Eine künstliche Insel
Auszug aus dem Buch von Petra Duss „Robbie - Eine Freundin fürs Leben“
Heute Morgen sind wir schon früh unterwegs. Unser Ziel heißt Odaiba und liegt in der Bucht von Tokyo. Das hat mir Jemima bereits verraten. Wir werden mit dem Zug dorthin fahren. Vorher will sie aber noch in den Supermarkt, etwas zu essen organisieren.
„Außerdem brauchen wir Geld. Hier bekomme ich mit meiner Kreditkarte Yen. Das ist die Währung in Japan. 100 Yen sind ungefähr 80 Cent“, erklärt mir Jemima. „Robbie, du wartest am besten hier bei dem Akita. Das sind die begehrtesten Hunde in Japan. Guck mal, wie hübsch er ist und was für ein weiches Fell er hat. Später möchte ich auch so ein tolles Tier haben.“Habe ich mich da gerade verhört? Bloß weg hier! Eifersüchtig starre ich zu dem hellen Akita. Meine Freundin ist inzwischen im 7-Eleven Supermarkt verschwunden. Der Hund stellt sich auf seine Pfoten und sieht mich arrogant an. Ich öffne das Maul und zeige ihm meine Zähne. Ich beschließe, ihn zu ärgern und strecke ihm die Zunge raus. Er bellt. Ich belle ebenso. Der Hund bellt lauter. Ich brülle noch lauter. Genau in dem Moment, als der Hund aus voller Kehle bellt, verstumme ich. Keine Minute zu früh, denn sein Herrchen kommt aus dem Geschäft und schimpft mit ihm. Mein Frauchen biegt auch gerade um die Ecke und strahlt mich an.
„Robbie, du warst aber brav!“Na, also! Geht doch!
Bestens gelaunt sind wir auf dem Weg zu unserem Zug. Ich lächele meine Kameradin an und sie lächelt zurück. Wir steigen ein und suchen nach einem schönen Plätzchen. Ich darf aus- nahmsweise mal vorne sitzen. Auf der anderen Seite sehe ich eine Familie mit 3 Kindern, eins liegt noch im Kinderwagen. Die Kinder wollen mir meinen Platz streitig machen, aber nichts da. Hier sitze ich!
„Der Zug fährt führerlos. Das nennt man autonomes fahren“, sagt meine Lehrerin.
Es gibt keinen Fahrer! Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Was für ein krasses Erlebnis. Der Zug fährt auf Hochschienen. So ähnlich muss es auf einer Achterbahn sein. Gespannt schauen wir durch die große Vorderscheibe. Links und rechts tauchen
Häuser auf und ver- schwinden wieder. Dann erscheint eine Bucht und wie von Zauberhand bleibt die Bahn stehen. Man sieht ein großes Schild, auf dem „Odaiba“steht. Hallen, Gebäude, ein Riesenrad, eine Statue, eine Brücke und vieles mehr erscheint in meinem Augenwinkel. Ich freue mich darauf, alles zu erkunden und bin soooo aufgeregt als wir aussteigen.
Prompt renne ich in die falsche Richtung. Das bringt mir eine Rüge von Jemima ein.
„Pass auf Robbie, du läufst ja fast den Kinderwagen um!“„Stimmt doch gar nicht“, denke ich.
„Das fehlt mir noch, dass ich dich hier suchen muss“, tadelt sie mich bevor sie wieder ihre gewohnte Rolle einnimmt und mir einiges erklärt. Und ich höre ihr begeistert zu.
