Durchbruch unter Protest
PSOE und Junts einigen sich auf Investitur und Amnestie – Straßenkämpfe in Madrid – Richterschelte und Eisenbahnerstreik
Von einer Einigung hängt die Zukunft von Sánchez und Puigdemont ab
Madrid – sk. Krawall auf den Straßen, Aufstand in den Gerichten und blank liegende Nerven nach nächtelangen Verhandlungen. Unter so einem Druck stand in Spanien wohl noch keine Regierungsbildung. Am Donnerstag ist der Durchbruch gelungen.
Wieder haben die Delegierten von Junts und PSOE die Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag zum Tag gemacht, um den Entwurf für das Amnestie-Gesetz abermals auf den Prüfstand zu stellen. In den frühen Morgenstunden dann die Einigung – nach einer Woche nervenaufreibender Verhandlungen gibt Separatist Carles Puigdemont sein Okay. Junts unterstützt im Parlament die Wahl von Pedro Sánchez zum Ministerpräsidenten. Jetzt fehlt den Sozialisten nur noch das Plazet der PNV, der gemäßigten baskischen Nationalisten. Nächste Woche könnte die neue Regierung in Spanien stehen.
Dienstagnacht hatten sich rechtsradikale Chaoten vor dem Parteisitz der Sozialisten in der Calle Ferraz in Madrid Straßenschlachten geliefert. Steine flogen, Faschistengrüße und Franco-Fahnen sah man, Mitglieder der ultrarechten Vox, die Falange, Desokupa, Democracia Nacional und ihre Anhänger in den Sozialen Netzwerken marschierten auf. Die wilde Nacht endete mit sechs Verhafteten und 30 verletzten Polizisten.
Seit Tagen bringen Tausende in mehreren Städten in Spanien ihren Unmut gegen die Sozialisten zum Ausdruck, machen Stimmung gegen die Verhandlungen mit den Separatisten und das AmnestieGesetz. Keineswegs kann man alle Demonstranten als rechtsradikal abstempeln, Mittwochnacht drängten bürgerliche Demonstranten die Chaoten sogar ins Abseits.
Unmut kommt auch von der anderen Seite. Die Arbeitgeberverbände gehen auf Distanz. Die Eisenbahner rufen in ganz Spanien Streiks für den 24. und 30. November sowie den 1., 4. und 5. Dezember aus. Denn die PSOE hat ERC ja versprochen, die in Katalonien verkehrenden Nahverkehrszüge der dortigen Landesregierung anzuvertrauen. Nun fürchten die Bediensteten der Bahn um den Beamtenstatus.
Das Richtergremium Consejo General del Poder Judicial beraumte am Montag eine Sondersitzung ein, in der die konservative Mehrheit eine kritische Erklärung durchdrückte und eine AmnestieRegelung „ für nicht vereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip“erklärt. Das Gremium mault seit Jahren ohne Mandat, aber der Ärger der Juristen lässt sich nachvollziehen. Pedro Sánchez scheint ja maßgeschneiderte Gesetze für Separatisten zu verabschieden. Erst die Begnadigung der verurteilten Mitglieder der früheren katalanischen Landesregierung, die das illegale Unabhängigkeitsreferendum angestrengt haben. Dann die Abschaffung des Strafbestands des Aufruhrs, auf dessen Grundlage diese Politiker zu drakonischen Strafen verurteilt wurden, und Abschwächung der Strafen für die Veruntreuung öffentlicher Gelder, wenn diese nicht die eigene Tasche füllen, sondern „ höheren Dingen“dienen wie etwa der Unabhängigkeit Kataloniens.
Mit der Amnestie scheint Pedro Sánchez das Fass zum Überlaufen
zu bringen. Was hat er mit dieser Politik in Katalonien erreicht? Einen sozialen Frieden dort, aber auch eine solide Grundlage für dauerhafte spannungsgeladene Beziehungen zu allen konservativen Politikern. PP-Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo ruft am Sonntag in allen 50 Provinzhauptstädten zu Demonstrationen „ gegen den größten Anschlag auf den Rechtsstaat“auf.
