Jener Donnerstag im März
20. Jahrestag des 11M: Spanien erinnert an die schlimmsten Terroranschläge seiner Geschichte mit 192 Toten
Madrid – ann. Immer, wenn irgendein Termin zufällig auf einen Donnerstag fällt, erinnert sich Antonio Miguel Utrera unweigerlich an das, was an jenem Donnerstag geschah. „ Mit dem Wort ,jueves‘ ist immer ein kleiner Schmerz verbunden“, sagt der 38Jährige. An jenem Donnerstag, 11. März 2004, änderte sich schlagartig alles – für ihn, für tausende andere Menschen, aber auch für ein ganzes Land.
Utrera, damals 18-jähriger Student, saß in einem der vier Metrozüge in Madrid, die von den Bomben zerfetzt wurden, die Dschihadisten mitten in der Rush Hour in Nahverkehrszügen in drei Bahnhöfen der Hauptstadt zündeten. Zwischen 7.37 und 7.39 Uhr explodierten insgesamt zehn Bomben in Waggons in den Bahnhöfen Atocha, El Pozo und Santa Eugenia und rissen 192 Menschen in den Tod. Darunter Antonio Miguel Utreras gute Freundin Angélica González. Fast 2.000 Personen wurden verletzt. Der 18-Jährige erlitt wegen zweier Blutgerinnsel drei Hirninfarkte, die zu einer halbseitigen Lähmung führten, deren Folgen ihn sein Leben lang begleiten werden.
Zwei Jahrzehnte sind seit dem schlimmsten Attentat in der Geschichte Spaniens vergangen. Der Tag ist als 11M – sprich „ onzeemme“– in die Erinnerung der Spanier eingebrannt. Noch immer weiß jeder genau, wo er war und was er an jenem Morgen tat, als die Welt für einen Moment stehenblieb. Zum 20. Jahrestag des 11M wird ein neues Mahnmal im Atocha-Bahnhof enthüllt. Spanien erinnert an das grässliche Attentat und an die Opfer, aber auch an die Tage danach, die beispiellos waren in der politischen Geschichte des Landes.
Die Madrider Zelle von AlQaida hatte den Zeitpunkt des Attentats keineswegs zufällig gewählt: Vier Tage später wählte Spanien ein neues Parlament. Der Anschlag, vor allem aber die Reaktion der PP-Regierung von José María Aznar darauf, sollten entscheidenden Einfluss auf den Wahlausgang nehmen.
Aznar und der britische Premierminister Tony Blair hatten ein Jahr zuvor beim berühmten Gipfel auf den Azoren US-Präsident
George W. Bush ihre Unterstützung bei dessen Irak-Offensive zugesichert. Die große Mehrheit der Spanier war gegen den Krieg, Millionen gingen nach dem Gipfeltreffen mit „ No a la guerra“-Rufen auf die Straße.
„Kein Zweifel, es war ETA“
Als am Morgen des 11. März 2004 die Bomben explodieren, beeilt sich die Regierung Aznar, die baskische Terrororganisation ETA für die Anschläge verantwortlich zu machen. Denn eines ist sicher: Sollte das Attentat mit dem islamistischen Terror und Spaniens Teilnahme an der Invasion im Irak in Verbindung gebracht werden können, wäre dies wenige Tage vor der Parlamentswahl ein Desaster für die konservative Regierung. „ Zu diesem Zeitpunkt haben die staatlichen Sicherheitskräfte und das Innenministerium keinen Zweifel daran, dass ETA für den Anschlag verantwortlich ist“, sagt Innenminister Ángel Acebes am 11. März um 13.30 Uhr vor der Presse. Diese Version sollte die Volkspartei bis in die Nacht vor der Wahl entgegen aller Indizien und Fortschritte der polizeilichen Ermittlungen aufrechterhalten.
Dabei hatte der politische Arm der ETA bereits drei Stunden nach den Anschlägen eine Beteiligung ausgeschlossen. „ Wir wollen absolut klarstellen, dass weder die Ziele noch die Vorgehensweise darauf hindeuten, dass ETA hinter dem steckt, was heute in Madrid passiert ist“, erklärt der Sprecher der ETA-nahen Batasuna, Arnaldo Otegi, auf einer Pressekonferenz.
