Don Otto – Lichtgestalt
Erleuchtung in Sevilla: Das spannende und tragische Leben des Otto Engelhardt – Ingenieur, Konsul, Pazifist
Die Straßenbahnen wurden noch von Maultieren gezogen, als der junge Ingenieur Otto Engelhardt 1894 aus Berlin kommend in Sevilla eintraf. Im Jahr zuvor hatte eine Abordnung der Sevillaner die AEG-Werke in Berlin besucht, die schon 1881 eingeweihte erste elektrische Straßenbahn der Welt bestaunt, Kraft- und Umspannwerke, Schaltzentralen, Stromzähler bewundert. Elektrizität, erst recht Strom in fast allen Häusern, Fabriken und Geschäften, das war damals High-Tech und AEG das Microsoft seiner Zeit, zumindest in Europa. Das wollten die Andalusier auch und die Deutschen freuten sich über einen riesigen neuen Markt.
Nun stand der 28-jährige Otto, Sohn eines Braunschweiger Spiegelfabrikanten und Hoflieferanten, in Sevilla, in einer Stadt, die schon Weltstadt war, noch bevor es Berlin überhaupt gab. Doch abends flimmerten hier jetzt nur ein paar armselige Gaslaternen die altehrwürdigen Gebäude an. Strom hatten nur die Reichen, schon im Barrio Santa Cruz direkt neben den Königlichen Palästen war es stockfinster. Gerade 486 Stromkunden, Behörden und Militär eingeschlossen, gab es, kaum Kabel, zu wenig Kraftwerke.
Es werde Licht
Sevilla hatte den Anschluss verloren. Madrid und Barcelona, auch Galicien, Asturien und das Baskenland brachen mit Fabriken ins 20. Jahrhundert auf, Sevilla zehrte vom vergilbten Glanz vergangener Zeiten. Otto brachte im Gepäck die Ernennungsurkunde zum ersten Direktor der frisch gegründeten Compañía Sevillana de Electricidad, CSE, und reichlich Kapital der Deutschen Bank mit. Diese hielt die Mehrheit an der Aktiengesellschaft, 76 weitere Aktionäre waren einflussreiche Unternehmer beider Länder, mit Nähe zu Politik und Höfen.
Die Leitung teilten sich Sevilla und Berlin. Im Vorstand saß auch ein gewisser Emil Rathenau, Gründer von AEG und Telefunken, Banker und Vermarkter der Edison-Patente. Er war Ottos Mentor und der Vater von Walter Rathenau, dem späteren Außenminister der Weimarer Republik, der 1922 von Na
zis ermordet werden würde.
Doch all das war damals noch weit weg. Engelhardt startete durch, besorgte fünf Dutzend neue Triebwagen für die Tranvía, die Straßenbahn, und elektrifizierte sie. So wurde Sevilla 1899 die fünfte Stadt Spaniens mit einer elektrischen Straßenbahn, nach Madrid, Barcelona, Bilbao und San Sebastián, rund 20 Kilometer lang war das Netz da bereits.
Engelhardts Team, er stockte binnen weniger Jahre auf über 2.000 Mitarbeiter auf, ließ in die meist noch ungepflasterten Straßen tausende Kilometer Kabel verlegen, Kraftwerke für Kohle und Wasser wurden gebaut oder unter Vertrag genommen. Die Universität, die Tabakfabrik und der Hafen wurden zuerst elektrifiziert. Ab 1901 leuchtete auch das riesige Feria-Gelände elektrisch auf. Die CSE kaufte die privat betriebene Straßenbeleuchtung auf und übernahm 1907 die gesamte Straßenbahn von einer britischen Firma, der Tramway of Seville. Engelhardt schuf dafür eine eigene Gesellschaft und wurde anfangs auch deren Chef.
Bald war der Deutsche als „ Otto, él de la tranvía“, „ Otto, der von
der Straßenbahn“bekannt, der die „ tranvías de sangre“also die „ mit Blut“betriebenen Karren durch „ Selbstfahrende“ersetzte. 1908 eröffnete die CSE am Prado de San Sebastián ihre neue Firmenzentrale. Die Sevillaner nannten sie einfach „ Lichtfabrik“, fábrica de la luz.
