Córdoba unter Tränen
Der weise Täschner und die Esel – Reiseskizzen in einer „neuen Normalität“
„Ich glaube, du bist seit Tagen der erste Ausländer, der hier hereinschneit, es ist jetzt immer so leer, obwohl wir gerade die Woche der offenen Patios haben. Selbst zum Brückenwochenende waren kaum mehr Leute da.“Der Täschner, der seine kleine Verkaufswerkstatt direkt neben der Moschee-Kathedrale in einem 500 Jahre alten Häuschen in Córdobas Alstadt betreibt, nutzt den Leerlauf zur Produktion und zur Deckung seines ungestillten Gesprächsbedarfs.
„Ich arbeite jetzt auf Vorrat und mein Sohn hilft mir, ein InternetGeschäft aufzubauen“, nuschelt er auf Nachfrage über die Lage der Nation durch seine Maske. Feinstes Ziegen- und Kalbsleder, so geschmeidig wie Seide, verarbeitet der alte Meister, wie wohl schon 20 Generationen vor ihm. „Die Wenigen, die kommen, kaufen einen Schlüsselanhänger oder ein Armband, die Leute haben kein Geld oder horten es lieber. Man weiß ja nicht, was noch kommt.“
Fast eine Stunde philosophieren wir über die Zeitenwende, über Nachhaltigkeit, wie wir Menschen es übertrieben haben mit dem touristischen Jet Set, dem Konsum, der Umweltverschmutzung. Wir sind uns sicher, dass uns das Virus zurück in Gepflogenheiten der 60er oder 70er Jahre zwingt, nur beim Jahrhundert werden wir uns nicht einig. Kein Kunde stört unseren Plausch der Hobby-Philosophen. „Es geht auch mit Weniger, nur mit Nichts geht es nicht.“Er glaubt, die Leute brauchten „nur Zeit, sich zu gewöhnen; wir Spanier sind doch wie alte Esel, wir bleiben lieber stur im Dreck stehen, schauen auf das Hinterteil des Vordermanns und wiehern genervt, als dass wir von einem gewohnten Pfad abweichen“, improvisiert er eine glänzende Quijotiade, die nicht nur nach Spanien passt. Vorfahren von Cervantes waren in diesen Gassen über Generationen Tuchmacher. Das hat wohl abgefärbt. Seine Weisheiten stecke ich mir in eine seiner Taschen und nehme sie mit.
Zug fahren
Reisen in Corona-Zeiten. Wir müssen nicht den ganzen Winter in unseren Urbanisationen versauern, man kann auch jetzt reisen. Vorsicht und Humor gehören dabei ins Gepäck. Mailand oder Córdoba? Hauptsache Spanien! Auf ren fe.com, der Webseite der spanischen Eisenbahn, legt man sich, um Schlangestehen in den Reisecentern zu umgehen, heute am besten ein Kundenkonto an, mit EMail und N.I.E., ohne die man in Spanien nicht mal ein Glas Wasser bekommt. Die Verbindungssuche bei Renfe ist vorsintflutlich. Anschlussund Umsteigeverbindungen sind Neuland. Sucht man zum Beispiel die Verbindung AlicanteCórdoba, bekommt man die Auskunft, dass es „derzeit keine solche
Verbindung“gibt. Es gibt gar keine direkte Verbindung zwischen der Comunidad Valenciana und Andalusien. Da man Madrid, über das alle Aves fahren, meidet wie der Teufel das Weihwasser, sucht man sich auf der Strecke selbst einen Knotenpunkt. Albacete. Spaniens Hannover. Von dort fährt, von Barcelona über Valencia und Xátiva kommend, ein Zug, der „Torre de Oro“, bis Sevilla mit Halt in der alten Kalifatshauptstadt Córdoba.
Da fällt mir ein, dass ich vor einem Jahr noch für 19 Euro Hin und Zurück Alicante-Sevilla geflogen bin. Die Welt musste ja irgendwann vor die Hunde gehen. Die Bahntickets kauft man einzeln pro Hin-und-Rück-Verbindung. Hinweise über Corona-Beschränkungen
bleiben kryptisch, man möge „sich informieren“. Im Netz sieht man ja, wohin das führt, wenn die Leute „mal selbst recherchieren“. Bezahlt wird unkompliziert über Kreditkarte, Sofortüberweisung oder Paypal und das Ticket gibt es per PDF zum Druck, als SMS mit Link auf einen QRCode oder auf die praktische App Passbook, wo sie sortiert aufscheinen und offline verfügbar sind.
Eine Stunde im leeren Ave von Alicante nach Albacete, freundliche Renfe-Hostessen verteilen 70prozentige Alkohollösungen in kleinen Fläschchen. Einen Kurzen auf den Weg. Ab Albacete geht es gen Norden durch Don QuijoteLand, die südliche Mancha und ihre Steppen, goldene Weizen- und Baumwollfelder, dicht vorbei an den Windmühlen von Villarrobledo und Alcázar de San Juan. Es folgen das buschige Weinland von Valdepeñas, das Logo-Mädchen des Ölproduzenten „La Española“lächelt uns von ihrem Hauptsitz nach. Die Erde färbt sich allmählich ins Karmesinrot Andalusiens, endlose Reihen Olivenbäume und die wilden Schluchten der Sierra Morena. 380 Kilometer durch Spaniens Herz und Eingeweide in gemütlichen viereinhalb Stunden.