Aber auch die Anti-Terrorismus-Einheit der Guardia Civil und die Kripo sehen keine Hinweise auf die baskische Terrororganisation. Eine Zusammenarbeit zwischen ETA und islamistischen Gruppen stufen sie als „ höchst unwahrscheinlich“ein. Am Abend des 11. März finden die Ermittler in Alcalá de Henares in einem verdächtigen Fahrzeug Sprengstoffzünder und Tonbänder mit Koranversen auf Arabisch. „ Ich möchte klarstellen, dass kein Ermittlungsstrang fallengelassen wird“, bemüht sich Regierungschef Aznar dennoch am nächsten Tag, den Verdacht gegen ETA aufrechtzuerhalten. Und sein Innenminister fügt hinzu: „ Die Sicherheitskräfte haben keine zuverlässigen Daten geliefert, dass es eine islamistische Gruppe gewesen sein könnte“.
Am Abend des 12. März gehen elf Millionen Spanier auf die Straße, um gegen Terror zu demonstrieren, aber auch, um die Wahrheit über die Anschläge zu fordern. Je mehr sich die Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund der Anschläge verdichten, umso größer wird die Wut der Spanier. Am Abend vor der Wahl versammeln sich Tausende vor dem Sitz der Volkspartei in der Calle Génova, fordern Frieden, aber auch den Rücktritt der PP-Spitze. In der Nacht zum 14. März bleibt Innenminister Ángel Acebes nichts anderes übrig, als die Festnahme von fünf Personen – drei Marokkanern und zwei Hindus – sowie den Fund eines Bekennervideos „ auf Arabisch mit marokkanischem Akzent“bekanntzugeben.
Der Rest ist Geschichte: Bei der Wahl am 14. März 2004 erhält die PSOE mit José Luis Rodríguez Zapatero an der Spitze die meisten Stimmen. Die PP, die bis zum 11M mit ihrem Kandidaten Mariano Rajoy in allen Umfragen vorne gelegen hatte, büßt 30 Sitze ein.
Am 3. April 2004 sprengen sich die von der Nationalpolizei umzingelten, verbliebenen Mitglieder der Madrider Al-QaidaZelle in einer Wohnung in Leganés in die Luft. Dabei kommt ein Polizist der Sondereinheit (GEO) ums Leben, weshalb die Zahl der Opfer des 11M bisweilen mit 193 angegeben wird.
Eine noch im selben Jahr vom Kongress einberufene Untersuchungskommission über die Vorgänge des 11. März und die Tage danach kommt 2005 zu dem Schluss, dass die Regierung Aznar die islamistische Bedrohung in Spanien „ unterschätzte“und dass sie die Information über die Anschläge für Wahlkampfzwecke „ manipulierte“und „ verdrehte“. Auch einige Medien geben eine unrühmliche Rolle ab, allen voran die Zeitung
„ El Mundo“, die noch bis 2014 Artikel über eine Verwicklung von ETA veröffentlichen sollte.
Beim 11M-Prozess im Jahr 2007 stehen 29 Angeklagte vor Gericht, die mit dem Attentat in Verbindung gebracht werden. 25 werden verurteilt. Drei sitzen noch bis 2044 im Gefängnis. „ Wenn wir von Jahren sprechen, ist klar, dass keine genug sind, um für das zu bezahlen, was sie getan haben“, sagt der 11M-Überlebende Antonio Miguel Utrera über die Urteile.
„ Doch was haben wir für eine Alternative? Es wurde getan, was man tun konnte, und es ist gut so.“
20 Jahre sind seit jenem Donnerstag vergangen, und Dori Majali hat immer noch Reste des zerfetzten Waggons in ihrem Körper. „ Zum Beispiel Teile des Plastiks, aus denen die Sitze gemacht sind“, erzählt die Überlebende, die am 11. März 2004 erst zum dritten Mal mit der Metro zu ihrer neuen Arbeitsstelle fuhr. „ Noch immer muss ich ab und an operiert werden.“Sie hat aufgehört zu zählen, wie oft sie im OP war. Und die seelischen Wunden sind sowieso nicht in Zahlen oder Worte zu fassen. „ Für mich ist jeder 11. März traumatisch“, berichtet sie.
„ Es gab noch keinen 11M, an dem ich nicht traurig war, an dem ich keine Lust hatte zu weinen und an dem sich mir nicht der Magen zusammenkrampfte.“
Nach 20 Jahren noch immer Reste des zerfetzten Zuges im Körper