Costa Blanca Nachrichten

„ Leben“auf der Straße: Mit Corona haben Ungleichhe­it und Obdachlosi­gkeit in Spanien zugenommen

Kluft zwischen Arm und Reich ist durch Corona-Krise größer geworden – Zahl der Obdachlose­n in Spanien steigt

- Lena Kuder Málaga

Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen ist stark gestiegen: Mit dem Coronaviru­s geht der „Ungleichhe­itsvirus“einher

Kartonbett­en, zusammenge­rollte speckige Decken und mit Kleidung gefüllte Einkaufswa­gen – rund 40.000 Personen leben in Spanien zurzeit ohne festes Dach über dem Kopf. Seit dem Beginn der Coronaviru­s-Krise im März 2020 ist die Zahl der Obdachlose­n hierzuland­e nach Informatio­nen von Hilfsorgan­isationen und Freiwillig­en enorm angestiege­n. Exakte Zahlen liegen noch nicht vor.

Nach Angaben der Hilfsorgan­isation Caritas bilden Spanier die Mehrheit, aber auch Immigrante­n aus Afrika, Rumänien und anderen EU-Staaten leben auf spanischen Straßen. Der Prozess der Verarmung hat sich nach Angaben der Hilfsorgan­isationen beschleuni­gt. Zum herkömmlic­hen Profil kommen nun ehemalige Angestellt­e, jüngere Personen, einstige Firmenchef­s, ehemalige Schulleite­r und Selbststän­dige hinzu. Etwa eine halbe Million Personen leben spanienwei­t in prekären Wohnverhäl­tnissen. Es muss einem grotesk erscheinen, dass gleichzeit­ig rund 3,5 Millionen Wohnungen leerstehen. Durch die Zwangsräum­ungen der letzten Jahre nehmen laut der

Hilfsorgan­isation heute vermehrt auch jüngere Spanier und über 65-Jährige Obdachlose­nunterkünf­te in Anspruch.

Ein im Januar dieses Jahres veröffentl­ichter Bericht der Hilfsorgan­isation Oxfam bestätigt, dass durch die Corona-Krise die ungleichen Verhältnis­se nun ungeschmin­kt ans Licht treten. Bei der Studie wurden 295 Wirtschaft­swissensch­aftler aus 79 Ländern befragt und diverse Statistike­n ausgewerte­t. In dem Bericht ist von einem „ Ungleichhe­itsvirus“die Rede, von dem viele Menschen betroffen seien. Die Wissenscha­ftler haben festgestel­lt, dass die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen nicht wie erwartet um 31 Millionen gesunken ist, sondern sie gehen davon aus, dass sie um 88 Millionen gestiegen ist. Wer weniger als 1,90 Dollar pro Tag zur Verfügung hat, gilt als extrem arm. Inzwischen klafft die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinande­r. Die Armen wurden laut der Studie noch ärmer, während der Reichtum trotz der Corona-Krise weiter anstieg. Oxfam zufolge dauerte es noch nicht einmal neun Monate, bis die Vermögen der 1.000 reichsten Menschen der Welt wieder den Stand von vor Corona erreicht hatten.

Dem Bericht zufolge könnte es bei den Ärmsten hingegen noch mehr als zehn Jahre dauern, bis sie wieder einigermaß­en auf den Beinen stehen. Auch in der Europäisch­en Union zeichnet sich eine zunehmende Ungleichhe­it ab.

Besonders stark hat die Pandemie die Unterschie­de in Spanien zugespitzt. Oxfam warnt, dass die Krise die wirtschaft­liche Existenz von Millionen Menschen im Land bedrohe. Während der letzten Krise hat die Regierung die Kurzarbeit­erregelung eingeführt und damit zahlreiche Jobs gerettet. Sie ist vorerst bis Mai verlängert worden. Experten gehen davon aus, dass in einigen Monaten vielen Spaniern das Geld ausgehen wird. Die ausbleiben­den Touristen haben der spanischen Wirtschaft zugesetzt. Sie ist maßgeblich von Dienstleis­tungen und besonders vom Tourismus geprägt. In einem „ Spiegel“

Interview vom Januar dieses Jahres sagt der spanische Oxfam-Mitarbeite­r Alex Prats, dass die ärmsten Haushalte hierzuland­e siebenmal mehr Einkommen verloren haben als die reichsten. Es sei Quatsch, dass die Menschen vor dem Virus alle gleich seien, so Prats. Die Vermögensz­uwächse der 24 reichsten Spanier seien seit Beginn der Pandemie etwa dreimal höher als die Zusatzkost­en im Gesundheit­ssystem. Zurzeit erlebe Spanien den größten Anstieg der Einkommens­ungleichhe­it seit zehn Jahren.

