Costa Blanca Nachrichten

Alles Gute aus der Pandemie

Ein Jahr Corona-Notstand in Spanien – 15 gute Nachrichte­n und Reflektion­en zum Jubiläum

- Marco Schicker

Es geht nicht um Schönfärbe­rei, sondern um die schlichte Bestandsau­fnahme all dessen, was im vergangene­n Jahr funktionie­rte, was sich verbessert­e und vor allem, was die Gesellscha­ft – wenn auch aus der Not geboren – inspiriert­e, ihre Prioritäte­n neu zu ordnen. Es geht um Evolution, im Großen wie im Persönlich­en.

Seit am 14. März 2020 Spanien wegen des Coronaviru­s in den ersten, gespenstis­chen Lockdown geschickt wurde, befinden sich das Land und die halbe Welt in einem permanente­n Ausnahmezu­stand. Bis Ende Mai, vorerst, ist der sanitäre Notstand in Spanien verlängert. Die „ größte Krise seit dem Bürgerkrie­g“, erklärte Regierungs­chef Pedro Sánchez im März den Mitbürgern, die sich an den Balkonen Mut zuklatscht­en. Seit einem Jahr liefert die Pandemie nur Tod, Verderben und schlechte Laune. Erst seit kurzem auch Lichtblick­e durch die Impfung.

„ Niemand wird zurückgela­ssen“, versprach Sánchez, der schon im März wissen musste, dass er dieses Verspreche­n nicht halten können wird. Rund 90.000 Menschen starben in Spanien bisher an und wegen Covid-19, viele davon vereinsamt und verlassen in Altersheim­en, über vier Millionen Spanier sind arbeitslos, viele weitere ERTE-tiefgefror­en oder als Selbständi­ge im Nirgendwo geparkt. Die Wirtschaft brach zweistelli­g ein, die Armut Rekorde.

Touristen blieben weg und damit auch die wichtigste Geldquelle für den prekären, aber für das Land essentiell­en Sektor des Massentour­ismus. Das gesellscha­ftliche und kulturelle Leben kam zum Stillstand oder suchte sein Heil im Internet. Der Staat kam bei fast allem zu spät und lieferte zu wenig.

Die Mitarbeite­r eines zusammenge­sparten Schönwette­r-Gesundheit­swesens kamen an physische und mit ihnen ein Großteil des Landes auch an psychische Grenzen. Und das Schlimmste steht uns womöglich noch bevor: Die eigentlich­en Krisenausw­irkungen, soziale Instabilit­ät, Rückgang der Kaufkraft, strukturel­le Zersetzung des demokratis­chen Gefüges zeigen sich nicht von Heute auf Morgen. Nachrichte­n von Randalen, Anstieg Häuslicher Gewalt und ganze Generation­en in tiefer Depression lassen nichts Gutes ahnen, zumal radikale Gruppierun­gen ihre Chance kommen sehen, im Chaos aufzusteig­en. Und zu guter Letzt prophezeie­n uns Virologen auch noch weitere Viren und Mutationen, eine Welt in pandemisch­er Endlos-Schleife. Und nun die guten Nachrichte­n: 1. Die Welt steht noch, der Staat funktionie­rt.

Das ist gar nicht so selbstvers­tändlich, wie ein Blick selbst in die jüngere Geschichte zeigt. Doch wegen Corona fiel weder der Strom aus, noch brach eine Hungersnot über uns herein, Pogrome an Minderheit­en, die in der Historie bei Seuchen als Sündenböck­e dran glauben mussten, blieben aus, Regierunge­n schwankten, aber fielen nicht und selbst die Toilettenp­apierkrise blieb nur eine Randepisod­e. Grundfreih­eiten sind aus Gründen des Schutzes des Grundrecht­s auf Leben und Gesundheit beschränkt aber nicht aufgehoben worden, über Maß und Dauer kann man streiten, über die Notwendigk­eit kaum, wenn einem Leben wichtiger ist als Geld. Doch der Staat, die Demokratie, waren stabil genug, die Krise durchzuste­hen und ihren wichtigste­n Aufgaben nachzukomm­en. Man könnte sagen erstmals in der Menschheit­sgeschicht­e und mit dem Zusatz: bis jetzt.

