Liebe Leser,
vor einigen Tagen deutete nichts auf einen Notstand hin. Die Sonne schien in Südspanien, von Corona merkte man mancherorts wenig. Einige Lokalzeitungen fieberten den Meldungen des Gesundheitsministeriums entgegen, weil die Marina Alta drauf und dran war, es in den erlauchten Kreis europäischer Gebiete mit einer Inzidenz unter 25 zu schaffen. Eine Woche später stehen wir vor der Frage, wie lange die Intensivstationen dem Druck noch standhalten. Was ist passiert?
Nichts, wovor Fachleute nicht seit September warnen. Einem harten November. Nun stecken wir mittendrin in dieser zweiten Welle. Sie wird noch weiter anwachsen und immer mehr Déjàvu aus April und Mai nähern. Nun reagieren die Politiker wieder wie aufgescheuchte Hühner und überschlagen sich mit Maßnahmen, über deren Effizienz wir nie etwas erfahren werden. Ansteigende Infektionszahlen kann man nur abrupt abbremsen und den Druck auf die Krankenhäuser und ihre Intensivstationen nur dann nehmen, wenn wieder alles heruntergefahren wird. Und das wollen und können wir nicht.
Also akzeptieren wir endlich und leben mit diesem Virus. Mit Vorsicht aber ohne Angst. Wir haben noch ein gutes Jahr vor uns, bis der Impfstoff zur Verfügung steht und seine gewünschte Wirkung zeigt. Macht Sinn, einige Gewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen. Muss man jetzt unbedingt mit Sack und Pack quer durch das Land fahren, um im Familienkreis und der alten Heimat den verstorbenen Angehörigen zu gedenken? Vielleicht kann man auf andere Weise auch einen Draht zu Familie und Verstorbenen herstellen. Viele solche kleinen Rituale, Gewohnund Gepflogenheiten machen uns in ihrer Summe zu dem, was wir sind. Wenn Ausflüge und Reisen dazugehören – dann sollten wir uns das auch nicht nehmen lassen, solange es geht. Mit dem Virus zu leben heißt nicht, auf alles zu verzichten oder sich zu verkriechen. Es heißt auch nicht, alles kritiklos hinzunehmen oder sich bis ins Privatleben bevormunden zu lassen. Die Wirksamkeit aber der Maßnahmen gegen Corona hängt zum ganz großen Teil vom Mitwirken der Bürger ab. Dafür müssen sie hinter den Maßnahmen stehen. Das war zuletzt immer weniger der Fall.