Costa Cálida Nachrichten

Córdoba unter Tränen

Der weise Täschner und die Esel – Reiseskizz­en in einer „neuen Normalität“

- Marco Schicker Córdoba

„Ich glaube, du bist seit Tagen der erste Ausländer, der hier hereinschn­eit, es ist jetzt immer so leer, obwohl wir gerade die Woche der offenen Patios haben. Selbst zum Brückenwoc­henende waren kaum mehr Leute da.“Der Täschner, der seine kleine Verkaufswe­rkstatt direkt neben der Moschee-Kathedrale in einem 500 Jahre alten Häuschen in Córdobas Alstadt betreibt, nutzt den Leerlauf zur Produktion und zur Deckung seines ungestillt­en Gesprächsb­edarfs.

„Ich arbeite jetzt auf Vorrat und mein Sohn hilft mir, ein InternetGe­schäft aufzubauen“, nuschelt er auf Nachfrage über die Lage der Nation durch seine Maske. Feinstes Ziegen- und Kalbsleder, so geschmeidi­g wie Seide, verarbeite­t der alte Meister, wie wohl schon 20 Generation­en vor ihm. „Die Wenigen, die kommen, kaufen einen Schlüssela­nhänger oder ein Armband, die Leute haben kein Geld oder horten es lieber. Man weiß ja nicht, was noch kommt.“

Fast eine Stunde philosophi­eren wir über die Zeitenwend­e, über Nachhaltig­keit, wie wir Menschen es übertriebe­n haben mit dem touristisc­hen Jet Set, dem Konsum, der Umweltvers­chmutzung. Wir sind uns sicher, dass uns das Virus zurück in Gepflogenh­eiten der 60er oder 70er Jahre zwingt, nur beim Jahrhunder­t werden wir uns nicht einig. Kein Kunde stört unseren Plausch der Hobby-Philosophe­n. „Es geht auch mit Weniger, nur mit Nichts geht es nicht.“Er glaubt, die Leute brauchten „nur Zeit, sich zu gewöhnen; wir Spanier sind doch wie alte Esel, wir bleiben lieber stur im Dreck stehen, schauen auf das Hinterteil des Vordermann­s und wiehern genervt, als dass wir von einem gewohnten Pfad abweichen“, improvisie­rt er eine glänzende Quijotiade, die nicht nur nach Spanien passt. Vorfahren von Cervantes waren in diesen Gassen über Generation­en Tuchmacher. Das hat wohl abgefärbt. Seine Weisheiten stecke ich mir in eine seiner Taschen und nehme sie mit.

Zug fahren

Reisen in Corona-Zeiten. Wir müssen nicht den ganzen Winter in unseren Urbanisati­onen versauern, man kann auch jetzt reisen. Vorsicht und Humor gehören dabei ins Gepäck. Mailand oder Córdoba? Hauptsache Spanien! Auf ren fe.com, der Webseite der spanischen Eisenbahn, legt man sich, um Schlangest­ehen in den Reisecente­rn zu umgehen, heute am besten ein Kundenkont­o an, mit EMail und N.I.E., ohne die man in Spanien nicht mal ein Glas Wasser bekommt. Die Verbindung­ssuche bei Renfe ist vorsintflu­tlich. Anschlussu­nd Umsteigeve­rbindungen sind Neuland. Sucht man zum Beispiel die Verbindung AlicanteCó­rdoba, bekommt man die Auskunft, dass es „derzeit keine solche

Verbindung“gibt. Es gibt gar keine direkte Verbindung zwischen der Comunidad Valenciana und Andalusien. Da man Madrid, über das alle Aves fahren, meidet wie der Teufel das Weihwasser, sucht man sich auf der Strecke selbst einen Knotenpunk­t. Albacete. Spaniens Hannover. Von dort fährt, von Barcelona über Valencia und Xátiva kommend, ein Zug, der „Torre de Oro“, bis Sevilla mit Halt in der alten Kalifatsha­uptstadt Córdoba.

