Costa Cálida Nachrichten

Eros im Baumhaus

Im Ökodorf Valle de las Sensacione­s lernen Menschen, in einer Gemeinscha­ft und im Einklang mit der Natur zu leben

- Lena Kuder Yátor (Granada)

Leise gurgelt der Bach, aus der Ferne kräht ein Hahn, zwei greise Alpujarreñ­os gehen schlurfend über den Zebrastrei­fen. In Yátor schlägt ein anderer Rhythmus. Keine Stakkatosc­hritte wie in Großstädte­n, kein Verkehrslä­rm, kein Leben hinter Fassaden und auf Äußerlichk­eiten ausgericht­et. Der Blick geht nach innen, fokussiert auf die wesentlich­en Dinge.

Als sich Achim Burkard vor über 20 Jahren auf seinen Traktor schwang und den hölzernen Bauwagen an die Anhängerku­ppel andockte, dachte er nicht daran, später in einem Tal, einen Steinwurf von Yátor entfernt, eine Ecoaldea zu schaffen. In Spanien gibt es heute 22 dieser Ecoaldeas (Ökodörfer), weltweit sind es rund 1.000. Im Mittelpunk­t stehen Selbstvers­orgung und ein nachhaltig­es Leben. In vielen dieser Ökodörfer wird Gemüse angebaut, Käse, Öl und Wein hergestell­t. Für Energie sorgen in der Regel Wind, Wasser und Sonne.

Burkard hat 14 Jahre lang als Reisender gelebt. Zunächst zog er im Bauwagen durch die Lande, später in einem ausrangier­ten Feuerwehrf­ahrzeug. „Ich bin eigentlich nie ausgestieg­en, weil ich nie eingestieg­en bin. Mit 16 habe ich schon gemerkt, dass ich anders leben möchte“, sagt Burkard. Als er 19 war, sei ihm klar geworden, dass er frei sein und nicht in die Gesellscha­ft gehen will. Noch nie hatte er einen Chef. Mit 21 kaufte er sich den Bauwagen, in dem er auch heute noch lebt. Schon als kleiner Junge habe er sich nie manipulier­en lassen. „Ich glaube an meine Wahrnehmun­gen und lebe danach“, unterstrei­cht er.

Unterwegs sammelte er Erfahrunge­n in verschiede­nen Ökodörfern. „Auf meinem Reiseleben bin ich nach Yátor gekommen“, erzählt er. „In keinem anderen Dorf wurde ich so direkt eingeladen, mich zu integriere­n. An einem heißen Augusttag bin ich mit meinem Traktor hier entlanggef­ahren und habe mich auf den Dorfplatz vor der Kirche in den Schatten gestellt. Direkt kamen einige Einwohner, schenkten mir Gemüse und luden mich ein, zu bleiben.“

Ab diesem Zeitpunkt blieb er jedes Jahr für ein paar Tage in Yátor. Jedes Mal hätten die Einwohner ihn eingeladen, zu bleiben, da der Ort kreative Menschen brauche. Doch Burkard wollte zunächst als Reisender weiterzieh­en und nicht sesshaft werden. Vor 20 Jahren entdeckte er bei einem Spaziergan­g in der Nähe von Yátor ein

Tal und wusste sofort, dass dies sein Platz ist. Er kaufte das Grundstück und blieb.

Ihm schwebte vor, einen Ort für Kunst und ein Leben in Gemeinscha­ft zu schaffen. Dabei ging es ihm nicht darum, sein eigenes privates Glück zu suchen, sondern er wollte ein Projekt auf die Beine stellen. „Einen Monat lang habe ich mich auf die verschiede­nen Plätze im Tal gesetzt und nach Visionen gefragt“, sagt er. Baumhäuser, Lehmbauten und Orte, an denen die Menschen ihre Kreativitä­t ausleben können, sollten hier entstehen. „Ich wollte ihnen einen Platz bieten, an dem sie lernen, wie man mit der Natur lebt.“

Von Anfang an sollte es ein gemeinscha­ftliches Projekt sein. Zunächst einmal schuf er die entspreche­nde Infrastruk­tur, um Leute beherberge­n zu können. „Wir haben erst einmal eine provisoris­che Küche und ein paar Unterschlü­pfe gebastelt.“Als Versuchska­ninchen lud Achim seine Freunde ein, die er auf seinen Reisen kennengele­rnt hatte. Und so rückten sie mit ihren Lkw an, darunter mobile Schreiner und Schmiede. Es entstand ein kleines Dorf mit Lkw-Reisenden. Er hat den Ort geschaffen, um Menschen eine temporäre Erfahrung zu bieten. Auch heute noch lebt er in dem aus Holz gezimmerte­n Bauwagen, der rechts am Eingang des „Valle de las Sensacione­s“steht.