Reisen in Corona-Zeiten: Vorsicht und Humor gehören ins Gepäck
recht, wir Menschen in den Wohlstandsländern sind zu einem Haufen verhätschelter Weicheier verkommen.
Hotelzimmer buchen
Ein Hotel zu buchen ist im verseuchten Spanien gerade eine Lust. 5-Sterne-Häuser balgen sich mit Sonderangeboten um den Gast, man wird umworben, als käme der Kalif selbst zurück nach Córdoba. Aber Obacht: Sie können zwar ein Luxus-Hotelzimmer zum Preis einer Jugendherberge bekommen, vielleicht in einem der Häuser die auf fünf Schichten iberisch-römisch-gotisch-islamisch-christlicher Geschichte gebaut sind, mit einem Innenhof zum Götter zeugen, doch sie werden darin verhungern wie in einem Kerker der Inquisition, nur auf Damast gebettet.
Das Restaurant geschlossen, die Bar verwaist, selbst den Kaffeeautomaten, den sonst nur das Personal benutzte, hat man abgeklebt. „Wenn wir den in Betrieb nehmen, bräuchten wir eine Extrakraft, die das Gerät nach jedem Espresso desinfiziert“, heißt es entschuldigend. Die Reisebibliothek ist geräumt, jemand könnte ja ein Buch anfassen – eine unwahrscheinliche Gefahr heutzutage. Auch das angepriesene Spa ist geschlossen, die Sitzlandschaft der Lobby wurde durch AluminiumKonferenzstühle im Mindestabstand ersetzt. Boo king.com empfahl den SchnellCheck-in, ein Foto des Passes und man verhindert, dass die Rezeptionistin ihn anfassen muss. So tasten wir uns berührungslos ins neue Leben. Die App zeigt bei der Buchung Häuser an, die eine kostenlose Stornierung bis kurz vor Anreise ermöglichen, bei dieser Wanderseuche ist das nützlich.
Die Eintrittskarten
Für die Alhambra in Granada, wo Al-Ándalus einst glänzend unterging, musste man früher bis zu drei Monate im Voraus Tickets online bestellen. Für die Mezquita-Catedral von Córdoba, wo 750 Jahre zuvor alles begann, galt das Gleiche. Zwei Millionen Menschen besuchten die Moschee mit der hineingerammten Kathedrale 2019. Heute gibt es hier wie dort keine Schlangen mehr.
Ich habe das Ticket zwar online gebucht (mezquita-catedraldecor doba.es), aber war zur Aufrufzeit um 10 Uhr mit einem genauso verirrten Japaner der einzige Gast, der das Weltwunder sehen wollte. Das soll seit Abderramán III. nicht mehr vorgekommen sein. Vor uns huschten ein paar Fremdenführer in die Moschee und warben um eine „individual guided tour“. Zehn Euro pro Person, „wenn sich noch zwei finden, können wir starten“, hieß es. Ich glaube, der arme Mann wartet heute noch auf mich an einer der 800 Säulen.
Der Eintritt in den Real Alcázar, seit dem 13. Jahrhundert Königsresidenz, mit den uralten Gärten sowie ins Archäologiemuseum und das Museum der Schönen Künste ist kostenlos. In die Letztgenannten spaziert man einfach hinein, für Ersteren braucht man hingegen eine cita previa, also eine Terminvereinbarung im Irrgarten der Webseite des Rathauses (cita previa.cordoba.es). Hätten die Mauren die cita previa eingeführt, keine Christenseele hätte je ihre Burggräben überwunden!
Und so zieht die „neue Banalität“in unseren Alltag ein. Man steht an den königlichen Stallungen und bucht das Ticket über einen QR-Code. An der Stadtmauer warten ein Dutzend Pferdedroschken auf Passagiere. Jeden Tag stehen sie hier in der gleichen Reihenfolge, die Kutscher auf einer Bank, einer nach dem anderen rauchend, das Kreditkarten-Lesegerät auf dem Schoß.
Der Restaurantbesuch
Als ich in Córdoba ankam, war die Gastronomie bis 24 Uhr geöffnet, als ich abreiste noch bis 22 Uhr. Womöglich gibt es nächste Woche nur noch Frühstück, schon dräut eine Ausgangssperre. Auf den Terrassen spazieren Hinterteile anderer Touristen nur Zentimeter am eigenen Tisch vorbei. Es hat etwas Absurdes: All die Planung, Verbote, Stufenpläne, Zertifikate verenden im Flaschenhals einer mittelalterlichen Gasse. Der einzigen, die überhaupt belebt ist dieser Tage.