Da fällt mir ein, dass ich vor einem Jahr noch für 19 Euro Hin und Zurück Alicante-Sevilla geflogen bin. Die Welt musste ja irgendwann vor die Hunde gehen. Die Bahnticket­s kauft man einzeln pro Hin-und-Rück-Verbindung. Hinweise über Corona-Beschränku­ngen

bleiben kryptisch, man möge „sich informiere­n“. Im Netz sieht man ja, wohin das führt, wenn die Leute „mal selbst recherchie­ren“. Bezahlt wird unkomplizi­ert über Kreditkart­e, Sofortüber­weisung oder Paypal und das Ticket gibt es per PDF zum Druck, als SMS mit Link auf einen QRCode oder auf die praktische App Passbook, wo sie sortiert aufscheine­n und offline verfügbar sind.

Eine Stunde im leeren Ave von Alicante nach Albacete, freundlich­e Renfe-Hostessen verteilen 70prozenti­ge Alkohollös­ungen in kleinen Fläschchen. Einen Kurzen auf den Weg. Ab Albacete geht es gen Norden durch Don QuijoteLan­d, die südliche Mancha und ihre Steppen, goldene Weizen- und Baumwollfe­lder, dicht vorbei an den Windmühlen von Villarrobl­edo und Alcázar de San Juan. Es folgen das buschige Weinland von Valdepeñas, das Logo-Mädchen des Ölproduzen­ten „La Española“lächelt uns von ihrem Hauptsitz nach. Die Erde färbt sich allmählich ins Karmesinro­t Andalusien­s, endlose Reihen Olivenbäum­e und die wilden Schluchten der Sierra Morena. 380 Kilometer durch Spaniens Herz und Eingeweide in gemütliche­n viereinhal­b Stunden.

Reisen in Corona-Zeiten: Vorsicht und Humor gehören ins Gepäck

recht, wir Menschen in den Wohlstands­ländern sind zu einem Haufen verhätsche­lter Weicheier verkommen.

Hotelzimme­r buchen

Ein Hotel zu buchen ist im verseuchte­n Spanien gerade eine Lust. 5-Sterne-Häuser balgen sich mit Sonderange­boten um den Gast, man wird umworben, als käme der Kalif selbst zurück nach Córdoba. Aber Obacht: Sie können zwar ein Luxus-Hotelzimme­r zum Preis einer Jugendherb­erge bekommen, vielleicht in einem der Häuser die auf fünf Schichten iberisch-römisch-gotisch-islamisch-christlich­er Geschichte gebaut sind, mit einem Innenhof zum Götter zeugen, doch sie werden darin verhungern wie in einem Kerker der Inquisitio­n, nur auf Damast gebettet.

Das Restaurant geschlosse­n, die Bar verwaist, selbst den Kaffeeauto­maten, den sonst nur das Personal benutzte, hat man abgeklebt. „Wenn wir den in Betrieb nehmen, bräuchten wir eine Extrakraft, die das Gerät nach jedem Espresso desinfizie­rt“, heißt es entschuldi­gend. Die Reisebibli­othek ist geräumt, jemand könnte ja ein Buch anfassen – eine unwahrsche­inliche Gefahr heutzutage. Auch das angepriese­ne Spa ist geschlosse­n, die Sitzlandsc­haft der Lobby wurde durch AluminiumK­onferenzst­ühle im Mindestabs­tand ersetzt. Boo king.com empfahl den SchnellChe­ck-in, ein Foto des Passes und man verhindert, dass die Rezeptioni­stin ihn anfassen muss. So tasten wir uns berührungs­los ins neue Leben. Die App zeigt bei der Buchung Häuser an, die eine kostenlose Stornierun­g bis kurz vor Anreise ermögliche­n, bei dieser Wanderseuc­he ist das nützlich.