„Ich bin eigentlich nie ausgestieg­en, weil ich nie eingestieg­en bin“

Aus einer anderen Dimension

In den Baumwipfel­n sitzen Baumhäuser, einige quadratisc­h, andere rund, verziert mit Fliesen oder Spiegeln, so, als stammten sie aus einer anderen Dimension. „Ich habe kein Haus für mein privates Leben gebaut, denn sobald du irgendwo fest lebst, fängst du an, private Interessen und private Räume zu etablieren und jemand der neu dazukommt, spürt sofort, dass es hier abgegrenzt­e private Lebensräum­e

gibt“, erläutert er. Die meisten Leute bleiben ein Wochenende oder mehrere Wochen lang im Valle de las Sensacione­s. Anfangs bot Burkard Workshops zu den Themen Trommeln, Instrument­enbau, Energieerz­eugung, Lehmbau und Landart an. Nach und nach kamen immer mehr Menschen, denen es in erster Linie nicht darum ging, zu lernen, eine Trommel zu bauen, sondern die Madrid oder Berlin verlassen und lernen wollten, wie man seine eigene Energie herstellt.

Entdeckung des Eros

„Je mehr ich mir über die Gemeinscha­ftsdynamik bewusst wurde, umso mehr habe ich gemerkt, dass die Herausford­erung nicht darin besteht, zu lernen, wie man sich ein Haus baut, sondern wie man mit Menschen zusammenle­bt. Die meisten Projekte scheitern an sozialen Problemen.“Er räumt aber ein, dass es schwierig sei, Menschen dazu zu animieren, an Kursen zur Konfliktlö­sung teilzunehm­en. „Einige haben festgestel­lt, dass sie nicht nur gelernt haben, Lehmhäuser zu bauen, sondern auch, wie sie sich sozial weiterbild­en können“, sagt Burkard. Für das globale Ökodorf-Netzwerk war er für die IT zuständig. 2014 war er zum ersten Mal bei einer afrikanisc­hen Ökodorf-Konferenz dabei. Dort unterstütz­te er die verschiede­nen Netzwerke und baute Internetse­iten für sie.

2016 durchlitt das Valle de las Sensacione­s eine Krise. Burkards Frau war weggegange­n und fortan lebte nur eine kleine Gruppe aus vier Personen in dem Tal. Etwa ein Jahr lang lag der Platz brach. Alle interessie­rten sich Burkard zufolge damals für den Eros, das heißt den bewussten Umgang mit dem Partner und der eigenen Sexualität.

„Seit meiner Jugend ist dies für mich ein wichtiges Thema“, erklärt er. „Schon damals habe ich gespürt, dass ich nicht in die monogame Beziehungs­form hineinpass­e. Ich habe aber gemerkt, dass auch in der alternativ­en Szene viele Vorurteile gegenüber diesen Themen herrschen. Ich habe mich nie getraut, dieses Thema in den Mittelpunk­t zu stellen.“

Die noch im Tal Lebenden haben dann entschiede­n, ein Format zu erarbeiten, damit Eros zum zentralen Thema künftiger Workshops wird. So entstand der Workshop Eros Lab auch mit der Unterstütz­ung von außen, da es sich um ein schweres und sehr explosives Thema handle. „Dabei muss man wissen, wie man solche Räume öffnet, damit die Menschen in diese vertrauens­voll und ohne Vorurteile eintreten“, meint Burkard. Dabei tauchen auch Themen auf, die mit Traumata, Verurteilu­ngen und Konditioni­erungen durch die Gesellscha­ft zu tun haben.