Seit Engelhardts Ankunft 1894 bis zum Ersten Weltkrieg 1914 wurde auch das Umland Sevillas bis Dos Hermanas, Coria del Rio, Utrera und sogar bis Jerez per Oberleitung elektrifiziert. Auch das gemütliche San Juan de Aznalfarache am Ufer des Guadalquivir. Engelhardt gründete dort eine Familie und baute sich eine hübsche Villa im andalusischen Neomudéjar-Stil. Villa Chaboya war nicht nur für die Familie da, sondern wurde bald eine Art Country-Club mit vielen Besuchern, deutschen, englischen, spanischen. Engelhardt gründete in San Juan die Pharmafirma Sanavida, die es noch heute gibt und die Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel verkaufte.
Nach Aussagen seiner Nachfahren war Otto sehr gesellig, der Typ lustiger, gutmütiger Onkel, mit dem man gerne ein Bier trinkt. Intellektuell, humorvoll, menschenfreundlich werden Prädikate, die Engelhardt von vielen Zeitzeugen immer wieder bekommt.
Der junge Ingenieur war eine Institution in Sevilla geworden, auch die Investoren in Deutschland wa
ren zufrieden. Die Elektrifizierung hatte nicht nur hellere Straßen und eine elektrische Tram gebracht, sondern Strom als Basisleistung demokratisiert. So kamen auch mehr Investoren in eine traditionell strategisch interessante Region.
Gleichzeitig setzte Engelhardt soziale Mindeststandards zumindest in seinen Firmen durch, auch das war eine Neuheit im Armenhaus Andalusien. Vier Patente meldete Engelhardt als Hobbytüftler an, unter anderem für einen selbst nachladenden, geschlossenen Kohleofen, der auf die Bedürfnisse ärmerer Haushalte zugeschnitten war.
Konsul auf verlorenem Posten
Sevilla war schon Weltstadt, da gab es Berlin noch gar nicht
Als 1909 viele Verletzte aus dem zweiten Rif-Krieg in Marokko in Sevillas Spitäler kamen, schmückte Otto einige seiner Straßenbahnwagen zu Reklame-Fahrzeugen für den guten Zweck aus und sammelte damit Spenden ein. 1911 dankte ihm König Alfonso XIII. das Engagement mit der Medaille „ Isabel la Católica“. Bereits 1903 ernannte ihn Kaiser Wilhelm zum Honorarkonsul des Deutschen Reiches für Sevilla. Das war eigentlich nur ein Ehrentitel, der aber Otto noch schwer auf die Füße fallen sollte.
1914 brachen Österreich und Deutschland den Ersten Weltkrieg vom Zaun. Spanien, dessen Monarchie sich ihrer Schwäche bewusst war, bemühte sich darum, nicht in
den Strudel der Vernichtung gezogen zu werden. Die Alliierten sahen nun in allem, was deutsch war, eine Kriegspartei und übten Druck auf Spanien aus, den Konsul loszuwerden. Es half Engelhardt auch nichts, dass er als Konsul Informationen über eine false flag-Aktion deutscher Spione gegen Sevillanische Schmuggler aufdeckte, die Spanien provozieren sollte, seine Neutralität aufzugeben. Durch die Weitergabe der Informationen an die Spanier vereitelte Engelhardt den Sabotageakt und begründete diesen „ Verrat“später damit, dass es nicht Aufgabe eines Konsuls sei, sein Gastland in einen Krieg zu verwickeln. Er stellte also das Völkerrecht über nationale Loyalität. Das war beachtlich.
Engelhardt wurde bald auch öffentlich zum Pazifisten, gründete einen Verein namens „ Pro Sevilla – Ciudad de la Contraguerra“, Sevilla, eine Stadt gegen den Krieg. Er hatte schon durch die Marokko-Krise erkannt, dass es immer die kleinen Leute waren, die den Preis für Machtphantasien der Oberschicht zahlten. 1916, mitten im Krieg, beantragte er im deutschen Außenministerium die Gründung einer Deutschen Schule in Sevilla, weil hunderte Familien und Lehrer der Deutschen Schule Lissabon ausgewiesen wurden und in Sevilla Asyl suchten. Ab 1921 wurde diese Schule errichtet, das Colegio Alemán de Sevilla existiert noch heute.
1919 dann lag Deutschland am Boden, Engelhardt gab desillusioniert seinen Titel als Konsul zurück. Bald musste er auch die Direktion der Elektrizitätswerke niederlegen, die Engländer drohten mit der Einstellung der Kohlelieferungen für die Kraftwerke, sollte der Deutsche im Amt bleiben. In Sevilla würden dann die Lichter ausgehen.
