Der Instinkt des Überlebens
Nominierungswelle für „La Sociedad de la Nieve“von Juan Antonio Bayona – Dreh in Sierra Nevada
Los Angeles/Madrid – ann. Einen Film wie „ La sociedad de la nieve“(deutsch: „ Die Schneegesellschaft“) kann der Zuschauer unmöglich genießen. Eiseskälte, Hunger, Tod, Verzweiflung und ein (un)menschliches Dilemma peitschen ihm entgegen und lassen keinen gemütlichen Kino- oder Netflix-Abend zu. Doch dafür bleibt ihm nach dem Abspann die Gewissheit, dass der Mensch fähig ist, selbst in der aussichtslosesten Situation einen Ausweg zu finden, auch und vor allem dank der Solidarität untereinander.
Das Drama erzählt die Geschichte des Absturzes eines uruguayischen Rugby-Teams und seiner Begleiter am 13. Oktober 1972 mitten in den südamerikanischen Anden und den Überlebenskampf der Passagiere in den 72 Tagen danach. Eine Menschengruppe, die sich selbst als „ Sociedad de la Nieve“bezeichnete. Der gleichnamige Film des spanischen Regisseurs Juan Antonio Bayona ist jetzt für den Oscar in der Kategorie „ Bester internationaler Film“nominiert worden, außerdem ist er Kandidat für den Bafta als bester nichtenglischsprachiger Film und hat 15 Nominierungen bei den Goyas abgesahnt, die am 10. Februar in Valladolid verliehen werden.
Faible für Katastrophen
Juan Antonio Bayona (Barcelona, 1975) hat ein Faible für Katastrophen und Situationen, in denen Menschen an ihre Grenzen gelangen – und ein cinematografisches Händchen dafür, den Zuschauer in das persönliche Schicksal dieser Menschen hineinzuziehen. Das hat er schon bei „ The Impossible“
(2012) bewiesen, wo er die Geschichte und den Überlebenskampf einer spanischen Familie erzählt, die während des Thailand-Urlaubs 2004 vom Tsunami erfasst und getrennt wird.
Auch das Schicksal der Überlebenden des Flugzeugabsturzes in den Anden faszinierte Bayona. Nachdem er das Buch eines der Passagiere, Pablo Vierci, gelesen hatte, sicherte er sich die Rechte für eine Verfilmung, die er auch als Hommage an die Toten versteht. Im Jahr 2011 schickte er eine Nachricht an die Überlebenden: „ Ich möchte um ihre Erlaubnis bitten, über dies zu sprechen und diese Schuld zu teilen, ein Leben gelebt zu haben, das sie nicht hatten.“
Ohne in Sensationsgier zu verfallen, erzählt Bayona in „ La So
ciedad de la Nieve“die Dynamik, die sich unter den Überlebenden in dieser absolut menschenfeindlichen Umgebung – in einem zerrissenen Flugzeug auf 4.000 Metern Höhe mit nachts bis zu minus 40 Grad, rundherum nur Schnee und Eis, keine angemessene Kleidung und keine Nahrung – entwickelt.
Menschlicher Zwiespalt
Er vermag es, mit Feingefühl den inneren Zwiespalt der Personen zu vermitteln, wenn es darum geht, zwischen dem Hungertod und Kannibalismus zu entscheiden. „ Ich wollte den gemeinsamen Nenner verschiedener Persönlichkeiten finden, indem ich mich auf ihre Erzählungen stützte und all das zu verstehen versuchte, was sie durchgemacht hatten“, erklärt der Regisseur gegenüber der Nachrichtenagentur EFE.
Was ihn am meisten an Viercis Buch beeindruckt habe, sei das Plädoyer über den Menschen in einer Grenzsituation und wie er sich in diesem Moment zusammennimmt, um zu helfen, so Bayona. „ Wir sind von einem gewissen Zynismus und von Skepsis umgeben, und zu erzählen, wie sich der Mensch in solchen Momenten für die anderen öffnet, sich ausliefert, hilft und mitwirkt, ist ein Gedankengang, den ich aufgreifen möchte“, sagt der Katalane. Mit dem Film habe er lediglich dazu beigetragen, die Botschaft des Buches weiterzugeben.
Den Tod von Numa Turcatti Pesquera, der gewissermaßen der Protagonist des Films ist, könne der Zuschauer wie einen Betrug seitens des Regisseurs empfinden, „ aber damit das Publikum das Leben der Überlebenden wertschätzt, muss es auf dem Weg dorthin mit ihm sterben“, unterstreicht der Cineast. Numas Person hätte bei ihm großes Interesse erweckt, denn alle Überlebenden und die Familien der Opfer hätten sich an ihn stets mit „ lieben Worten erinnert und als die Person, die am meisten für die Gruppe gegeben habe“, obwohl er nicht überlebt hat. „ Sie standen in der Schuld der Toten“, resümiert Bayona.
„ La sociedad de la nieve“wurde 140 Tage lang hauptsächlich in der Sierra Nevada bei Granada gedreht. (Ein Mitte Januar veröffentlichtes Fake-Video warf dem Filmteam übrigens vor, die verwendeten Flugzeugreste nach dem Dreh einfach liegengelassen zu haben. Wie sich herausstellte, stammte das Video allerdings aus dem Jahr 2022, die Reste wurden nach Ende der Dreharbeiten weggeräumt.)
Wegen der Geschichte, des Klimas und der landschaftlichen Bedingungen sei es ein „ harter und schwieriger Film“, bemerkt Juan Antonio Bayona. „ Aber das Wichtigste war immer, eine tiefgehende Erfahrung zu erzeugen und zu zeigen, dass wir letztendlich alle gleich sind.“