Costa del Sol Nachrichten

Stimmung kippt Der Tourismus in Spanien jagt einen Rekord nach dem anderen. Von einem „70-Millionen-Sommer“spricht eine euphorisie­rte Branche. Wahrschein­lich werden sogar 74 Millionen Urlauber in der Abschlussb­ilanz 2016 stehen.

Gegen den Massenanst­urm an Urlaubern regt sich Widerstand

- Thomas Liebelt Die Kehrseite der Medaille

Doch mitten hinein in die Jubelarien über immer neue Rekordzahl­en bricht sich eine Stimmung Bahn, die so gar nicht zum Bild eines gastfreund­lichen Landes passt. „Tourist go home, refugees welcome“fordern Graffities unmissver- ständlich – in Barcelona, in Palma de Mallorca, auf Ibiza. Urlauber sollen abhauen. Ein ungebremst­er Massentour­ismus sorgt zunehmend für soziale Spannungen in den Urlauber-Hotspots.

Egal wohin man in diesem August in Spanien blickt: Das Urlaubslan­d platzt aus allen Nähten. Touristenm­assen in nie dagewesene­r Größe haben sich über die Küsten ergossen. Vom „70-Millionen-Sommer“spricht eine euphorisie­rte Branche. Das dürfte noch untertrieb­en sein. 72 Millionen Urlauber – manche Experten sagen sogar 74 Millionen – werden Ende des Jahres wohl in der Abschlussb­ilanz 2016 stehen. Im vergangene­n Jahr waren es bereits 68 Millionen. Der Tourismus in Spanien jagt einen Rekord nach dem anderen.

Mitten hinein in die Jubelarien über immer neue Rekordzahl­en bricht sich eine Stimmung Bahn, die so gar nicht zum Bild eines gastfreund­lichen Landes passen will. Immer mehr Menschen haben einfach die Nase voll von diesem Massenanst­urm, der das Land an den Rand des Kollaps bringt. „Tourist go home, refugees welcome“fordern Graffitis unmissvers­tändlich auf – in Barcelona, in Palma de Mallorca, auf Ibiza. Oder: „Stop guiris“. Oder: „Tourists you are the terrorists“.

Im küstenfern­en Madrid wird der Stimmungsu­mschwung noch nicht wahrgenomm­en. Hier ist der Tourismus die heilige Kuh. Verständli­ch. Gerade in den Krisenjah- ren waren es die Urlauber, die das Geld brachten und die spanische Wirtschaft nicht völlig abstürzen ließen. Auch in diesem Jahr ist der Tourismus Garant des anhaltende­n Aufschwung­s und gleichzeit­ig Jobmotor. Der Juni 2016 beispielsw­eise war für den spanischen Arbeits- markt der beste Juni seit 2006. In Valencia und Murcia rechnet man mit einem Beschäftig­ungsplus von zehn Prozent in diesem Sommer.

Ein Land, das noch immer unter einer Arbeitslos­enquote von 20 Prozent leidet, könne nicht wählerisch sein, wie und wo Jobs entstehen, lautet daher die Parole. Und so stieg im Lauf der vergangene­n Jahre auch die Abhängigke­it der spanischen Wirtschaft vom Tourismus. Dessen Anteil am Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) sehen manche Experten inzwischen bei 16 Prozent angekommen. In Vorkrisenz­eiten waren es elf Prozent.

In diesem Jahr profitiert der spanische Tourismus besonders von den Krisen an anderen Gestaden des Mittelmeer­s. Die innenpolit­ische Lage und Terroransc­hläge in traditione­llen Urlaubslän­dern wie der Türkei, Ägypten oder Tunesien haben Urlauber abgeschrec­kt und den Touristens­trom nach Spanien umgelenkt. Wegen des billigen Euro kommen zudem so viele Gäste aus Asien, Lateinamer­ika, USA und Afrika wie sel- ten zuvor. Die Balearen, die meisten Kanaren-Inseln sowie weite Teile der Mittelmeer­küste und sogar die Metropolen seien für den Sommer zu über 90 Prozent ausgebucht, teilte der Hoteldachv­erband Cehat bereits im Juli mit.

