Tanz der verlassenen Seelen
Eine melodramatische Geistergeschichte aus der Zeit um 1900 von Birgit Gürtler
Vivianas Herz schlug ungestüm wie nie zuvor im Leben. Im Rhythmus der Musik ließ sie sich durch die Tanzpaare führen. Wirbelte über das Parkett, um zurück in seinen Armen zu landen. War das Wirklichkeit? Im Kerzenschimmer glänzten seine Augen wie Smaragde. Die Gesichtszüge wirkten sanft, der Griff nach ihrer Hand war fest.
Durfte sie so empfinden? Für einen fremden Mann? Schon als Viviana den Tanzsaal betreten hatte, war ihr sein verzaubernder Blick aufgefallen. Als hätte er nur auf ihr Erscheinen gewartet, erhob er sich und kam auf sie zu. Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Sie hatte keine Willenskraft aufbringen können, sich seinem Charme zu entziehen, auch wenn es unverschämt gewesen war, sie so zu überrumpeln. Magie umgab ihren Tanzgefährten. Nur so war ihr vernunftloses Verhalten zu erklären.
Dieser Tanz durfte niemals enden, ersehnte sie in ihrem Herzen. Viviana meinte, seine Seele zu fühlen. Seine Zuneigung, sein Begehren. Empfindungen, die sie nur in ihren Träumen zu spüren fähig war.
Viviana fixierte ihn. Nahm er gerade ihren ungeduldigen Herzschlag wahr? Während einer Drehung warf sie einen flüchtigen Blick zu ihrem Vater. Er beobachtete sie nicht. Doch warum lag dieses Unbehagen in ihrem Innern, das ihr Gemüt beschattete? Wie Wolken, die ein dunkles Tuch über die Landschaft warfen?
Fremde waren anwesend. Sie erschienen sonderbar. Viviana weigerte sich hinzusehen, es konnte nicht der Wahrheit entsprechen, was sie während des letzten Tanzschrittes wahrgenommen hatte. Sie schloss die Lider, ließ sich blind führen, bis sie es nicht mehr aushielt.
Sie blickte in seine Augen und dann durch den Saal. Hoffte, dass sie einer Sinnestäuschung unterlegen war. Doch da waren sie noch. Böse Augen funkelten ihr entgegen. Unheimliche Fratzen. Totengesichter. Ihr wahres Wesen lag verborgen, schimmerte durch das Antlitz gewöhnlicher Menschengestalten. Wo kamen sie plötzlich her? Vivianas Herz hämmerte gegen die Brust, sie stockte inmitten des Tanzes. Sah sie denn sonst keiner? Fröhliches Lachen und Stimmengewirr vermischten sich mit der Musik. Keiner nahm Notiz von ihnen.
Panisch klammerte sie sich an seinen Armen fest. Er wirkte erstaunt. „Ihr könnt sie sehen?“, fragte er ernst und nahm den Takt des Tanzes wieder auf. Viviana nickte. Sie spürte, wie ihre Gesichtsfarbe wich, die Knie zu zittern begannen. Was wusste ihr unbekannter Tanzpartner über diese furchterregenden Gestalten? Sie wollte fliehen, sich losreißen, doch er ließ es nicht zu.
„Wer sind die?“, presste sie verängstigt hervor. – „Das sind die verlassenen Seelen vergangener Feste. Verlassen vom Leben, verlassen vom Tod.“
Viviana spürte, wie ihre Angst den Zauber zerfraß, die Magie schwand. Das Unbehagen, das sie die ganze Zeit versucht hatte, zu vertreiben, ergab nun einen Sinn. Sie wollte sich aus seiner Umarmung lösen, dem Tanz ein Ende setzen, doch er führte sie unnachgiebig weiter. Im Takt der Musik über den glänzenden Boden.
„Was wollen sie hier?“Das Geheimnisvolle seiner Augen war einer tiefen Traurigkeit gewichen. „Wir sind auf der Suche nach Erlösung, dem Menschen, der uns sein Leben schenkt. Damit wir den Weg zu unserer Schlafstätte finden.“– „Wir? Ihr seid einer von ihnen?“Vivianas Blick wanderte panisch zu ihrem Vater. Der nahm ihren gequälten Ausdruck nicht war. Er lächelte und winkte. Ihr Vater lächelte nie, das war sonderbar.
„Ich möchte um Eure Hand anhalten. Euch bis zum Tode mein Weib nennen. Euch alles bieten, was man sich wünschen kann. Euer
Vater hat Euch bereits einem anderen versprochen. Die Stunde drängt.“– „Niemals“, stieß sie hervor und riss sich los. Die verwunderten Blicke, das spöttische Lächeln einiger Umstehender, nahm sie nur am Rande war. Ihr Ziel war die Tür. Sie wollte raus, fort von den Ungeheuern, die durch Menschengestalten hindurchschimmerten.
