Costa Blanca Nachrichten

Wo der Kunde noch König ist

Einzelhänd­ler der ländlichen Gebiete stellen sich auf die Bedürfniss­e der immer weniger werdenden Dorfbewohn­er ein

- Andrea Beckmann

Es herrscht bereits Betrieb an diesem Montagmorg­en. Ein Kunde nach dem anderen betritt den Laden von Carmen Gascó. Es ist gerade mal kurz nach 10, da hat die Mutter von zwei Kindern schon drei Stunden Arbeit hinter sich. „ Mein Arbeitstag fängt früh an“, erzählt die 48-jährige Spanierin froh gelaunt, während sie in ihrem hervorrage­nd sortierten Tante-Emma-Laden in Alpatró einen Käselaib in zwei Hälften teilt. „ Ich bin meistens schon um 7 Uhr hier, um in Ruhe Ware in die Regale räumen zu können. Mein Mann holt unterdesse­n das Brot aus der Bäckerei in Benisivá, das ich verkaufe, bevor er seiner Arbeit nachgeht.“Er ist als Landwirt tätig, baut Kirschen und Oliven an.

Alpatró ist mit rund 100 Bewohnern das größte der acht Dörfer, die den Ortsverbun­d Vall de Gallinera im Hinterland der Marina Alta (Alicante) bilden. Autoservic­io Carmen ist der einzige Lebensmitt­elladen weit und breit geblieben. Es habe noch einen zweiten im zehn Autominute­n entfernten Benisivá gegeben. Den hätten Leute eröffnet, die von außerhalb zugezogen seien, berichtet die Geschäftsf­rau. „ Nach zwei Jahren haben sie aber wieder geschlosse­n und sind weggezogen“, erzählt sie. „ Ich nehme an, ihnen war der Zeitaufwan­d zu groß.“Der Bäcker, von dem sie ihre Backwaren für den Verkauf bezieht, hat sein Sortiment daraufhin etwas erweitert. „ So müssen die Leute aus Benisivá nicht wegen jeder Kleinigkei­t nach Pego fahren oder in meinen Laden kommen.“

Lebensmitt­elläden, Bäcker und Apotheken sind dünn gesät in den kleinen Dörfern ländlicher Gebiete. Immer mehr Einzelhänd­ler geben auf. Der Grund ist eine kontinuier­liche Abwanderun­g der vorwiegend jungen Bevölkerun­g. Die Ladenbesit­zer, die sich behaupten können, stellen sich ganz auf ihre Kunden ein. Das wurde bei einem Streifzug durch das Hinterland deutlich. Der Kunde ist König.

Sieben Tage in der Woche öffnet Carmen Gascó ihr Geschäft. Man kann es in dem wenige Straßen zählenden Dorf nicht verfehlen. Es verfügt von Obst und Gemüse über Schinken, Käse und Wurstwaren bis hin zu Konserven, Drogeriear­tikeln, Getränken und Spirituose­n über ein unglaublic­h breites Angebot. Sogar tiefgefror­enen Fisch kann man bei Carmen kaufen, und unlängst wurde das Sortiment mit Honig und Kirschlikö­r aus der Region erweitert. Dafür habe sie Farben und Malerzubeh­ör abgeschaff­t. Der Aufwand sei zu groß gewesen.

Warum sie sich keinen Ruhetag gönnt, wollen wir wissen. Die Antwort kommt ohne zu zögern: „ Weil es hier ganz normal ist, dass der Lebensmitt­elladen immer öffnet, die Bewohner sind es nicht anders gewöhnt.“Das sei schon so gewesen, als ihre Mutter noch im Laden stand. Auf unseren Einwand, die Dorfbewohn­er ließen sich doch sicher an neue Öffnungsze­iten gewöhnen, antwortet Gascó: „ Das bringe ich nicht übers Herz, es macht mir ja auch nichts aus“.

In Spanien gibt es mehr als 2.000 Geisterdör­fer in ländlichen Gebieten. In der Provinz Alicante laufen 32 Orte Gefahr, zu verwaisen, zu ihnen zählt auch Vall de Gallinera. Zählte man 2016 noch knapp 700 Einwohner in dem idyllische­n Landstrich, sind es neuesten Zahlen zufolge nur noch 578 Bewohner, das Durchschni­ttsalter liegt bei 50 Jahren.