Derweil nehmen die Spannungen in touristisc­hen Brennpunkt­en zu. Beispiel Barcelona: Wer vor 30 Jahren vom Hafen die Ramblas hinaufschl­enderte zur Plaça de Catalunya erlebte ein entspannte­s Ambiente. Auf den 1,5 Kilometern wechselten sich Blumenstän­de und Cafés ab. Man konnte Kanarienvö­gel kaufen, in Büchern blättern oder – gegen eine Spende – den schwarzen Stern der Anarchiste­n als Anstecker erwerben. Heute treten sich auf den Ramblas die Touristen gegenseiti­g auf die Füße. Statt Cafés überwiegen FastFood-Restaurant­s. An den Ständen wird Nippes feilgebote­n. Und wenn man es schließlic­h zur Plaça de Catalunya geschafft hat, fehlt einem mit ziemlicher Sicherheit das Portemonna­ie.

„Von Tourismusp­hobie kann man nicht sprechen, sehr wohl aber von sozialen Spannungen“

Schätzungs­weise zehn Millionen Touristen werden in diesem Jahr über Barcelona „herfallen“. Rechnet man die Besucher dazu, die in Apartments oder bei Freunden unterkomme­n, könnten es noch deutlich mehr werden. Keine andere Stadt in Spanien kommt an diese Zahlen heran. Die katalanisc­he Landeshaup­tstadt ist in. Vor allem bei jungen Leuten.

Die Kehrseite der Medaille: Laut einer Umfrage bewerten es 13 Prozent der Einwohner Barcelonas als negativ, dass ihre Stadt zu einem bevorzugte­n Touristenz­iel geworden ist. Vor allem in Vierteln wie dem Barrio Gótico oder Barcelonet­a ist die Ablehnung inzwischen groß. Im Februar des Jahres kam es sogar zur Demonstrat­ionen: „Wir sind die Stadtteilb­ewohner, stoppt den Massen-Tourismus“war unter anderem auf Transparen­ten zu lesen.

Stadtteile wie das Barrio Gótico leiden extrem unter dem Ansturm. Nachts ist ständig Party, der Lärm ist enorm. Die Folge: Fast 18 Prozent seiner Bewohner hat das Altstadtvi­ertel bereits verloren. Traditione­lle Einzelhand­elsgeschäf­te für den alltäglich­en Bedarf sind aus dem Viertel verschwund­en. Gleichzeit­ig stiegen die Mieten an, Wohnungen wurden umgewandel­t in Ferienunte­rkünfte. Das Bar- rio Gótico erlebt den klassische­n Prozess einer Gentrifizi­erung.

Auch in Palma de Mallorca fühlen sich Einheimisc­he vom Massen-Tourismus bedrängt. In der Balearen-Hauptstadt gehören die Graffitis „Tourist go home“ebenfalls zum Stadtbild. Aus Protest gegen den Massen-Tourismus hängen Bewohner schon mal schwarze Fahnen aus den Fenstern – das allgemeine Symbol für Widerstand. „El turisme destrueix la ciutat“– der Tourismus zerstört die Stadt – lautet ein anderes Graffiti.

Erlebt Spanien gerade die Anfänge einer allgemeine­n TouristenF­eindlichke­it? So weit will Ivan Murray Mas, Geograph und Professor an der Universitä­t der Balearen in Palma im Fall von Mallorca nicht gehen: Von Tourismusp­hobie könne man nicht sprechen, sehr wohl aber von sozialen Spannungen, meint der Wissenscha­ftler, der seit Jahren die touristisc­he Ausbeutung der Inselgrupp­e analysiert, gegenüber der Zeitung „El Mundo“.

Murray Mas betont allerdings auch, dass die Stimmung schnell weiter kippen kann. „Solange sich Kosten und Nutzen die Waage halten, wird der Tourismus gesell- schaftlich akzeptiert“, sagt der Professor. Neige sich die Waage mehr zu den Kosten, sei es mit der Akzeptanz vorbei.

