Götter sterben nicht
Zum 10. Todestag von Paco de Lucía: Wie der Flamenco zur Weltmusik wurde und von der Einsamkeit mit sechs Saiten
Algeciras – mar. Ein ganzes Land und die weltweite FlamencoGemeinde fühlten sich plötzlich als Waisen, als am 24. Februar 2014 die Nachricht von Paco de Lucías Tod an der fernen Playa del Carmen in Mexiko um die Welt ging. Der Meister war da 66 Jahre, lebte gleichzeitig produktiv und zurückgezogen, auf Tourneen, im Studio, auf seiner Finca auf Mallorca und im neuen Zuhause weitab vom heimatlichen Starrummel, obwohl er längst ein Weltstar war. So manchem schießen noch heute, zehn Jahre später, Tränen in die Augen, wenn sie an Paco denken und von ihm reden, wie von einem Gott, dem menschlichsten, den man sich vorstellen kann.
Es brauchte auch zehn Jahre, bis die Geburtsstadt Algeciras und die Familienstiftung dieser Tage einen physischen Standort für das fassbare Erbe des Meisters eröffnen konnten. Das „ Interpretationszentrum“wird Konzerte, Ausstellungen, Konferenzen abhalten. Hier wird das Archiv eingerichtet, Fotos, Videos, Tonbänder, Devotionalien. Sein Bruder Pepe de Lucía, Flamencosänger, der den Aufstieg seines Bruders stets künstlerisch begleitete, bei den ersten Auftritten ebenso wie später im Sextett, die Kinder, die Witwe Gabriela Canseco Vallejo und die Tänzerin Sara Baras leiten die Stiftung. Das soziale Element, das den Flamenco so tief prägt, wird ein wichtiger Teil der Arbeit. Stipendien werden vergeben und es gibt Kooperationen mit Vereinen, die mit der Flamencogitarre in sozial benachteiligten Wohnvierteln Musik- und Lebensschulen, eine Tür und Chancen öffnen.
Dass das große Gedenkkonzert zu Ehren Paco de Lucías rund um seinen zehnten Todestag nicht in Andalusien, sondern in New Yorks Carnegie Hall abgehalten wird, sieht zunächst nach Großmannssucht und Kommerz aus, ist aber nicht abwegig. „ New York ist eine der ersten Städte gewesen, in denen mein Vater professionell tourte, mit José Greco (Tänzer) und seinem Bruder Pepe (Sänger)“, erzählt Curro Sánchez, der 1984 geborene Sohn Pacos, eines von fünf Kindern. „ In New York traf er 1967 Sabicas, der ihn überzeugte, vom Interpreten zum Komponisten zu werden. 1972 trat er erstmals in der Carnegie Hall als Sologitarrist auf, noch vor seinem Auftritt im Teatro Real von Madrid. New York hat meinen Vater auf tausend Arten beeinflusst und inspiriert.“
New York, der Schmelztiegel der Kulturen, ist Sinnbild für die „ búsqueda“, die lebenslange Suche, der sich Paco de Lucía verschrieb – nach Wurzeln und Bereicherung, nach Identität durch Austausch, Tiefe und Wahrhaftigkeit in der Kunst wie im Leben. In
New York traf er auf Exilanten, dort wurde der legendäre Sabicas, einer der Ersten, der die Flamencogitarre überhaupt als Soloinstrument etablierte, sein Lehrer, allein durch Zuhören.
Die wilde Legende Niño Miguel übrigens war nach Pacos Worten der zweite Gitarrist, der ihn maßgeblich beeinflusste. Zwei Welten, die weiter kaum auseinander liegen konnten, die aber die gleiche Leidenschaft für den Flamenco vereinte. Der ausgewanderte „ Akademiker“Sabicas in New York und der wilde, geniale, drogensüchtige Straßengitarrist Niño Miguel in Huelvas Bars und Gassen. Letzterem dankte Paco, indem er ihn aus dem Drogensumpf für zwei Platten ins Studio holte.
Mit zwölf Jahren schickte man den Jungen aus dem Gitano-Barrio von Algeciras zum ersten Mal zwischen die Wolkenkratzer New Yorks, die ihm Angst einjagten. Das Wunderkind Paco, das, wie er später erzählte, manchmal nicht wusste, wie ihm in dieser lauten Welt geschah, tat, was ihm früh geheißen, er zog sich ins Innere zurück, suchte die Einsamkeit mit sich und seiner Musik.