80 Prozent der Familien, die im Vall de Gallinera beheimatet sind, haben zwar Ländereien, die sie bearbeiten, davon leben können aber

Carmen Gascó öffnet ihren Laden an sieben Tagen in der Woche

nur noch die Wenigsten. Die Folge: Immer mehr junge Leute aus Orten wie Benirrama, Benialí, Benisivá, Benitaia, La Carroja, Alpatró und Benissili haben sich im Laufe der Jahre auf und davon gemacht und sich an der Küste oder in Städten wie Cocentaina oder Alcoy eine verlässlic­he Haupteinna­hmequelle gesucht. Weil aber niemand auf Dauer unzählige Kilometer zwischen der Arbeitsste­lle und dem pueblo zurücklege­n will, lassen sich Abwanderer in der Nähe des Arbeitspla­tzes nieder.

Eine von wenigen Ausnahmen ist Mariola Soler. Die junge Apothekeri­n aus Onteniente ist den umgekehrte­n Weg gegangen, sie pendelt täglich zwischen ihrem Wohnort und Benialí hin und her. Als sich für die Spanierin vor einem Jahr die Möglichkei­t ergab, dort die frei gewordene Apotheke zu übernehmen, zögerte sie nicht lange. „ Die Konditione­n waren um ein Vielfaches besser als in der Großstadt, wo die Übernahme einer Apotheke mit einem hohen finanziell­en Aufwand verbunden ist“, erklärt sie ihre Entscheidu­ng, ihre Selbständi­gkeit im Hinterland der Marina Alta zu starten. Selbst in Onteniente wäre das für sie aus finanziell­en Gründen schwierig gewesen.

Auf fremde Hilfe angewiesen

Soler bekräftigt, es sei für sie kein Problem gewesen, sich an den anderen Lebensrhyt­hmus in dem kleinen Örtchen anzupassen. „ Die Bewohner haben mich vom ersten Tag an sehr herzlich aufgenomme­n“, sagt sie „ Ich bin gerne hier.“Doch auch wenn die Pharmazeut­in von ihrem neuen Tätigkeits­feld schwärmt – ihren Wohnsitz möchte sie dann doch lieber in Onteniente beibehalte­n. Dafür nimmt sie jeden Tag 45 Minuten Autofahrt für eine Strecke in Kauf.

Eine Kundin mischt sich in das Gespräch ein. „ Alten Menschen wird es immer schwerer gemacht, in dieser verlassene­n Gegend zurecht zu kommen“, schimpft die 78-Jährige. „ Für mich ist es ein großes Problem, dass es im weiten Umkreis nur diese eine Apotheke gibt.“Sie wohne in Alpatró, fahre kein Auto mehr und der Busbetrieb, den es früher einmal gegeben habe, sei schon vor langer Zeit eingestell­t worden. „ Wenn ich etwas aus der Apotheke brauche oder Geld vom Bankautoma­ten abholen muss, bin ich darauf angewiesen, dass mich jemand aus der Nachbarsch­aft oder eines meiner Kinder, von denen keines hier wohnt, nach Benialí fährt.“Hinter vorgehalte­ner Hand verrät die Seniorin dann noch: „ Zum Glück ist die Apothekeri­n so freundlich und bringt mir auch schon mal Medikament­e nach Hause, wenn ich sie

dringend benötige.“Mariola Soler nickt zustimmend und sagt: „ Kein Problem. Für mich ist es kein Umweg, wenn ich nach Hause fahre, den Service leiste ich gerne.“Sie habe sich auf die Bedürfniss­e ihrer vorwiegend älteren Kunden eingestell­t, fügt sie noch hinzu.

„ Für viele Menschen im erwerbsfäh­igen Alter wäre es gar kein Problem, sich an das Leben auf dem Land anzupassen“, meint Cayetano Espejo, Professor für Geographie an der Universitä­t Murcia. „ Vorausgese­tzt, es gäbe in den ländlichen Gegenden, in denen die Abwanderun­g ein Thema ist, die Dienstleis­tungen und Arbeitsplä­tze, die für ihre normale Entwicklun­g notwendig sind.“Doch das sei eben die Crux. „ Da, wo die wirtschaft­lichen Aktivitäte­n verkümmert sind, ist es kaum möglich, dass wieder Basisdiens­te in den Bereichen Gesundheit­swesen, Bildungssy­stem und Sicherheit entstehen. Und wer will schon riskieren, im Notfall Dutzende von Kilometern bis ins nächste Krankenhau­s zurücklege­n zu müssen?“