Der Druck von der Straße ist gewaltig. Bringen die Sozialisten die Regierungsbildung nicht zügig in trockene Tücher, dann scheitert auch die zweite Investitur und Spanien muss am 14. Januar wieder wählen. Das Land hat seit Juli keine funktionierende Regierung mehr, nicht wenige würden trotzdem wie PSOE-Urgestein Felipe González Neuwahlen begrüßen. Umfragen zufolge hätten die Wähler auch „ die Lektion gelernt“und Vox und PP bekämen eine absolute Mehrheit zusammen. Doch das ist irreal und irrelevant. Bis 27. November gilt das Mandat von König Felipe VI., mit dem Pedro Sánchez den Auftrag erhält, eine Mehrheit für eine Regierung zu suchen. Genau das macht er. Wahrscheinlich werden die Parlamentsdebatte und beiden Wahlgänge kommende Woche über die Bühne gehen.
Und davon hängt nicht nur sein politisches Überleben ab, sondern auch das des Justizflüchtlings Carles Puigdemont – bei Neuwahlen könnte seine Rückkehr nach Spanien in einer Haftanstalt enden. Der Schlüssel zu dieser Mehrheit ist ein Gesetz zur Amnestie, das Separatisten vor juristischer Verfolgung schützen soll, die sich für das Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens starkgemacht haben. Viele regen sich in Spanien darüber auf, niemand weiß irgendetwas Genaues über den Inhalt. Deswegen hat sich sogar die Europäische Union in diese turbulente Phase der Regierungsbildung eingeschaltet. Der EU-Justizkommissar Didier Reynders will nun von der spanischen Regierung wissen, „ welche Personen, welche Materie und welchen Zeitraum“das Amnestie-Gesetz abdecken soll.
Klar ist nur, die katalanischen Republikaner der ERC gaben vergangenen Donnerstag grünes Licht für die Regelung. Allerdings führen die Verhandlungen mit Junts und Carles Puigdemont in Brüssel erst eine Woche später, am 9. November zu einem Ergebnis. Mehrmals wähnten die Sozialisten sich am Ziel, immer wieder schickte Puigdemont sie zurück auf Los, während Tausende in den Straßen gegen die Verhandlungen demonstrierten. Nun berichtet die spanische Zeitung „ El País“, dass einer der Gründe für Verzögerung beim Nationalen Strafgerichtshof in Madrid zu suchen ist, der ein Verfahren gegen die separatistische Straßenkampftruppe Tsunami Demócratico wegen Terrorismus eröffnen und Carles Puigdemont dazu vernehmen will (siehe, Spanien, Seite 27). Scheinbar klopften Junts ein ums andere Mal den Gesetzesentwurf ab, damit kein Richter irgendeinen Hebel findet kann, um die Rädelsführer des Unabhängigkeitsreferendums von 2017 hinter Gitter stecken zu können.
Bei der Befragung der PSOEParteimitglieder beschaffte sich Pedro Sánchez in der Vorwoche gewissermaßen die Rückendeckung von 87,7 Prozent der Sozialisten, um mit Junts und der ERC in Verhandlungen für die Regierungsbildung treten zu können. Fraglich, ob die Parteibasis nach dem Theater in dieser Woche sich nochmals so geschlossen hinter ihn stellen würde. Auch das ist irreal und irrelevant, denn ein Zurück gibt es für Sánchez nicht mehr.
Er hat sein Ziel aber auch in Sichtweite. Die Abkommen mit der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) und der liberalen Junts sind seit diesem Donnerstag in trockenen Tüchern. Neben der Amnestie und den Zügen drückten die Linksrepublikaner auch einen Schuldenschnitt für Katalonien in Höhe von 15 Milliarden Euro durch. Seitdem steigt nur noch schwarzer Rauch aus den Schornsteinen der Sympathisanten der Volkspartei auf. Dabei geht es um Gelder, die der Staat während der Finanzkrise günstig aufnahm und über den Liquiditätsfonds an die klammen Regionen verlieh.
Keine andere Region griff so stark zu wie Katalonien, aber die Regierung Sánchez will über einen Mechanismus auch alle anderen Regionen von diesen Verbindlichkeiten befreien, wovon auch insbesondere Valencia, Andalusien und die Regionen profitieren würden, die sich beim jetzigen System der Länderfinanzierung benachteiligt fühlten. Natürlich nahm die Region Madrid nicht einen Euro über diesen Fonds mit und die große Dame der Madrider Volkspartei, Esperanza Aguirre, stand bei den jüngsten Demonstrationen ganz vorne dabei.