Der Vater, ein Gitarrist in den Bars und Clubs von Algeciras bis San Fernando, „ wo es wegen des Schmuggels über die Meerenge viele ausufernde Fiestas gab“, wie Paco sich erinnerte, dessen Vater aber doch nur unter enormen Mühen das Essen auf den Tisch brachte, sperrte ihn als Jungen in ein
Zimmer, gab ihm Aufgaben, stundenlanges Üben, damit es ihm einmal besser ginge als ihm.
Schon 1961, mit 14 Jahren debütierte er im Studio, neben Pepe war auch Bruder Ramón, ebenfalls Gitarrist, viele Jahre an seiner Seite. „ Los Chiquitos de Algeciras“nannten sie sich. „ Amerika ist ohne Komplexe, hier war alles Neue willkommen“, Paco tankte Selbstbewusstsein, ohne die Selbstzweifel jemals loszuwerden.
„ Im April oder Mai 2024“, erzählt Sohn Curro Sánchez, wird das US-Festival „ auf die eine oder andere Weise auch in Spanien wiederholt“. Eine unbekannte Aufnahme des 13-jährigen Paco mit Bruder Pepe fanden sie kürzlich, ergänzt Tochter Casilda, sie soll bald veröffentlicht werden. Im Vorjahr erschien eine Sammlung seiner Auftritte beim Jazzfestival Montreux. Davor: 38 Alben in 50 Jahren, als Solist im Studio, im Duett, im Sextett, allein neun mit Camarón de la Isla, Live-Alben, eine Sammlung andalusischer Lieder, das „ Concierto de Aranjuez“mit Orchester. Doch sein Leben, das waren vor allem Jahre in Tablaos von Madrid und auf Achse über die Bühnen der Welt, dazu Jahrzehnte in der Einsamkeit mit sechs Saiten.
Zu Pacos zehntem Todestag lebt das Anekdotische auf, viele erinnern sich in medialen Auftritten, es erscheinen Bücher, die dem Phänomen auf den Grund zu gehen vorgeben und verkauft werden wollen. Die Frage nach dem Erbe wird oft trivial beantwortet, sie zitieren Mark Knopfler, der sagte: „ Als ich Paco hörte, wusste ich, dass ich nicht Gitarre spielen kann“, Keith Richards meinte: „ Es gibt nur zwei oder drei Gitarristen, die man als Legenden bezeichnen kann. Und über ihnen allen steht Paco de Lucía“. Noch ein bisschen dicker trägt Eric Clapton auf: „ Mit Paco ist der Gott der Gitarristen von uns gegangen, wir alle sind nur seine Jünger.“
In Spanien ist die Verehrung ebenso hoch, auch wenn Pacos „ Modernität“Puristen einst in Rage brachte. Der große Gitarrist Manolo Sanlúcar, Mentor des jungen Paco, gestorben 2022, stellte fest: „ Die, die nichts von der Gitarre verstehen, begeistert er. Die, die etwas von der Gitarre verstehen, bringt er um den Verstand.“
Generationen habe er inspiriert, nicht wenige aber auch dazu getrieben, ihr Instrument an den Nagel zu hängen. Eine „ Revolution“, „ Erneuerung“, sogar die „ Rettung“des Flamenco werden ihm angehängt. Die Flamenco-Gitarre als Soloinstrument etabliert, ihren Bau als Hybrid zur Klassikgitarre erneuert, die Sitzhaltung verbessert zu haben, die Einführung des cajón peruano als Standard-„Schlagzeug“, die Globalisierung des Flamenco, seine Evolution von der andalusischen Gitano-Folklore zur universalen Weltmusik. All das klingt bedeutend für einen Jungen, der keine Noten lesen kann, es aber von einem Patio in Algeciras in die Carnegie Hall und ins Teatro Real schaffte.
Doch all das sind Folgen der eigentlichen Leistung: der künstlerischen Emanzipation, der Kreativität und des unendlichen Fleißes eines Ausnahmetalents, das auf einer lebenslangen Suche, getrieben von Selbstzweifeln wie unendlicher
„Was sie Duende nennen, nenne ich acht, zehn Stunden üben am Tag“