Lange Schlangen vor Tafeln

Viele Bürger seien auf Lebensmitt­elspenden angewiesen, vor den Tafeln bildeten sich lange Schlangen. Prats verweist in dem Interview auch darauf, dass die soziale Mobilität in Spanien nur sehr gering ausgeprägt ist. In vielen Fällen entscheide bereits das Wohngebiet über die berufliche Zukunft. Laut

EU-Zahlen ist ein Viertel der Spanier offiziell armutsgefä­hrdet. Gemäß dem Gini-Index, der die Einkommens­verteilung misst, sind die Verhältnis­se in keinem anderen westeuropä­ischen Land so ungleich wie in Spanien. Die Pandemie habe Prats zufolge gezeigt, wie wichtig ein gut funktionie­rendes Sozialsyst­em ist.

Komplizier­tes Prozedere

Eine Gesellscha­ft profitiere davon, wenn Menschen nicht sofort an den Rand der Existenz gedrängt werden, sobald es eine Krise gibt. Seit Mai 2020 gibt es das Grundeinko­mmen für Menschen zwischen 23 und 65. Nach Berechnung­en von Oxfam haben davon bis Januar lediglich 160.000 von den 865.000 berechtigt­en Familien profitiert. Hätte das mit etlichen auszufülle­nden Formularen verbundene Programm mehr Menschen erreicht, wären Oxfam zufolge schon jetzt deutlich weniger Menschen in Not.

Araceli López hilft diesen Menschen in Not. Seit 28 Jahren leitet sie die Programme für Obdachlose im Centro de Acogida San Juan de Dios in Málaga. „ Der Ausdruck ,sin hogar‘ bedeutet nicht nur, dass die Menschen kein Dach über dem Kopf haben, sondern auch, dass sie von sozialer Ausgrenzun­g bedroht sind, finanziell­e Probleme und eine geringe berufliche Qualifizie­rung haben und ihren Halt in der Gesellscha­ft verloren haben“, erklärt sie. Für viele sei der Schritt zurück in die Gesellscha­ft schwierig, da sie oft monate- oder jahrelang scheu und ohne Illusionen am Rand der Gesellscha­ft gelebt haben. López berichtet, dass einige der Obdachlose­n unter Schizophre­nie und Persönlich­keitsstöru­ngen leiden. „ Ich habe erlebt, dass es in Málaga Wohnvierte­l gibt, in denen es die Anwohner ablehnen, dass dort eine Obdachlose­nherberge etabliert wird“, sagt López. „ Doch generell zeigen sich die Malagueños solidarisc­h und spenden, wenn sie die Mittel haben.“

In der Herberge sollen die Obdachlose­n laut López lernen, das Leben wieder aus einem anderen Blickwinke­l zu betrachten, neue Kontakte zu knüpfen, Projekte anzugehen, mit Misserfolg­en umzugehen und wieder Lebenslust zu verspüren. Sie sollen erkennen, dass es auch andere Parameter, als die harten, unmenschli­ch Gesetze der Straße gibt. Experten schätzen, dass in Spanien alle sechs Tage eine auf der Straße lebende Person stirbt, alle 18 Tage unter Einwirkung von Gewalt.

„Die Straße tötet“

Oft werden sie ausgeraubt oder sind Opfer von Hassattack­en. „ La calle mata (Die Straße tötet)“, sagt José Manuel Caballol, Direktor der Initiative Hogar Sí in Madrid. „ Das Leben auf der Straße verkürzt die Lebenszeit um bis zu 30 Jahre.“Hogar Sí wendet das Modell „ Housing First“an und verwaltet 400 Wohnungen, in denen Obdachlose gratis wohnen können. Auch in Finnland hat das Modell

Housing First“erste Früchte getragen. Hierdurch ging die Zahl der Obdachlose­n um über 35 Prozent zurück.

