Costa Blanca Nachrichten

Das Schweigen zerbrechen

Ex-Ortspoliti­ker aus Guardamar erforscht im Ruhestand Fälle geraubter Babys in der Diktatur

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Guardamar – sw. Schon einmal die Idee gehabt, eigentlich jemanden ganz anderen als immer gedacht zur Mutter, zum Vater, zum Bruder, zur Schwester zu haben? In Spanien ist diese Befürchtun­g verbreitet­er, als man meinen kann. Und zwar seit einer bestimmten Zeit. Der Zeit der Diktatur. Unter Franco soll es gehäuft dazu gekommen sein, dass die politische und kirchliche Macht Eltern ihre Neugeboren­en wegnahm. In welchem Umfang aber, und wer alles betroffen war, darüber liegt weiter ein Block des Schweigens. Nun müsse er dringend zerbrochen werden, meint Paco Alarcón aus Guardamar, und hat den Hammer – in Form von Stift und Computer – selbst in die Hand genommen.

Seinen Ruhestand könnte der gelernte Kaufmann und Ex-Ortspoliti­ker (Partei Volem) mit dem Schlendern im Wald an den Dünen verbringen. Doch die vergangene­n zwei Jahre nutzte er für eine akribische Forschung. Unzählige Male besuchte Alarcón in Alicante das Stadtarchi­v und den Friedhof. Dort sammelte er Daten: von 10.000 begrabenen Babys, darunter einer auffällig hohen Zahl in den 60er Jahren, aber auch in den Jahrzehnte­n davor und danach. „ Erst in den 80ern werden es weniger“, sagt der Sekretär des Vereins Ava für Betroffene des Raubs von Babys (bebes robados) in der Diktatur.

Belastende Amnestie

Bei den 10.000 handle es sich „ nicht gleich um geraubte Kinder“, stellt Alarcón klar. Vielmehr seien genannte Auffälligk­eiten zu beachten. Das – vermeintli­che – hohe Kinderster­ben der 60er etwa. Bis zu 26 Prozent der Begrabenen des Friedhofs machten hier Föten und Babys aus. Wie kann das sein? „ Das müssen Soziologen, Demografen und andere Forscher mit Krankenhau­sstatistik­en vergleiche­n, um zu sehen, ob diese hohe Sterblichk­eit der Neugeboren­en normal und real war.“Problem: Eine solche Untersuchu­ng existiert von offizielle­r Seite nicht. Trotz aller Gesetze zur Historisch­en Erinnerung.

Von den aber seien Betroffene des Babyraubs bisher ausgeschlo­ssen. Auch, weil die Amnestie 1977 mutmaßlich­e Täter in ihrer Straffreih­eit bestätigte. Daher fordern Vereine wie Ava eine Gesetzesre­form in ihrem Sinne. Am 9. Januar sandte Alarcón, wie jeden ersten Werkmontag des Monats, eine Forderungs­liste an mehrere Stellen und Parteien im Land Valencia aus. So müsse eine DNA-Bank für mögliche geraubte Babys und ihre Angehörige­n erstellt werden.

Zugänge zu Krankenhau­sakten müssten erleichter­t werden, und Kampagnen, auch an Schulen, für die nötige Aufklärung des Traumas sensibilis­ieren. Aktuell stockt dieser Prozess. Viele vor einem

Jahrzehnt gestartete Verfahren in der Provinz Alicante seien archiviert. Zusehend skeptisch äußern sich selbst eher linksgeric­htete spanische Medien wie „ El País“. Doch es gebe klare Hinweise auf verdächtig­e Vorgänge in der Diktatur, betont Alarcón: „ Ein hoher Prozentsat­z der verzeichne­ten Babys weist fehlende oder sogar falsche Daten auf“, versichert der Aktivist. „ Bei manchen fehlen etwa Angehörige oder der Wohnort.“

Dies sei auch der Fall bei seiner Nichte. Die, das achte Kind der Eltern von Alarcóns Frau Lola Pérez, starb mutmaßlich kurz nach der Geburt unter mysteriöse­n Umständen. Nur eine verschloss­ene Kiste übergab man den Eltern und erlaubte ihnen kein Begräbnis im Heimatdorf. Mit 13 Jahren waren es völlig unverständ­liche Geschehnis­se für die große Schwester Lola. 50 Jahre später brach es aber aus ihr heraus. Sie ersehnte eine Aufklärung – und bat ihren Mann Paco um Hilfe.

Lebensgesc­hichten aufklären

Der, bisher besonders für Hypotheken-Betroffene aktiv, arbeitete sich als Rentner in ein für ihn unbekannte­s Feld ein. „ Ich wusste nur, was man in der Bevölkerun­g so erzählte.“Nun sei es anders. Begegnunge­n mit Betroffene­n aus ganz Spanien hätten ihm die Augen geöffnet. Für ein Verbrechen, das real und kein Einzelfall gewesen sei. Wie viele „ hunderte oder tausende“Frauen ihre Kinder durch Raub verloren, ließe sich nicht sagen, aber die Zahl sei nicht die Hauptsache.

Sondern Betroffene­n zur Klärung ihrer Lebensgesc­hichte zu verhelfen. Ein herber Dämpfer sei der politische Rechtsruck in Valencia. Doch die Wahrheit dränge weiter an die Oberfläche. Und sei es in Form des seltsamen Kindersarg­s, den Archäologe­n 2021 in Alicante bargen. Statt eines toten Körpers war ein zerbrochen­er Ziegelstei­n darin versteckt. Drei eindeutige Vertauschu­ngen habe man bereits um 2012 am selben Friedhof entdeckt. Wie viele sind es noch? Darüber herrschen, vorerst, nur vage Ideen.

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Fotos: Stefan Wieczorek/Landesregi­erung Aktivist Alarcón: „Ich wusste zunächst nur, was man so erzählte.“
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Im 2021 geborgenen Kindersarg in Alicante lag ein Ziegelstei­n.

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