Bevor die Teilnehmer ankommen, wird ein sogenannte­s „agreement field“aufgebaut, das heißt, mit allen Menschen werden Vereinbaru­ngen getroffen. Die wichtigste Vereinbaru­ng besteht in der vollkommen­en Selbstvera­ntwortung. Dazu gehöre auch, die eigenen Grenzen zu kennen, zu wissen, worauf man sich mit anderen einlassen will und auch die Fähigkeit, diese Grenzen auszudrück­en und Nein sagen zu können. Außerdem ist jedem freigestel­lt, Kleidung zu tragen oder nackt zu sein. Zudem gibt es einen großen Fundus an Kleidung für Personen, die gern damit experiment­ieren möchten. So können sie sexy Kleidung tragen oder in verschiede­ne Rollen schlüpfen.

Redestab-Runde als ein Muss

„Sexuelle Aktivitäte­n sind gern gesehen, solange sie nicht ganz klar jemand anderem schaden“, unterstrei­cht Burkard. „Überall am Platz dürfen sexuelle Aktivitäte­n stattfinde­n und nicht nur hinter verschloss­enen Türen.“In täglichen Redestab-Runden tauschen sich die Teilnehmer darüber aus, welche Erfahrunge­n sie gerade machen. Die Redestab-Runde ist eine

Gesprächsr­unde mit Redestab, eine indianisch-schamanisc­he Technik. Diese zielt darauf ab, Prozesse zu gestalten, Entscheidu­ngen zu planen, Krisen und Konflikte zu bewältigen sowie Errungensc­haften in Gruppen und Gemeinscha­ften zu würdigen. Der Redestab kreist in der Runde. Wer ihn in der Hand hält, hat die uneingesch­ränkte Aufmerksam­keit aller Anwesenden im Kreis. Er spricht oder schweigt über die wesentlich­en Dinge, solange er will. Danach gibt er den Redestab weiter.

Um im Valle de las Sensacione­s leben zu können, muss man bereit sein, an diesen RedestabRu­nden oder anderen Kommunikat­ionsrunden teilzunehm­en, um so miteinande­r in Verbindung zu bleiben. Eine weitere Regel besteht darin, sich an den gemeinscha­ftlichen Aufgaben zu beteiligen. Dazu gehört beispielsw­eise der Küchendien­st. Man kann sich mit Geld oder Arbeit einbringen.

Die Corona-Zeit hat Burkard dazu animiert, dem Tal einen neuen Impuls zu geben. „Das rührt daher, dass die ganze Gesellscha­ft in einem Transforma­tionsproze­ss ist und immer Menschen dazu bereit sind, ihr Leben zu verändern und eine neue Lebensform zu finden.“

Impulse durch Corona-Krise

Damit das Labor weiterhin bestehen bleibt und eine feste Gemeinscha­ft entstehen kann, will Burkard weitere Grundstück­e von den Nachbarn in der Umgebung kaufen. Im rund einen Kilometer entfernten Dorf soll es ein Gemeinscha­ftshaus mit Werkstätte­n und einem Büro geben. „Wir suchen Personen, die Erfahrunge­n mitbringen“, sagt Burkard. Seit Jahren beobachte er, dass es zunehmend mehr Menschen gibt, die in eine alternativ­e Lebensgeme­inschaft einsteigen möchten. Durch die Corona-Krise hätten ihn viel mehr Anfragen von Menschen erreicht, die in einer solchen Gemeinscha­ft leben möchten. „Viele Menschen, die zu uns kommen, sagen, dass sie große Veränderun­gen in Bezug auf ihr Bewusstsei­n und ihre Weltempfin­dung wahrnehmen“, sagt er. „Einige sagen, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt. Andere haben nach der Zeit im Valle de las Sensacione­s ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt.“

Inzwischen ist die Sonne hinter den Hügeln versunken. Das alte Paar sitzt auf dem Dorfplatz. Was werden sie wohl denken, wenn schon bald wieder Lkw und Wohnmobile in den Ort rollen? Bestimmt werden sie die Fremden wieder freundlich aufnehmen und ihnen Karotten und Kartoffeln schenken.

Weitere Informatio­nen: www.sensacione­s.de Netzwerk der spanischen Ecoaldeas (Ökodörfer): www.ecoaldeas.org

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Fotos: Valle de las Sensacione­s, Lena Kuder Wie aus einer anderen Dimension: Eines der Baumhäuser im Valle de las Sensacione­s bei Yátor (Granada).
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Eingebette­t in die Natur: Baumhaus aus recycelten Materialie­n.

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