick der Menschen schon ins nächste Jahr. Einem Jahr der Hoffnung, denn schlimmer kann es kaum kommen.
VUI-202012/01! Das ist die makaber-ironische Pointe, die sich das Coronavirus für den Jahresabschluss 2020 aufgespart hat. Was die EU und Großbritannien in Jahren der Verhandlungen nicht fertigbrachten, gelingt der Covid-Mutation im Hand- und DNA-Umdrehen: Großbritannien isolieren und in den harten Brexit schicken. Der spanische Gesundheitsminister Salvador Illa hatte einige Mühe, seine Regierungskollegen davon zu überzeugen, sich der Reiseblockade der anderen EU-Staaten gegenüber den britischen Inseln anzuschließen, wo, so die dortigen Behörden, „ sich die Mutation unkontrolliert“ausbreite.
Ob der Mutant wirklich ansteckender und damit gefährlicher ist als unsere heimische Sars-CoV-2Spezies, das eruieren die Wissenschaftler noch, die mittlerweile 17 Mutationen identifiziert haben, aber noch keine, die sich derart hartnäckig verselbständigte. Minister Illa wollte, so ist es überliefert, „ ein zweites Bergamo in Spanien“, noch dazu zu Weihnachten und kurz vor der Impfkampagne, auf alle Fälle verhindern, auch wenn das Einreiseverbot für alle Briten, die keine Residenten sind, nun dem letzten Hotel in Benidorm und Magaluf den Garaus macht. Darauf, auch wenn das zynisch klingen mag, kommt es in diesem katastrophalen Jahr nun auch nicht mehr an.
Neben den Residenten sind auch die Spanier auf der Insel vom Einreiseverbot ausgenommen, vorausgesetzt, sie haben Familie in Spanien, die sie zu Weihnachten besuchen können, und nicht etwa nur „ Angehörige“, denn sonst könnte es in einigen Regionen, wie Murcia, wo man offenbar ein alttestamentarisches Familienbild pflegt, eng werden mit der Durch- und Einreise. In Madrid, schon wieder mal in den Top 3 der negativen Positiv
Liste des spanischen Corona-Albtraums, sorgt man sich, dass Weihnachten, vor allem aber Silvester aus dem Ruder laufen könnte. Die Vorgaben weichen in Nuancen von Region zu Region ab (siehe ab Seite 33) und können morgen schon wieder Makulatur sein.
Gegen die aktuellen Corona-Daten aus Großbritannien, aber auch Niederlanden oder Deutschland mit dem „ sächsischen Bergamo“, sehen die Schwankungen der Fallzahlen in Spanien derzeit fast niedlich aus, zumal die Zahl der Covid-Toten nach langer Zeit auf unter 100 am Tag (im Schnitt) gesunken ist. Madrid erlebt den erwarteten Brückentage-Rückschlag, die Balearen holen die zweite Welle nach und sind im Moment die infizierteste Region Spaniens und in Valencia ist jeder sechste Test positiv. Hier weiß noch keiner, wohin die Reise die nächsten Tage geht.
Der Covid-Impfstoff von BioNTech ist am 21. Dezember von der EU freigegeben worden – just am gleichen Tag, als die Corona-Mutation Europa einen neuen Schrecken versetzte –, bis September 2021 will das Unternehmen zusammen mit Pfizer 200 Millionen Dosen in Europa ausliefern, weitere Impfstoffe werden dazukommen. Das Publikum tut gut daran, nicht jede Meldung über unerwünschte Nebenwirkungen zu überhöhen. Diese Effekte gibt es bei jedem Impfstoff, nur stehen andere Krankheiten und Vakzine nicht mehr derart im Schaufenster wie jetzt Corona.
An der Ausgangslage zum Jahresende hat sich nichts geändert: Zu Weihnachten zu Hause bleiben, die Füße still und die weitergefasste Familie fernhalten und dann auf die Covid-Impfungen warten. Das lässt noch immer genügend Spielraum für eine besinnliche Weihnachtszeit und die Hoffnung auf ein besseres 2021. Die Latte dafür liegt in Spanien vergleichsweise niedrig. Das Coronavirus hatte die strukturellen Schwächen des Landes schonungslos aufgezeigt: Ein kaputt gespartes oder ausgelagertes Gesundheitswesen, das nur richtig funktioniert, wenn nicht viele Menschen krank werden, eine durch ihre Fixierung auf Massentourismus anfällige Wirtschaft, prekäre Arbeitsverhältnisse, ein löchriges soziales Netz. Schwächen, unter denen Menschen schon immer litten, 2020 waren es mehr und sie leiden noch stärker.
Die auf bescheiden getrimmte Selbstzufriedenheit des Politprofis Pedro Sánchez, der in Interviews in den vergangenen Tagen sein 2020 als Regierungschef in mehreren Interviews bilanzierte, wirkt dagegen wie ein unwirklicher Kontrast. Immerhin seien ihm mit der Aufstockung der EU-Hilfsfonds, einem Grundeinkommen für die ärmsten fünf Prozent und einer Mehrheit nicht nur für ein, sondern für sein Budget des Fortschritts und der Nachhaltigkeit wichtige Meilensteine gelungen. Er hätte auch sagen können, er ist froh, dass das Land noch steht. Diese Einschätzung käme der Realität nämlich näher und ist am wenigsten sein Verdienst. Vielleicht hat er es nicht noch schlimmer gemacht, dann sollte er wirklich zufrieden sein.
Die Proteste gegen die Regierung Sánchez hielten sich angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, die das Land durchlebt, bisher in engen Grenzen. Einzelne Sektoren äußerten ihren Unmut, weil sie sich – wie die Hotellerie oder die Selbständigen – von den Hilfspaketen übergangen oder – wie der Gesundheitssektor – sich aufgegeben fühlen, Wohlstandsviertel übten sich im Topfschlagen und frustrierte Jugendliche randalierten kurzzeitig, angefeuert von einer Rechten und extremen Rechten, die im Grunde nichts Konstruktives gegen die Krise beitrugen. Die Mehrheit hat ohnehin mit dem täglichen Überleben vollauf zu tun und zwar viel existentieller als in Ländern wie Deutschland, was vielleicht erklären hilft, warum dort die Szene der Leugner und Relativierer viel lauter und sichtbarer ist als hier.
Sánchez bekommt von seinem Volk noch Aufschub, um 2021 das Ruder herumzureißen, das nur zum Teil in seinen Händen liegt. Er wird geduldet, denn die Spanier erwarten von ihren Regierungen und Eliten – aus Erfahrung – ohnehin nicht viel. Spanier organisieren sich lokal und kleinteilig, tätige Solidarität und Empathie, gepaart mit Humor und notorischem Fatalismus sowie die Familien- und Freundesstruktur halten die Menschen über Wasser und das Land in dieser schweren Krise am Laufen, nicht so sehr Stiefvater Staat. Davon könnten sogar andere Länder lernen. Wenn 2021 einen Namen verdient, dann einen spanischen: Esperanza. Hoffnung.
Wenn 2021 einen Namen verdient, dann einen spanischen: Esperanza