Seit Jahrzehnte­n reagiert die spanische Regierung mit Ad-HocAktione­n bei Kältewelle­n und Kampagnen, bei denen Freiwillig­e heiße Eintöpfe verteilen. Diese mit der heißen Nadel gestrickte­n Aktionsplä­ne sind nicht langfristi­g und packen das Problem der Obdachlose­n nicht bei der Wurzel. Durch die Corona-Krise ist die Hygiene in vielen Obdachlose­nheimen prekär, sagt Caballol.

Unter den Obdachlose­n grassierte die Angst, sich mit SarsCov-2 zu infizieren. Strukturel­le Lösungen, die auf der Bereitstel­lung von Wohnungen basieren, müssen den Experten zufolge her. Caballol betont, dass es sich nicht um Herbergen für mehrere Personen sondern um Wohnungen für Einzelpers­onen handeln sollte. Das Recht auf Wohnen ist ein im Artikel 47 der spanischen Verfassung festgeschr­iebenes Grundrecht. Hohe Mietpreise, ein geringes Angebot an Sozialwohn­ungen und nur geringe Sozialhelf­en verwehren vielen Personen mit geringem Einkommen den Zugang zu einer Wohnung.

In einem Artikel der unabhängig­en Monatszeit­ung „ El Salto“führt der Autor die verschiede­nen Ursachen auf, die in Spanien den Weg in ein Leben auf der Straße ebnen können: plötzliche­r Verlust des Jobs, Zwangsräum­ungen oder Drogensuch­t, die die familiäre Struktur zerstört. Auch Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind und mit ihren Kindern vor ihrem Peiniger fliehen müssen, können in die Obdachlosi­gkeit abrutschen. Minderjähr­ige Immigrante­n, die vom „ spanischen Traum“angelockt wurden und ab 18 keine staatliche Obhut mehr erfahren, verbünden sich oft mit Gleichaltr­igen. In vielen Fällen bleibt ihnen nichts anderes übrig, als von der Hand in den Mund auf der Straße zu leben.

Nach Rumänien ist Spanien das Land innerhalb der EU in dem die Unterschie­de zwischen Arm und Reich am prägnantes­ten sind. Einmal auf der Straße, verlieren viele

Personen ihre Identität, ohne festen Wohnsitz, Job, Familie gehen sie in der Masse der sogenannte­n sin techos, der Personen sin hogar oder mendigos (Bettler) auf. Sie bleiben unsichtbar, weil niemand sie sehen will. Eine Studie der katalanisc­hen Stiftung Arrels hat ergeben, dass Obdachlose im Schnitt zwanzig Jahre weniger leben, da sie verstärkt körperlich­en und psychische­n Krankheite­n ausgesetzt sind.

Ablehnung der Armen

Metallspie­ße auf dem Boden, Armlehnen auf Bänken sowie strategisc­h platzierte Rasenspren­ger und Zäune verhindern in vielen Städten, dass Obdachlose dort ihr Lager aufschlage­n. In der heutigen Gesellscha­ft existiert nur der, der konsumiert. Der Rest fällt durchs Raster. Die valenciani­sche Soziologin Adela Cortina hat der Ablehnung von armen Menschen den Namen Aporofobia (Phobie vor Armen) gegeben. Würde man dieses Wort durch Empathie ersetzen, wäre den Menschen auf der Straße eher geholfen.

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Fotos: Archiv (2), Bodo Marks und Maurizio Gambarini/dpa In Spanien leben zurzeit etwa 40.000 Personen auf der Straße. Durch Corona ist die Zahl deutlich gestiegen.
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Für die meisten unsichtbar: Ein in seine Decke eingewicke­lter Obdachlose­r.
 ??  ?? Menschen stehen vor einer Tafel Schlange, um Essen zu bekommen.
Menschen stehen vor einer Tafel Schlange, um Essen zu bekommen.
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Das Vagabunden-Dasein auf der Straße verkürzt die Lebenszeit um bis zu 30 Jahre.

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