Wo der Kunde noch König ist
Einzelhändler der ländlichen Gebiete stellen sich auf die Bedürfnisse der immer weniger werdenden Dorfbewohner ein
Es herrscht bereits Betrieb an diesem Montagmorgen. Ein Kunde nach dem anderen betritt den Laden von Carmen Gascó. Es ist gerade mal kurz nach 10, da hat die Mutter von zwei Kindern schon drei Stunden Arbeit hinter sich. „ Mein Arbeitstag fängt früh an“, erzählt die 48-jährige Spanierin froh gelaunt, während sie in ihrem hervorragend sortierten Tante-Emma-Laden in Alpatró einen Käselaib in zwei Hälften teilt. „ Ich bin meistens schon um 7 Uhr hier, um in Ruhe Ware in die Regale räumen zu können. Mein Mann holt unterdessen das Brot aus der Bäckerei in Benisivá, das ich verkaufe, bevor er seiner Arbeit nachgeht.“Er ist als Landwirt tätig, baut Kirschen und Oliven an.
Alpatró ist mit rund 100 Bewohnern das größte der acht Dörfer, die den Ortsverbund Vall de Gallinera im Hinterland der Marina Alta (Alicante) bilden. Autoservicio Carmen ist der einzige Lebensmittelladen weit und breit geblieben. Es habe noch einen zweiten im zehn Autominuten entfernten Benisivá gegeben. Den hätten Leute eröffnet, die von außerhalb zugezogen seien, berichtet die Geschäftsfrau. „ Nach zwei Jahren haben sie aber wieder geschlossen und sind weggezogen“, erzählt sie. „ Ich nehme an, ihnen war der Zeitaufwand zu groß.“Der Bäcker, von dem sie ihre Backwaren für den Verkauf bezieht, hat sein Sortiment daraufhin etwas erweitert. „ So müssen die Leute aus Benisivá nicht wegen jeder Kleinigkeit nach Pego fahren oder in meinen Laden kommen.“
Lebensmittelläden, Bäcker und Apotheken sind dünn gesät in den kleinen Dörfern ländlicher Gebiete. Immer mehr Einzelhändler geben auf. Der Grund ist eine kontinuierliche Abwanderung der vorwiegend jungen Bevölkerung. Die Ladenbesitzer, die sich behaupten können, stellen sich ganz auf ihre Kunden ein. Das wurde bei einem Streifzug durch das Hinterland deutlich. Der Kunde ist König.
Sieben Tage in der Woche öffnet Carmen Gascó ihr Geschäft. Man kann es in dem wenige Straßen zählenden Dorf nicht verfehlen. Es verfügt von Obst und Gemüse über Schinken, Käse und Wurstwaren bis hin zu Konserven, Drogerieartikeln, Getränken und Spirituosen über ein unglaublich breites Angebot. Sogar tiefgefrorenen Fisch kann man bei Carmen kaufen, und unlängst wurde das Sortiment mit Honig und Kirschlikör aus der Region erweitert. Dafür habe sie Farben und Malerzubehör abgeschafft. Der Aufwand sei zu groß gewesen.
Warum sie sich keinen Ruhetag gönnt, wollen wir wissen. Die Antwort kommt ohne zu zögern: „ Weil es hier ganz normal ist, dass der Lebensmittelladen immer öffnet, die Bewohner sind es nicht anders gewöhnt.“Das sei schon so gewesen, als ihre Mutter noch im Laden stand. Auf unseren Einwand, die Dorfbewohner ließen sich doch sicher an neue Öffnungszeiten gewöhnen, antwortet Gascó: „ Das bringe ich nicht übers Herz, es macht mir ja auch nichts aus“.
In Spanien gibt es mehr als 2.000 Geisterdörfer in ländlichen Gebieten. In der Provinz Alicante laufen 32 Orte Gefahr, zu verwaisen, zu ihnen zählt auch Vall de Gallinera. Zählte man 2016 noch knapp 700 Einwohner in dem idyllischen Landstrich, sind es neuesten Zahlen zufolge nur noch 578 Bewohner, das Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren.