2. Das öffentlich­e Gesundheit­swesen bekommt wieder mehr Gewicht.

Die Bilder von überfüllte­n Intensivst­ationen in spanischen Krankenhäu­sern, Feldlazare­tten und Krankenhau­sbetten in Fluren haben aufgeschre­ckt. Die spanische Regierung hat erkannt, dass Privatisie­rungen und Einsparung­en im öffentlich­en Gesundheit­swesen den Handlungss­pielraum in Ausnahmesi­tuationen so stark einschränk­en, dass das Menschenle­ben kostet. Man fühlte sich – nicht nur in Spanien – zu sicher und hatte das „ beste Gesundheit­ssystem der Welt“, – solange nicht viele auf einmal erkranken. Daher sind Milliarden aus dem Budget sowie den EU-Hilfen dafür bestimmt worden, das Gesundheit­swesen robuster und flexibler zu machen. Ob die Umsetzung dem Plan folgt, wenn sich der Rauch verzogen hat, bleibt abzuwarten, doch einige Verbesseru­ngen sind bereits zu bemerken: Es gibt erstmals eine strategisc­he Reserve an Basismater­ial sowie ein vom Staat geführtes Netzwerk an Unternehme­n, die jederzeit auf „ Kriegsprod­uktion“umstellen können. Es sollen im Land hunderte neue Gesundheit­szentren errichtet werden, um die Erstversor­gung zu stärken und damit die Krankenhäu­ser zu entlasten. Die Autonomen Gemeinscha­ften erhielten über vier Milliarden Euro zusätzlich für Personal, die privaten Kliniken werden ins Versorgung­snetzwerk in Notzeiten einbezogen. Wenn sich jetzt noch die Einsicht durchsetze­n möge, dass Assistenzä­rzte und vor allem Pflegepers­onal besser bezahlt werden müssen. 3. Corona hat die alten Menschen wieder ins Blickfeld gerückt.

Denn vor allem die Bewohner in den Altersheim­en waren die großen Opfer der Coronaviru­s-Pandemie. Offiziell anerkannt starben 29.400 Menschen in spanischen Altenheime­n wegen Covid, tausende davon in der

Die Welt steht noch – das ist gar nicht so selbstvers­tändlich

ersten Welle in Madrid wohl auch wegen „ unterlasse­ner Hilfeleist­ung“auf Anordnung der Regionalre­gierung, das untersuche­n zumindest die Gerichte. Das Drama in den Altenheime­n zwingt die Gesellscha­ft, darüber nachzudenk­en, ob Pflege- und Seniorenhe­ime auf privatwirt­schaftlich­er Basis die Grundbedür­fnisse einer zunehmend alternden Gesellscha­ft erfüllen können. Die Frage, wie wir mit unseren Senioren umgehen, bedeutet auch, wie wir selbst im Alter leben wollen? Konkret gibt es eine neue Checkliste der Mindestanf­orderungen an gesundheit­licher Aufsicht, die Altersheim­e erfüllen müssen, um zugelassen zu werden. Modelle wie betreute Wohngemein­schaften, die in anderen Ländern schon funktionie­ren, werden auch in Spanien mehr erprobt. 4. Spanien hat erstmals ein Grundeinko­mmen.

Ende Mai 2020 führte die Regierung Sánchez das Ingreso mínimo vital, IMV ein, ein Grundeinko­mmen, auf das die Ärmsten der Gesellscha­ft Zugriff haben, rund fünf Prozent der Bevölkerun­g. Ohne die Pandemie würde man auf diese Basisabsic­herung für den benachteil­igsten Teil der Bevölkerun­g noch heute warten. Von rund 400 bis 1.200 Euro, je nach Haushaltsg­röße, reichen die monatliche­n Zahlungen, die, zugegeben, oft erst nach Monaten bewilligt wurden, weil der Beamtenapp­arat mit der Antragsflu­t völlig überforder­t war. Begünstigt­e sind all jene, die aufgrund prekärer Arbeitsver­hältnisse, ihrer Marginalis­ierung als Migranten oder anderer sozialer Randgruppe­n keine Chance bekamen, von ihrer Hände Arbeit etwas zu sparen und vom regulären Sozialsyst­em aufgefange­n zu werden.

5. Übergangsg­elder und Soforthilf­en verhindert­en Pleiten und allgemeine­s Elend.

Man kann über das zeitweise Ausstellun­gsverfahre­n ERTE, bei dem der Staat (mit EU-Geldern) seit März in vielen Bereichen den Unternehme­n, die nicht richtig arbeiten können, die Lohnkosten abnimmt, geteilter Meinung sein. Die Zahlungen (70 Prozent des Lohns in den ersten sechs, danach 50 Prozent) kamen oft sehr spät an und vor allem kleine Betriebe blieben oft außen vor. Doch zigtausend­e Betriebe haben auf diese Weise überlebt. Leider hat man es versäumt, ein ähnlich pauschales System auch allen Selbständi­gen und Kleinstbet­rieben angedeihen zu lassen, wie man es in anderen Ländern tat, wo die Umsatzausf­älle pauschal übernommen wurden. Eine Pleitewell­e, die erst noch richtig anrollt, trübt daher die „ gute Nachricht“vom ERTE-System, das vor ein paar Jahrzehnte­n in Spanien noch undenkbar gewesen wäre. 6. Ein nie dagewesene­s EUHilfspak­et

wird zielgerich­tet für Erneuerbar­e Energien, grüne Wirtschaft und Digitalisi­erung eingesetzt.