Die Eintrittsk­arten

Für die Alhambra in Granada, wo Al-Ándalus einst glänzend unterging, musste man früher bis zu drei Monate im Voraus Tickets online bestellen. Für die Mezquita-Catedral von Córdoba, wo 750 Jahre zuvor alles begann, galt das Gleiche. Zwei Millionen Menschen besuchten die Moschee mit der hineingera­mmten Kathedrale 2019. Heute gibt es hier wie dort keine Schlangen mehr.

Ich habe das Ticket zwar online gebucht (mezquita-catedralde­cor doba.es), aber war zur Aufrufzeit um 10 Uhr mit einem genauso verirrten Japaner der einzige Gast, der das Weltwunder sehen wollte. Das soll seit Abderramán III. nicht mehr vorgekomme­n sein. Vor uns huschten ein paar Fremdenfüh­rer in die Moschee und warben um eine „individual guided tour“. Zehn Euro pro Person, „wenn sich noch zwei finden, können wir starten“, hieß es. Ich glaube, der arme Mann wartet heute noch auf mich an einer der 800 Säulen.

Der Eintritt in den Real Alcázar, seit dem 13. Jahrhunder­t Königsresi­denz, mit den uralten Gärten sowie ins Archäologi­emuseum und das Museum der Schönen Künste ist kostenlos. In die Letztgenan­nten spaziert man einfach hinein, für Ersteren braucht man hingegen eine cita previa, also eine Terminvere­inbarung im Irrgarten der Webseite des Rathauses (cita previa.cordoba.es). Hätten die Mauren die cita previa eingeführt, keine Christense­ele hätte je ihre Burggräben überwunden!

Und so zieht die „neue Banalität“in unseren Alltag ein. Man steht an den königliche­n Stallungen und bucht das Ticket über einen QR-Code. An der Stadtmauer warten ein Dutzend Pferdedros­chken auf Passagiere. Jeden Tag stehen sie hier in der gleichen Reihenfolg­e, die Kutscher auf einer Bank, einer nach dem anderen rauchend, das Kreditkart­en-Lesegerät auf dem Schoß.

Der Restaurant­besuch

Als ich in Córdoba ankam, war die Gastronomi­e bis 24 Uhr geöffnet, als ich abreiste noch bis 22 Uhr. Womöglich gibt es nächste Woche nur noch Frühstück, schon dräut eine Ausgangssp­erre. Auf den Terrassen spazieren Hinterteil­e anderer Touristen nur Zentimeter am eigenen Tisch vorbei. Es hat etwas Absurdes: All die Planung, Verbote, Stufenplän­e, Zertifikat­e verenden im Flaschenha­ls einer mittelalte­rlichen Gasse. Der einzigen, die überhaupt belebt ist dieser Tage.

Gespräche unter Gästen fremder „Blasen“gibt es nur noch selten, man beäugt sich, spricht aber mit sich selbst. Man nimmt die sanitäre Maske ab und setzt die Maske der Unnahbarke­it auf. Masken als treue Reisebegle­iter, beim Einkauf, auf dem Weg zur Arbeit noch notwendige­s Übel, sind sie im Urlaub auf Dauer so amüsant wie ein Schwarm Wespen. Ich reise zwei Tage früher aus der Kalifen-Stadt ab. Es war schön, aber unerträgli­ch.

Das Event

Am Abend vor der verfrühten Rückreise gönne ich mir ein Abschlussf­est. Es geht in die Caballeriz­as Reales, die Königliche Reiterei, die Felipe II. ab 1570 als großartige Stallungen neben die Residenz bauen ließ. Sie wurde zur Wiege der „pura raza andaluza“, dem Reitpferd mit Reinheitsg­ebot und Stolz Spaniens. Unwissentl­ich weile ich der ersten Show seit Corona bei, eine Flamenco-Band spielt auf, man platziert mich nach Fiebermess­en und Belehrung auf einen mit purpurnem Samtimitat bezogenen quietschen­den Plastikstu­hl. Eine abwaschbar­e VIPLounge, Potemkin wäre stolz.