Klare, kühle Nachtluft empfing sie. Fröstelnd zog sie ihr Tuch enger um die Schulter. Mit hastigen Schritten entfernte sie sich zu einer angrenzenden Baumgruppe und verbarg sich hinter einem Zedernstamm. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch. Was war geschehen? Ängstlich blickte sie in die schwarze Nacht, hinauf zu den Sternen.
Schritte näherten sich. Sie sah sich nicht um. Ihr Herz war in Aufruhr. Sie wollte so gerne in seinen Armen liegen. Den Zauber spüren, den er auf sie auswirkte. War auch er einer dieser Untoten? Konnte sie ein Gespenst heiraten?
Wieso hatte ihr Vater sie jemandem versprochen? Niemals würde er sie einfach vermählen, das hatte er ihr geschworen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Wurde er verhext? War auch sie nur verzaubert und in Wirklichkeit bat ein dürres Gerippe um ihre Hand?
Die Schritte waren verklungen. Sie konnte seine Präsenz spüren. Seinen Duft wahrnehmen. „Wenn das ein Versteck sein soll, war das eine schlechte Wahl, meine Liebste.“Seine Stimme klang betörend, entfachte einen Taumel in ihr, dem sie nicht zu widerstehen vermochte. Viviana spürte seinen Atem, so nah stand er neben ihr. Sie zwang sich, nicht zu ihm zu blicken, ihn nicht auf die vollen Lippen zu küssen und ihm nicht ihre Liebe zu gestehen. Seine Hand umschloss zärtlich ihr Kinn. Sie folgte entrückt. Seine Lippen waren ganz nah. Die Augen reflektierten das fahle Mondlicht.
„Seid Ihr ein Gespenst?“– „Können Gespenster küssen?“Seine Lippen näherten sich ihren und berührten sie zart. Sie ließ es zu, ließ gewähren, wie ihre Sehnsucht sie in einen Rausch versetzte. „Kommt mit mir und seid meine Braut. Wenn Euer Tag gekommen sein wird, werdet ihr uns den Weg auf die andere Seite zeigen. Den Ort des Schlafes und des Jüngsten Gerichts.“
„Wieso ich?“– „Weil Ihr es seid, die mich schon immer geliebt hat. Deren zärtliche Gedanken stets bei mir verweilen. Kein Sterblicher konnte Euch gerecht werden im Vergleich mit mir.“– „Aber wir sehen uns das erste Mal“, hauchte sie verwirrt. Viviana spürte, wie ihr das Blut in die Wangen fuhr.
War das ihr Liebster, von dem sie tagträumte? Den sie in ihrem Innern stets bei sich trug, als gebe es ihn tatsächlich?
Nein, er war nur eine erdichtete Gestalt, ein Traum, so himmelstürmend wie die Worte des Geschichtenerzählers, der bei Abenddämmerung den Zuhörern das Schaudern lehrte. Viviana blickte in seine Augen. „Das kann nicht sein.“Der Mann lächelte. Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Brust.
„Könnt Ihr meinen Herzschlag spüren? Der Takt Eures Herzens ist, was mich die langen einsamen Stunden vergessen macht, Leben in meinen Geist haucht, mich die Farben sehen lässt, die Düfte der weiten Welt zu mir trägt. Ohne Euch bin ich nichts, so wie ich in Euer Innersten Ruhe bringe. Eure Sorgen verblassen lasse.“
Tränen stiegen in Vivianas Augen. Sie wollte es so gerne glauben. „Wie soll ich Eure Braut sein? Keine Kirche wird uns vermählen. Ein Geist und eine sterbliche Frau.“– „Sagt ja, und der Himmel und dessen Bewohner werden unsere Zeugen sein“, antwortete er. Viviana schüttelte den Kopf.
Lautes Stimmengewirr ließ sie aufblicken. Ihr Vater, gefolgt von einer Gruppe Männer verließen hektisch den Ballsaal. Rufe nach ihr hallten durch die Nacht. „Was ist passiert?“, fragte sie, doch nichts als Dunkelheit umgab sie. „Liebster“, rief sie verzweifelt, doch es blieb still.
„Viviana“, stieß ihr Vater hervor. Was tust du hier allein, bist Du von allen guten Geistern verlassen? Sieh, ich habe den rechten Mann für dich gefunden. Ihm sollst du zur Frau werden, damit ich Dich gut versorgt weiß, bevor ich mich zur Ruhe lege.“Viviana stockte der Atem, als sie in ein Gesicht voll Sommersprossen blickte. Dies war nicht ihr Liebster und niemals ihr Gemahl. Sie riss sich von seiner fordernden Hand los und floh in die Dunkelheit. Schritte folgten. Rufe holten sie ein. Die Totengestalten tauchten auf, richteten ihre knöchernen Hände Richtung Westen. Wartete dort ihr Liebster?
Viviana hastete immer weiter, bis der Boden unter ihr nachzugeben schien. Sie stoppte, starrte in eine tiefe Schlucht. „Ja, ich will!“, hauchte sie.