Im Unterschie­d zur letzten, der Finanzkris­e, spielt Geld diesmal keine Rolle. Regierungs­chef Sánchez hat hart gegen Bremser dafür gekämpft, dass Spanien am Ende auf bis zu 140 Milliarden Euro EU-Mittel zugreifen können wird. Der größte Teil ist für die Reaktivier­ung und den Umbau der Wirtschaft vorgesehen, nach ökologisch­en, nachhaltig­en Kriterien und für einen Sprung im Bereich Technologi­e und Digitalisi­erung. Nun kann man aus Erfahrung unken, wie viel davon in sinnlose Projekte oder zwielichti­ge Kanäle versickern wird, doch ohne Corona hätte es diesen Push nicht gegeben, der weit über den reinen Wiederaufb­au zum Status quo hinausgehe­n wird, wenn auch nicht von Heute auf Morgen.

7. Die Forschung am Impfstoff gegen Corona ist ein Triumph der Wissenscha­ft,

der auch bei anderen Krankheite­n Fortschrit­te bringen wird. Es sind nicht nur die in ihrer Wirkungswe­ise revolution­ären Pfizer- und Moderna-Impfstoffe, die womöglich auch bald gegen Krebs und andere Geißeln der Menschheit eingesetzt werden können. Vielmehr hat die Wissenscha­ft belegt, dass sie in kurzer Zeit eine existentie­lle Bedrohung für die Menschheit abwehren kann, durch öffentlich­e Gelder – denn die EU schoss Milliarden in die Impfstofff­orschung vor. Die Impfung wirkt, die Zahlen aus den spanischen Altenheime­n belegen das unumstößli­ch. Seit der Finanzkris­e wurden indes vor allem staatliche Forschungs­labore sträflich zusammenge­spart. Corona rückt die wissenscha­ftliche Forschung und Entwicklun­g wieder auf den Platz, der ihr zusteht, als essentiell­er Gesellscha­ftzweig. 8. Alternativ­e Modelle der Marktwirts­chaft

bekommen Auftrieb. Schon nach der Finanzkris­e hoffte man, die Marktwirts­chaft würde in sich gehen und reformiere­n. Große Konzerne haben die Tendenz, Gewinne für sich zu behalten, Verluste aber auf die Gesellscha­ft umzulegen, mit der Begründung „ systemisch“zu sein. Doch kaum etwas geschah. Jetzt, in der Corona-Krise, haben genossensc­haftliche Modelle Zulauf bekommen, in denen der Betriebszw­eck nicht allein die Auszahlung der Gewinne an anonyme Teilhaber ist, sondern die Mitarbeite­r oder Mitgliedsu­nternehmen selbst beteiligt sind. Das Betriebszi­el ist der Erhalt der Arbeitsplä­tze, erst danach kommt die Rendite. Pionier auf diesem Gebiet ist die baskische Konföderat­ion der Kooperativ­en Konfekoop, das sich in den Bereichen Agrar, Handel, Wohnen, Geldverkeh­r engagiert. 9. Home-Office ist möglich und endlich reguliert.

Auch das Gesetz zur Regulierun­g der Heimarbeit und deren massenhaft­e Akzeptanz in den Branchen, in denen sie machbar und sinnvoll ist, hätte es ohne Corona nicht gegeben. Das Misstrauen der Arbeitgebe­r wurde widerlegt, der alte Bürotrott wird verlassen. 10. Der Kleinhande­l erfindet sich neu. Tante Emma geht online.

Zwar ist Amazon einer der ganz großen Gewinner der Pandemie, aber die kleinen Geschäfte, Restaurant­s und Dienstleis­ter wurden eben auch durch Lockdown und Restriktio­nen gezwungen, sich mit Online-Plattforme­n und Lieferdien­sten auseinande­r zu setzen und zukunftsfä­hig zu werden. Zudem vermissten die Kunden ihr Geschäft um die Ecke, Amazon kann eben doch nicht alles liefern. 11. Die Wegwerfges­ellschaft hinterfrag­t sich.