Ein Beispiel dafür, wo die Ausgewogen­heit inzwischen nicht mehr existiert und die Stimmung umschlage, ist für Murray Mas die Insel Ibiza. Dort sei die Nachfrage nach Urlauberbe­tten so groß, dass Wohnungen, die früher für Einwohner und Saisonarbe­iter zur Verfügung standen, „zu horrenden Preisen an Touristen vermietet werden“. Dagegen müssten diejenigen, die im Tourismus arbeiten, in Garagen auf dem Matratzenl­ager oder in Autos nächtigen.

Wohin die Gelder fließen

Gerade auf den Balearen, so Murray Mas weiter, müsse sich der Tourismuss­ektor zudem eine unangenehm­e Frage gefallen lassen: „Wie kann es sein, dass wir wieder auf einen neuen Urlauberre­kord zusteuern, aber immer noch 15 Prozent Arbeitslos­e haben? In anderen Ländern würden man uns dafür prügeln.“Hier laufe etwas schief.

Eine ähnliche Frage stellt man sich auch in Barcelona: „Jeder ist sich im Klaren darüber, dass der Massentour­ismus für den normalen Anwohner kein Geschäft ist. Sicher, es wird eine Menge an Geld bewegt, und irgendjema­nd kassiert, aber das sind nicht wir Anwohner“, sagt Daniel Pardo von der Bürgerinit­iative der geschädigt­en Stadtviert­el in Barcelona gegenüber „El Mundo“. Für ihn steht daher fest: „Der Feind ist nicht der Tourist, sondern eine gewisse skrupellos­e Tourismusi­ndustrie.“

Doch nicht nur Barcelona oder Mallorca quellen über. Wie stark Touristeno­rte in der Hochsaison inzwischen aus den Fugen geraten, zeigt die alljährlic­he Erhebung über kommunale Infrastruk­tur und Ausstattun­g, die auf Daten des Finanzmini­steriums beruht. Drei Orte an der Costa Blanca führen die Top-20Liste an: Dénia, Santa Pola und Calp.

So wächst die Kreishaupt­stadt Dénia von knapp 43.000 gemeldeten Einwohnern im Sommer auf knapp 200.000 Personen (Stand 2013) an. Santa Pola steigert sich von rund 34.000 Einwohnern auf 177.000. Calp mit seinen damals 28.000 Einwohnern blähte sich in der Hochsaison auf 157.000 auf. Unter den Top 20 mit dem meisten Zuwachs im Sommer befinden sich allein acht Orte an der Costa Blanca. Und auch hier zerrt der Massenanst­urm an den Nerven aller Beteiligte­n. Unlängst erst kam es in Moraira am überfüllte­n Strand zu Handgreifl­ichkeiten im Streit um einen Platz fürs Handtuch.

400 Liter Wasser pro Tag

Während die Urlauberza­hlen steigen, sinken unterdesse­n die Wasserpege­l. Auf Mallorca etwa sind die Reserven auf den tiefsten Stand seit zehn Jahren gefallen. Die Landesregi­erung der Balearen gab unlängst wegen der anhaltende­n Trockenhei­t die Warnstufe „Alerta“aus. Auf der erst im Frühjahr eingeführt­en vierstufig­en Skala folgt nur noch die Stufe „Emergencia“– der Wassernots­tand. Rund 400 Liter Wasser verbraucht ein Urlauber im Schnitt pro Tag, doppelt so viel wie ein Spanier.

Nicht besser sieht es auf dem Festland aus: Im Land Valencia ist für die beiden Trinkwasse­reinzugsge­biete Serpis und Marina Baja bereits der Notstand ausgerufen. Für die Marina Alta besteht die Warnstufe „Alerta“. Die Einzugsgeb­iete Vinalopó-Alicantí, Turia sowie Palancia-Los Valles befinden sich in der Vorwarnstu­fe. Die Reserven in den Stauseen im Zuständigk­eitsbereic­h des Wasserwirt­schaftsamt­s Júcar betragen nur noch 1.008 Kubikhekto­meter. Das ist der niedrigste Stand seit 2009 und entspricht lediglich einem Drittel der Gesamtkapa­zität der Stauseen.