„Odaiba ist eine künstliche Insel mit vielen Freizeitangeboten. Japaner arbeiten sehr viel und haben kein regelmäßiges Wochenende, das sie mit ihren Familien verbringen. Sie bekommen wenig Urlaub. Deswegen hat die Regierung be- schlossen, einige der beliebtesten Sehenswürdigkeiten nachzubauen. Und so bleiben die Leute im Land und brauchen nicht zu verreisen. Erinnerst du dich an den Tokyo-Tower? Er ist nach dem Eiffelturm gebaut worden. Hier haben wir die Freiheitsstatue“, sie zeigt auf die Dame mit der Fackel in der Hand. „Da hinten sieht man die Rainbow Bridge. Die wurde nach der Golden Gate Bridge von San Francisco gebaut. Man kann da rüber laufen und ist dann am anderen Ende der Stadt. Schau mal da unten sieht man den Eingang zu einem Onsen. Das ist ein öffentliches Badehaus.
Und dazwischen stehen Attraktionen und ein neu eröffnetes Digitalmuseum.“Die Lehrerin ist wieder ganz in ihrem Element. „Was für ein Museum?“, frage ich mich. Ich hüte mich aber die Frage laut zu stellen.
„In den Hallen wurde das Casino Caesars Palace aus Las Vegas nachgebaut und vieles mehr.“So redet sie weiter und weiter. Ich verstehe nicht alles, aber gebe mir größte Mühe.
Auf der linken Seite steht ein Riesenrad. Die Leute darin haben sichtlich ihren Spaß und genießen den Ausblick. Langsam wird es dunkler. Nun wechselt die Rainbow Bridge, wie der Weihnachtsbaum vorm Skytree, alle paar Minuten ihre Farbe. Wir sitzen am Hafen und schauen in den Nachthimmel. Mein Fell ist nach dem Schwimmen in der Bucht noch etwas feucht. Mein Lieblingsmensch isst ein großes Stück Weihnachtstorte. Am Himmel erscheint in Leuchtbuchstaben das Wort
„Love!“Es ist gerade so romantisch! Was für ein schöner Abend.
Langsam wird es Zeit, zurückzufahren. Je- mima schläft im Zug ein und lehnt ihren Kopf an meinen. Die Fahrt geht schnell, etwas zu schnell finde ich und genieße die Rückfahrt neben meiner schlafenden Freundin, die entspannt in ihrem Sitz döst.
Zurück in unserem Zimmer erzählt sie mir noch eine Gute-NachtGeschichte über den kleinen Hundewelpen Hachiko, der sein Herrchen, einen angesehenen Professor aus Tokyo, jeden Morgen zum Bahnhof nach Shibuya begleitete und ihn abends wieder abholte. Als der Mann ei- nes Abends nicht am Bahnhof erschien, weil er in der Uni einen Herzinfarkt hatte und verschied, wartete der kleine Hund vergebens. Jeden Abend ging er wieder zum Bahnsteig, um sein Herrchen abzuholen. Er ließ sich weder wegjagen noch machte es ihm etwas aus, den Weg vom Land in die Stadt zurückzulegen, wo er später lebte, um am Bahnhof zu warten. Man baute ihm noch zu
Lebzeiten ein Denkmal, weil der Hund zum Inbegriff für Freundschaft, Liebe und Treue wurde. Nach 10 Jahren unermüdlichen Wartens verschied auch Hachiko.
„Heute treffen sich an seinem Denkmal Freunde und Liebespaare aus der ganzen Welt!“beendete Jemima diese schöne, aber auch traurige Geschichte. „Durch ihn wurde diese Rasse so beliebt und man nannte sie Akita, nach dem Geburtsort des mutigen und treuen Hundes!“Meine Vertraute macht eine bedeutungsvolle Pause. Sie kann so gut erzählen.
„Kannst du dich an den Akita heute Morgen erinnern? So ähnlich muss Hachiko ausgesehen haben. Morgen besuchen wir das Denkmal des treuen Hundes am Shibuya Bahnhof“, erwähnt Jemima noch, bevor sie sich in den vielen Kissen einkuschelt.
„Und ob ich mich an ihn erinnere“, denke ich und schäme mich ein bisschen wegen dem Akita vor dem Supermarkt.
„Gute Nacht, Robbie!“„Gute Nacht, Jemima!