Gespräche unter Gästen fremder „Blasen“gibt es nur noch selten, man beäugt sich, spricht aber mit sich selbst. Man nimmt die sanitäre Maske ab und setzt die Maske der Unnahbarkeit auf. Masken als treue Reisebegleiter, beim Einkauf, auf dem Weg zur Arbeit noch notwendiges Übel, sind sie im Urlaub auf Dauer so amüsant wie ein Schwarm Wespen. Ich reise zwei Tage früher aus der Kalifen-Stadt ab. Es war schön, aber unerträglich.
Das Event
Am Abend vor der verfrühten Rückreise gönne ich mir ein Abschlussfest. Es geht in die Caballerizas Reales, die Königliche Reiterei, die Felipe II. ab 1570 als großartige Stallungen neben die Residenz bauen ließ. Sie wurde zur Wiege der „pura raza andaluza“, dem Reitpferd mit Reinheitsgebot und Stolz Spaniens. Unwissentlich weile ich der ersten Show seit Corona bei, eine Flamenco-Band spielt auf, man platziert mich nach Fiebermessen und Belehrung auf einen mit purpurnem Samtimitat bezogenen quietschenden Plastikstuhl. Eine abwaschbare VIPLounge, Potemkin wäre stolz.
Es gibt für die etwa 100 locker verteilten Besucher keine Gastronomie, ein Glas Wein zur erhabenen Dressur-Show wäre wohl zu viel der guten Laune geworden. Neben mir sitzt die Kulturchefin der Cordobesischen Provinzverwaltung, die Zeit hat, alle Kulturevents dieser Tage persönlich abzuklappern. Alle beide.
Die Lichter wechseln von Weiß auf Rot, die Türme des Alcázars im Hintergrund erstrahlen dunkelgold, Fackeln flattern und Picadores mit ihren prächtigen Pferden vollführen erst ihre eleganten Dressur-Mätzchen, um dann Flamencotänzerinnen im leichten Galopp zu mystischen Gitarrenklängen zu umgarnen. Enger werdende
Kreise ziehen sie im Sand um die kleinen, wie Embutidos in ihre roten Kleider gepressten Schönheiten – es war wohl die Zweitbesetzung. Stolz, wenngleich sich schmachtend verzehrend, verneinen sie kokett die unzüchtige Werbung von gezüchteten Hengsten herab, um ihnen nach dem uralten Drehbuch dann doch zu verfallen.
Und da gibt es kein Halten mehr: Den Zuschauern rinnen dicke Tränen auf die DesignerSteppjacken, als wenn der Druck der letzten Monate auf einmal abfällt. Die Tränen sind so echt, wie jene, die sie auch bei den Osterprozessionen vergießen, wenn die Heiligenfiguren aus den Kirchen wanken, was sie dieses Jahr ja nicht durften. Sie wollen nun raus, diese Tränen, doch warum sie sie weinen, ist vielen wohl noch nicht klar. Es ist nicht nur aus Rührung, ihre alten Traditionen in den mit Zauberwerk zur berittenen Kathedrale verwandelten Stallungen wieder live erleben zu dürfen, sondern es sind Tränen des Abschieds.
Abschied von einer Zeit, die nie wiederkommen wird und die schon vergangen war, bevor uns allen das bewusst wurde, weil wir von uns selbst berauscht taub und blind geworden sind und jetzt durch ein Virus vom Event Mensch auf unser nacktes Ich reduziert wurden. Die große Leere, die wir da erblicken, ja, ist die denn nicht zum Heulen?
Jetzt dreht er durch, der Autor, werden Sie denken, aber nein, lassen Sie mich das jetzt sagen. Da ich kleiner Systemschreiberling derbald wahrscheinlich sowieso auf einer Plaza Mayor in Flammen aufgehen werde, wie sich das doch viele von Ihnen wünschen, möchte ich hier wenigstens noch Zeugnis ablegen von diesem spontanen Autodafé in Córdoba im Oktober 2020, auf dass dieser Artikel dereinst als Schlüsseltext zur neuen Normalität angemessen gewürdigt werden kann. Hätte Cervantes noch Stoff für eine allerletzte Komödie gesucht, hier, in der königlichen Reiterei zu Córdoba, – ja es muss hier „zu“, nicht „in“heißen, Banausen! – hier wäre er fündig geworden!
20 Meter entfernt, in CoronaMaß also direkt neben mir, tollen minderjährige cordobesische Super-Spreader herum. Im Unterschied zu unseren andalusischen Pferdchen bleiben die Kinder unzähmbare Fohlen, mit Maske, aber sorgenfrei lachend und um die krokodilstränenden Alten herumtobend, als würde es uns gar nicht mehr geben. Für sie ist die neue Normalität nicht neu, für sie ist sie normal. Ihr Lachen ist genauso gelöst wie es in der „guten alten Zeit“war, damals, als wir auch noch lachen konnten. Es ist zum Glück ansteckend.