Engelhardt besuchte seinen im Krieg schwer verletzten Sohn in Braunschweig, reiste nach Berlin und stellte fest, dass Deutschland nicht mehr seine Heimat war. 1922 schreckte ihn der Mord am Außenminister der Weimarer Republik Walter Rathenau auf, Sohn seines Förderers und AEG-Vorstands Emil Rathenau. Im gleichen Jahr entmachtete sich Spaniens König selbst und ließ Ministerpräsident Primo de Rivera eine faschistoide Diktatur installieren. In diesen finsteren Zeiten leuchtete 1929 Sevilla nochmals hell auf, zur Ibero-Amerikanischen Schau, die der Stadt einen Modernisierungsschub gab, der ohne Engelhardts Elektrifizierung gar nicht denkbar gewesen wäre. In den 1990er Jahren ging die CSE übrigens im Endesa-Konzern auf und die Straßenbahngesellschaft ist heute die Metro de Sevilla.
Adiós Deutschland
König Alfonso und das alte Spanien sonnten sich bei ihrer Geister-Expo 1929 ein letztes Mal im ranzigen Glanz der alten Kolonial- und Weltmacht, dann kam auch in Spanien die große Zeitenwende: die Republik, eine Hoffnung, die in Chaos, Putsch und Bürgerkrieg versinkt, besser gesagt, versenkt wird. Bereits 1931 gab Engelhardt, der Großindustrielle und glühende Republikaner, alle deutschen Auszeichnungen zurück und jetzt auch seinen Pass. Die Republik lud ihn ein, Spanier zu werden. Der junge Ingenieur Engelhardt aus Braunschweig, der 1894 im dunklen Sevilla ankam, um es zu erleuchten, war nun offiziell Don Otto. „ Ein Deutscher, der mit einem andalusischen Herz geboren wurde“, wie es vor einigen Jahren ein Politiker bei einer Gedenkstunde obduzierte.
Engelhardt schrieb in der Zeitung „ El Liberal de Sevilla“regelmäßig glühende Artikel gegen den aufkommenden Faschismus in Deutschland. 1932 publizierte er erstmals seine Broschüre „ Adiós Deutschland – mit seinen Baronen und Faschisten“, worin der ExKonsul zweisprachig erklärte, warum er seiner Heimat den Rücken kehrt. Mit den „ Baronen“waren die Kriegsgewinnler Thyssen und Krupp und die Banker gemeint, die Hitler an die Macht bringen wollten, um ihre Interessen zu wahren.
Diese Publikationen sorgten für Aufsehen in Berlin. 1934, die düstersten Prognosen hatten sich bewahrheitet, wurden sie zum Todesurteil: „ Der Krieg ist ein Verbrechen, ein schmutziges Geschäft, das nicht dazu dient, Angelegenheiten zwischen Nationen zu klären, sondern um die Taschen Industrieller, der Monopolisten zu füllen, die ein großes Interesse daran haben, die Völker gegeneinander in Wallung zu halten“. Der Krieg als Mittel der Politik, so schlussfolgerte Engelhardt, sei illegal. Er zitierte Spaniens neue, republikanische Verfassung und meinte: „ Spanien ist das erste Land, das in seiner Verfassung gegen das Verbrechen des Krieges angeht – Viva España!“
Telegramm an Hitler
Der deutsche Konsul in Sevilla, die Botschaft in Madrid intervenierten, um Publikationen Engelhardts zu unterbinden. „ Es gibt viele Unterlagen der deutschen Polizei über Otto und da war schon klar, dass er getötet werden soll“, erzählt seine Urenkelin Ruth in einer Doku von 2019. Es gibt Hinweise, dass der Tötungsbefehl als „ Säuberung“eine Gegenleistung für Militärhilfe war, die Hitler Franco angedeihen ließ, das Konsulat war Mittäter, die AEG ließ ihren Helden von Sevilla schändlich im Stich.
Engelhardt ließ nicht locker, 1934 schickte er ein Telegramm an „ Adolf Hitler, persönlich“. In dem Schreiben „ befahl“er dem Führer die „ sofortige Schließung der Konzentrationslager“, mit Verweis auf das Völkerrecht. Viele Deutsche wollen vor Mai 1945 nichts von KZs gewusst haben. Wer wollte, wusste davon schon 1934 – selbst in San Juan de Aznalfarache. Engelhardt wandelte sich endgültig vom Pazifisten zum aktiven Widerstandskämpfer. Tyrannen stoppt man eben nicht mit weißen Flaggen und „ Friedensverhandlungen“.