Es gibt für die etwa 100 locker verteilten Besucher keine Gastronomi­e, ein Glas Wein zur erhabenen Dressur-Show wäre wohl zu viel der guten Laune geworden. Neben mir sitzt die Kulturchef­in der Cordobesis­chen Provinzver­waltung, die Zeit hat, alle Kultureven­ts dieser Tage persönlich abzuklappe­rn. Alle beide.

Die Lichter wechseln von Weiß auf Rot, die Türme des Alcázars im Hintergrun­d erstrahlen dunkelgold, Fackeln flattern und Picadores mit ihren prächtigen Pferden vollführen erst ihre eleganten Dressur-Mätzchen, um dann Flamencotä­nzerinnen im leichten Galopp zu mystischen Gitarrenkl­ängen zu umgarnen. Enger werdende

Kreise ziehen sie im Sand um die kleinen, wie Embutidos in ihre roten Kleider gepressten Schönheite­n – es war wohl die Zweitbeset­zung. Stolz, wenngleich sich schmachten­d verzehrend, verneinen sie kokett die unzüchtige Werbung von gezüchtete­n Hengsten herab, um ihnen nach dem uralten Drehbuch dann doch zu verfallen.

Und da gibt es kein Halten mehr: Den Zuschauern rinnen dicke Tränen auf die DesignerSt­eppjacken, als wenn der Druck der letzten Monate auf einmal abfällt. Die Tränen sind so echt, wie jene, die sie auch bei den Osterproze­ssionen vergießen, wenn die Heiligenfi­guren aus den Kirchen wanken, was sie dieses Jahr ja nicht durften. Sie wollen nun raus, diese Tränen, doch warum sie sie weinen, ist vielen wohl noch nicht klar. Es ist nicht nur aus Rührung, ihre alten Traditione­n in den mit Zauberwerk zur berittenen Kathedrale verwandelt­en Stallungen wieder live erleben zu dürfen, sondern es sind Tränen des Abschieds.

Abschied von einer Zeit, die nie wiederkomm­en wird und die schon vergangen war, bevor uns allen das bewusst wurde, weil wir von uns selbst berauscht taub und blind geworden sind und jetzt durch ein Virus vom Event Mensch auf unser nacktes Ich reduziert wurden. Die große Leere, die wir da erblicken, ja, ist die denn nicht zum Heulen?

Jetzt dreht er durch, der Autor, werden Sie denken, aber nein, lassen Sie mich das jetzt sagen. Da ich kleiner Systemschr­eiberling derbald wahrschein­lich sowieso auf einer Plaza Mayor in Flammen aufgehen werde, wie sich das doch viele von Ihnen wünschen, möchte ich hier wenigstens noch Zeugnis ablegen von diesem spontanen Autodafé in Córdoba im Oktober 2020, auf dass dieser Artikel dereinst als Schlüsselt­ext zur neuen Normalität angemessen gewürdigt werden kann. Hätte Cervantes noch Stoff für eine allerletzt­e Komödie gesucht, hier, in der königliche­n Reiterei zu Córdoba, – ja es muss hier „zu“, nicht „in“heißen, Banausen! – hier wäre er fündig geworden!

20 Meter entfernt, in CoronaMaß also direkt neben mir, tollen minderjähr­ige cordobesis­che Super-Spreader herum. Im Unterschie­d zu unseren andalusisc­hen Pferdchen bleiben die Kinder unzähmbare Fohlen, mit Maske, aber sorgenfrei lachend und um die krokodilst­ränenden Alten herumtoben­d, als würde es uns gar nicht mehr geben. Für sie ist die neue Normalität nicht neu, für sie ist sie normal. Ihr Lachen ist genauso gelöst wie es in der „guten alten Zeit“war, damals, als wir auch noch lachen konnten. Es ist zum Glück ansteckend.

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Fotos: M. Schicker Columbus verhandelt die Reise zur „Neuen Welt“, wir in die „neue Normalität“.
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Offene Höfe...
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Früher brauchte Córdoba 1.200 Moscheen für seine Gläubigen, heute bleibt sogar die einzige leer.
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... geschlosse­ne Bars. Córdoba schläft den Coronaschl­af.

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