80 Prozent der Familien, die im Vall de Gallinera beheimatet sind, haben zwar Ländereien, die sie bearbeiten, davon leben können aber
Carmen Gascó öffnet ihren Laden an sieben Tagen in der Woche
nur noch die Wenigsten. Die Folge: Immer mehr junge Leute aus Orten wie Benirrama, Benialí, Benisivá, Benitaia, La Carroja, Alpatró und Benissili haben sich im Laufe der Jahre auf und davon gemacht und sich an der Küste oder in Städten wie Cocentaina oder Alcoy eine verlässliche Haupteinnahmequelle gesucht. Weil aber niemand auf Dauer unzählige Kilometer zwischen der Arbeitsstelle und dem pueblo zurücklegen will, lassen sich Abwanderer in der Nähe des Arbeitsplatzes nieder.
Eine von wenigen Ausnahmen ist Mariola Soler. Die junge Apothekerin aus Onteniente ist den umgekehrten Weg gegangen, sie pendelt täglich zwischen ihrem Wohnort und Benialí hin und her. Als sich für die Spanierin vor einem Jahr die Möglichkeit ergab, dort die frei gewordene Apotheke zu übernehmen, zögerte sie nicht lange. „ Die Konditionen waren um ein Vielfaches besser als in der Großstadt, wo die Übernahme einer Apotheke mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden ist“, erklärt sie ihre Entscheidung, ihre Selbständigkeit im Hinterland der Marina Alta zu starten. Selbst in Onteniente wäre das für sie aus finanziellen Gründen schwierig gewesen.
Auf fremde Hilfe angewiesen
Soler bekräftigt, es sei für sie kein Problem gewesen, sich an den anderen Lebensrhythmus in dem kleinen Örtchen anzupassen. „ Die Bewohner haben mich vom ersten Tag an sehr herzlich aufgenommen“, sagt sie „ Ich bin gerne hier.“Doch auch wenn die Pharmazeutin von ihrem neuen Tätigkeitsfeld schwärmt – ihren Wohnsitz möchte sie dann doch lieber in Onteniente beibehalten. Dafür nimmt sie jeden Tag 45 Minuten Autofahrt für eine Strecke in Kauf.
Eine Kundin mischt sich in das Gespräch ein. „ Alten Menschen wird es immer schwerer gemacht, in dieser verlassenen Gegend zurecht zu kommen“, schimpft die 78-Jährige. „ Für mich ist es ein großes Problem, dass es im weiten Umkreis nur diese eine Apotheke gibt.“Sie wohne in Alpatró, fahre kein Auto mehr und der Busbetrieb, den es früher einmal gegeben habe, sei schon vor langer Zeit eingestellt worden. „ Wenn ich etwas aus der Apotheke brauche oder Geld vom Bankautomaten abholen muss, bin ich darauf angewiesen, dass mich jemand aus der Nachbarschaft oder eines meiner Kinder, von denen keines hier wohnt, nach Benialí fährt.“Hinter vorgehaltener Hand verrät die Seniorin dann noch: „ Zum Glück ist die Apothekerin so freundlich und bringt mir auch schon mal Medikamente nach Hause, wenn ich sie
dringend benötige.“Mariola Soler nickt zustimmend und sagt: „ Kein Problem. Für mich ist es kein Umweg, wenn ich nach Hause fahre, den Service leiste ich gerne.“Sie habe sich auf die Bedürfnisse ihrer vorwiegend älteren Kunden eingestellt, fügt sie noch hinzu.