Am 19. August 1936, der faschistische Putsch war gerade zwei Monate alt, wurde der 70-jährige Engelhardt ins Hospital de las Cinco Llagas eingeliefert, das gleiche, dem er 25 Jahre zuvor mit Spenden geholfen hatte. Er lag in Bett 37 mit einer Phlebitis, einer Venenentzündung, als am 12. September Soldaten des Putsch-Generals Queipo de
Llano die Gesundschreibung erzwangen und Engelhardt im Krankenbett verhafteten. Er wurde ins „ Amt für Öffentliche Ordnung“in die Calle Jesús del Gran Poder gebracht. Zwei Tage später, am 14.
September 1936, wurde er an der Mauer des Friedhofs San Fernando von Sevilla erschossen und in einem Massengrab verscharrt, so wie erst einen Monat zuvor der Dichter Lorca und danach noch Zigtausende. Engelhardts Verbrechen: „ Unterstützung einer feindlichen Kriegspartei“, übersetzt: Republikaner. Sohn Conrado wollte am Tag darauf in der Kommandantur die persönlichen Habseligkeiten des Vaters abholen, man jagte ihn unter Morddrohungen davon.
In seine Villa Chaboya zogen nur Tage später deutsche Nazis ein, Soldaten der Legion Condor. „ Meine Familie war gezwungen, diese Leute zu bewirten, sie zu unterhalten“, erzählt Ruth Engelhardt, Ottos Urenkelin, in der Dokumentation. 1984 verkaufte die Familie das Anwesen, bis heute verfällt es. Zwar steht es unter Denkmalschutz, doch der Eigentümer „ erfüllt keine der Vorschriften, sie warten einfach, bis es zusammenfällt, damit sie es los sind“, klagt die Urenkelin.
„ Es ist ein Projekt für die Zukunft“, die Villa Engelhardt in ein Museum und einen Erinnerungsort umzugestalten. Das verspricht das Rathaus immer mal, zwischenzeitlich tauchten wieder Hakenkreuze an den Wänden auf. 2016 besetzten linke Gruppen die Villa symbolisch.
2020 beschloss der Stadtrat nochmals, die Villa vom aktuellen Eigentümer, der Baumschule „ Viveros Aznaljarafe“zu kaufen, notfalls per Zwang, blieb auf dem Weg aber wieder stecken, „ weil wir den im Grundbuch vermerkten Eigentümer nicht ausfindig machen können“. Ohne Eigentümer gibt es keine Enteignung. Engelhardt konnte vor 100 Jahren in einem Jahrzehnt ganz Sevilla erleuchten, heutzutage scheint es in der gleichen Zeit unmöglich, einen Menschen ausfindig zu machen.
Don Otto als Schulstoff
„Die Spanische Republik ist das erste Land, das in seiner Verfassung gegen das Verbrechen des Krieges angeht“
Im Haus der Provinzverwaltung von San Juan hat die Bürgerliste „ Pro San Juan“Ende 2021 eine Ausstellung organisiert. 2018 wurde auch die alte Plakette am Hospital de las Cinco Llagas in Sevilla, heute das andalusische Parlament, wieder angebracht. Mit dabei waren Vertreter der damals regierenden PSOE, Republikaner, Familienangehörige Engelhardts, auch der deutsche Konsul in Málaga. Im Zentrum Sevillas gibt es die Calle Otto Engelhardt, 2019 erschien auf dem Filmfestival Braunschweig eine Doku: „ Otto entdecken: Der Konsul, der Hitler herausforderte“, in der erstmals gründlicher das Leben und Wirken Engelhardts aufgearbeitet wurde, Artikel in historischen Fachzeitschriften und Internetportalen erschienen, Braunschweig und San Juan de Aznalfarache wollen Partnerstädte werden.
Ein Urenkel und ein Ururenkel Engelhardts heißen Otto. Doch das soll nicht das einzige „ lebendige“Erbe sein: 2022 ließ das Rathaus San Juan eine Broschüre drucken und in den Grundschulen des Ortes als Lehrstoff verteilen, ihr Titel: „ Otto Engelhardt: Auf der Suche nach Fortschritt und Freiheit“. Denn Don Otto, der von der Straßenbahn, sei ein Vorbild, von dem man lernen sollte. Er ist im doppelten Sinne ein leuchtendes Vorbild, eine Lichtgestalt.