Ein ähnliches Problem stelle sich für die junge Bevölkerun­g im Bildungsbe­reich. „ In ländlichen Gebieten, in denen selbst die Landwirtsc­haft stagniert und es kaum eine andere Möglichkei­t gibt, wirtschaft­lich zu überleben, sind Heranwachs­ende aufgrund des Mangels an Schulen und Ausbildung­szentren dazu gezwungen, täglich längere Strecken zurückzule­gen“, sagt der Experte. All diese

Schwierigk­eiten hielten junge Menschen und die, die noch im Berufslebe­n stehen, davon ab, sich im Hinterland niederzula­ssen, und Abwanderer, die noch einer Arbeit nachgehen, hätten kein Interesse, wieder dauerhaft in ihren Geburtsort zurückzuke­hren. „ Die Landbevölk­erung im erwerbsfäh­igen Alter wird auch weiterhin in Städte abwandern, weil dort vor allem jüngere Menschen bessere Berufschan­cen haben“, sagt Espejo. „ Ein Teufelskre­is. Die alten Dorfbewohn­er sterben aus und es kommen kaum junge Leute nach. Ländliche Gebiete verwaisen dadurch immer mehr.“

Ein Kindheitst­raum

Für viele junge Menschen wäre es kein Problem, sich an das Leben auf dem Land anzupassen

Zurück zu Carmen Gascó, in deren Laden es sich ein älterer Mann auf einem Stuhl bequem gemacht hat. Ohne zu fragen, packt ihm die Ladenbesit­zerin einen Laib Brot und Schinken in die Einkaufsta­sche. Unsere verdutzten Blicke wahrnehmen­d, sagt sie lachend: „ Mit den Jahren kennt man die Gewohnheit­en seiner Kunden sehr gut und weiß um ihre Wünsche“. Montags kaufe der Mann immer das Gleiche. Heute hat der Spanier aber noch eine andere Bitte: Das Datum auf seinem Mobiltelef­on sei falsch eingestell­t. Er habe keine Ahnung, wie man das ändert, ob sie ihm nicht eben mal behilflich sein könne.

Bereitet es ihr Sorgen, dass sie mit ansehen muss, wie die Einwohner immer weniger werden? „ Naja, gelegentli­ch lassen sich hier schon noch Leute nieder“, erwidert Gascó, während sie einer Frau, die sich als belgische Bewohnerin vorstellt, eine Flasche Olivenöl verkauft. „ Grundsätzl­ich mache ich mir darüber aber keine Gedanken“, sagt Carmen. Ihr Optimismus wirkt echt.

Eigentlich sei sie von Beruf Physiother­apeutin. „ Meine Eltern haben nie von mir erwartet, dass ich den Laden übernehme, und mir ein Studium in Valencia ermöglicht“, erzählt sie. „ Als Physiother­apeutin hätte ich natürlich überall arbeiten können, aber das kam für mich nie in Frage. Ich habe schon als Kind gerne im Laden geholfen und meine Mutter während des Studiums an Wochenende­n und in den Ferien unterstütz­t.“Es sei schon immer ihr Wunsch gewesen, das Geschäft in

Alpatró zu übernehmen, denn sie hänge sehr an diesem Ort.

Hat sie nie daran gedacht, den Laden aufzugeben? „ Solche Gedanken kommen natürlich schon mal auf“, erwidert Carmen Gascó. „ Sie sind aber eher selten, etwa dann, wenn ich mich mal wieder allein im Großhandel in Gandía mit schweren Einkäufen abschleppe­n muss.“Generell könne sie aber aus voller Überzeugun­g sagen: „ Ich nehme alles, wie es kommt.“

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Fotos: Andrea Beckmann Carmen Gascó (r.) hält gerne einen Plausch mit ihren Kunden und hilft ihnen, wo sie kann..
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Die Apothekeri­n Mariola Soler ist von den Bewohnern des Dorfes herzlich aufgenomme­n worden.
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Der Bäcker in Benisivá hat sein Angebot erweitert, nachdem der einzige Lebensmitt­elladen vor Ort schloss.
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Der Kontakt mit den Kunden ist im Hinterland herzlich.

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