„ Für viele Menschen im erwerbsfähigen Alter wäre es gar kein Problem, sich an das Leben auf dem Land anzupassen“, meint Cayetano Espejo, Professor für Geographie an der Universität Murcia. „ Vorausgesetzt, es gäbe in den ländlichen Gegenden, in denen die Abwanderung ein Thema ist, die Dienstleistungen und Arbeitsplätze, die für ihre normale Entwicklung notwendig sind.“Doch das sei eben die Crux. „ Da, wo die wirtschaftlichen Aktivitäten verkümmert sind, ist es kaum möglich, dass wieder Basisdienste in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildungssystem und Sicherheit entstehen. Und wer will schon riskieren, im Notfall Dutzende von Kilometern bis ins nächste Krankenhaus zurücklegen zu müssen?“
Ein ähnliches Problem stelle sich für die junge Bevölkerung im Bildungsbereich. „ In ländlichen Gebieten, in denen selbst die Landwirtschaft stagniert und es kaum eine andere Möglichkeit gibt, wirtschaftlich zu überleben, sind Heranwachsende aufgrund des Mangels an Schulen und Ausbildungszentren dazu gezwungen, täglich längere Strecken zurückzulegen“, sagt der Experte. All diese
Schwierigkeiten hielten junge Menschen und die, die noch im Berufsleben stehen, davon ab, sich im Hinterland niederzulassen, und Abwanderer, die noch einer Arbeit nachgehen, hätten kein Interesse, wieder dauerhaft in ihren Geburtsort zurückzukehren. „ Die Landbevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird auch weiterhin in Städte abwandern, weil dort vor allem jüngere Menschen bessere Berufschancen haben“, sagt Espejo. „ Ein Teufelskreis. Die alten Dorfbewohner sterben aus und es kommen kaum junge Leute nach. Ländliche Gebiete verwaisen dadurch immer mehr.“
Ein Kindheitstraum
Für viele junge Menschen wäre es kein Problem, sich an das Leben auf dem Land anzupassen
Zurück zu Carmen Gascó, in deren Laden es sich ein älterer Mann auf einem Stuhl bequem gemacht hat. Ohne zu fragen, packt ihm die Ladenbesitzerin einen Laib Brot und Schinken in die Einkaufstasche. Unsere verdutzten Blicke wahrnehmend, sagt sie lachend: „ Mit den Jahren kennt man die Gewohnheiten seiner Kunden sehr gut und weiß um ihre Wünsche“. Montags kaufe der Mann immer das Gleiche. Heute hat der Spanier aber noch eine andere Bitte: Das Datum auf seinem Mobiltelefon sei falsch eingestellt. Er habe keine Ahnung, wie man das ändert, ob sie ihm nicht eben mal behilflich sein könne.
Bereitet es ihr Sorgen, dass sie mit ansehen muss, wie die Einwohner immer weniger werden? „ Naja, gelegentlich lassen sich hier schon noch Leute nieder“, erwidert Gascó, während sie einer Frau, die sich als belgische Bewohnerin vorstellt, eine Flasche Olivenöl verkauft. „ Grundsätzlich mache ich mir darüber aber keine Gedanken“, sagt Carmen. Ihr Optimismus wirkt echt.
Eigentlich sei sie von Beruf Physiotherapeutin. „ Meine Eltern haben nie von mir erwartet, dass ich den Laden übernehme, und mir ein Studium in Valencia ermöglicht“, erzählt sie. „ Als Physiotherapeutin hätte ich natürlich überall arbeiten können, aber das kam für mich nie in Frage. Ich habe schon als Kind gerne im Laden geholfen und meine Mutter während des Studiums an Wochenenden und in den Ferien unterstützt.“Es sei schon immer ihr Wunsch gewesen, das Geschäft in
Alpatró zu übernehmen, denn sie hänge sehr an diesem Ort.
Hat sie nie daran gedacht, den Laden aufzugeben? „ Solche Gedanken kommen natürlich schon mal auf“, erwidert Carmen Gascó. „ Sie sind aber eher selten, etwa dann, wenn ich mich mal wieder allein im Großhandel in Gandía mit schweren Einkäufen abschleppen muss.“Generell könne sie aber aus voller Überzeugung sagen: „ Ich nehme alles, wie es kommt.“