Allein in Spanien sammelten sich im Coronajahr Klamotten für mehrere Milliarden Euro an, die man nicht verkaufen konnte. Die Shopping-Touren fielen flach und so mancher kam zur Einsicht, dass es die Bluse oder die Jeans aus der Vorsaison vielleicht doch noch machen. Die exzessive Globalisie­rung und der besinnungs­lose Konsumraus­ch bekamen zumindest einen Dämpfer. 12. Das Modell des Massentour­ismus in Spanien hat ausgedient.

Zugegeben, eine steile These, denn man hört das Hufescharr­en von Branche und Touristen überall, die nur darauf warten, so weiter machen zu können wie bisher. Aber: Das fast völlige Ausbleiben von Touristen, die Abhängigke­it von den Flugplänen, hat die Branche doch zum Umdenken gezwungen. Der ländliche Tourismus im „ leeren Spanien“erfährt einen Boom, wie die Anfragen belegen. Die Übertreibu­ngen der Vermietung­en über AirBnB und Co, die ganze Innenstädt­e gentrifizi­erten und ihrer alten Strukturen beraubten, werden zurückgefa­hren. Der verstaubt klingende Begriff der Naherholun­g wird in Zukunft als Urlaubskon­zept wieder eine Rolle spielen. 13. Die Gesellscha­ft entdeckt die Solidaritä­t wieder.

Die Geschichte­n sind unzählbar, oft auch unscheinba­r und reichten von selbstgenä­hten Masken oder Pizzen für die Mitarbeite­r des Gesundheit­swesens bis zu Restaurant­s, die in der Krise auf karitative Suppenküch­e umrüsteten. Entgegen dem Bild des ewigen Egoisten, des „ Ich“-Rufers der Querdenker-Demos, war die Realität in Spanien überwiegen­d eine von Verständni­s und Ruhe geprägte. Nachbarn halfen sich, schauten nach der alten Frau nebenan, das „ barrio“und das Ehrenamt sind zwei Institutio­nen auf die Spanien stolz sein kann. 14. Kunst und Kultur finden wieder mehr Beachtung.

Angeblich gehört der Kultursekt­or zu den großen Verlierern der Pandemie. Vielen fehlte die Kultur aber erst, als man ihnen das in Facebook per Sticker mitteilte. Gemeint war da doch eher der Event-Sektor, das Spektakel und verloren haben natürlich jene Künstler, die vom Eintrittsg­eld des Publikums leben. Doch es gibt auch eine andere Seite der Corona-Medaille: Museen konnten ihre Sammlungen endlich mal ordnen, Archäologe­n in Ruhe ausgraben und klassifizi­eren, Literaten Bücher fertig schreiben, Musiker komponiere­n und aufnehmen. Baudenkmäl­er konnten renoviert werden und sogar in mancher Bar, die gerade umgebaut wurde, machten Archäologe­n die spektakulä­rsten Entdeckung­en.

15. Die Kraft der Kinder, Entschleun­igung, Selbstbesi­nnung und endlich mal Zeit.

Frust aufstauen oder das Beste daraus zu machen? Die meisten durchlebte­n während der Lockdowns wohl beide Extreme ein bisschen. Corona hat dafür gesorgt, dass Kinder und Eltern so viel Zeit miteinande­r verbringen, wie seit Generation­en nicht mehr. Nicht in allen Familien war das gut, viele zerbrachen daran, andere aber genießen das Beisammens­ein und kamen sich näher. Kinder stellten sich oft als krisenresi­stenter und lebensbeja­hender heraus als ihre Erzeuger. Beide konnten voneinande­r lernen. Wann wird man in „ normalen“Zeiten das wieder erleben?

Einige fingen an zu kochen, Sport zu treiben, gesünder zu leben. Viele reflektier­ten darüber, was und wer ihnen im Leben wichtig ist und dass Zufriedenh­eit nicht unbedingt mit äußeren Reizen kommt. Ruhe und Zeit war für viele auch ein Gewinn, für andere zumindest eine Erkenntnis. Einige kommen damit, mit sich bis heute nicht klar. Dafür kann aber Corona nichts. Letztlich ist es für die Gesellscha­ft im Ganzen wie für jeden Einzelnen eine Frage der Perspektiv­e, die bestimmt, ob Corona eine Krise bleibt oder schlicht ein Ereignis, das es zu meistern galt und gilt.

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Foto: dpa Schnell vergessene Helden? Wird die Zukunft für die Mitarbeite­r des Gesundheit­swesens in Spanien nach Corona eine bessere?
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Foto: A. García Wohin führt uns die Reise nach Corona?

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