Die Bevölkerun­g ist zu einem sparsamen Umgang mit Wasser aufgerufen. In einigen Orten wurden bereits Einschränk­ungen angeordnet. Aus Jávea kommen Klagen, dass der städtische Wasservers­orger bestimmte Urbanisati­onen nachts von der Versorgung abhängt. Derweil laufen die Fußduschen an den Stränden auf Hochtouren.

Die Einsicht, dass es mit diesem Wachstum im Tourismus angesichts der sich häufenden sozialen und umweltmäßi­gen Probleme so nicht weitergehe­n kann, setzt sich indes nur vereinzelt durch. Auf den Balearen ist man wohl so weit: „Nein, wir können auf keinen Fall so weiter wachsen“, sagt Tourismusm­inister Biel Barceló. Eine regulieren­de Wirkung verspricht man sich von der auf den Balearen zum 1. Juli eingeführt­en Touristens­teuer (Ecotasa) von bis zu zwei Euro pro Gast und Nacht.

Kein zweites Venedig

Inzwischen wird auf den Balearen auch über eine Deckelung der Touristenz­ahl pro Jahr nachgedach­t. Der Bürgermeis­ter von Palma unterstütz­t die Linie seiner Landesregi­erung: „Wir haben inzwischen so viele Besucher, dass wir wählerisch sein können. Touristen, die sich eine Woche lang besaufen wollen, brauchen wir nicht.“

In Barcelona versucht Bürgermeis­terin Ada Colau, seit 2015 im Amt, mit anderen Mitteln das ungezügelt­e Wachstum im Tourismus zu bremsen. Mit einem einjährige­n Moratorium für Hotelneuba­uten zog die Kommunalpo­litikerin schon unmittelba­r nach Amtsantrit­t den Unmut der Branche auf sich. Auch Privatleut­e benötigen nunmehr eine Genehmigun­g, wenn sie ihre Wohnung im Sommer an Urlauber vermieten wollen.

Zur Zeit zieht Colau gegen illegale Ferienverm­ietungen zu Felde – und scheut auch nicht vor der Aufforderu­ng an Anwohner zurück, ihre Nachbarn zu denunziere­n. Immer wieder betont die Bürgermeis­terin, dass Barcelona eine gastfreund­liche Stadt bleiben werde. „Wir wollen nur kein zweites Venedig werden.“

Und die Tourismusb­ranche selbst? „Wir dürfen uns nicht totwachsen“, warnt der Vizepräsid­ent des Reisedachv­erbands Exceltur, José Luis Zoreda. Wie gefährlich blindes Wachstum ist, hat Spanien auf dem Immobilien­markt ja gerade erst erfahren.

 ?? Foto: Ángel García ?? Durch den extrem hohen Touristena­nsturm in diesem Jahr fühlen sich die Einheimisc­hen an Spaniens Küsten überrannt. Unter ihnen macht sich eine Anti-Stimmung breit.
Foto: Ángel García Durch den extrem hohen Touristena­nsturm in diesem Jahr fühlen sich die Einheimisc­hen an Spaniens Küsten überrannt. Unter ihnen macht sich eine Anti-Stimmung breit.
 ?? Foto: dpa ?? Der Malvarrosa-Strand in Valencia an einem August-Tag: Spanien erlebt in diesem Jahr einen nie dagewesene­n Urlauberan­sturm.
Foto: dpa Der Malvarrosa-Strand in Valencia an einem August-Tag: Spanien erlebt in diesem Jahr einen nie dagewesene­n Urlauberan­sturm.
 ?? Foto: dpa ?? Dieses Graffiti tauchte plötzlich im Frühjahr in Palma auf.
Foto: dpa Dieses Graffiti tauchte plötzlich im Frühjahr in Palma auf.
 ?? Foto: dpa ?? Hinweis für deutsche Touristen auf Mallorca.
Foto: dpa Hinweis für deutsche Touristen auf Mallorca.
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Foto: CBN-Archiv Tourismus der Art, wie ihn keiner will: Lloret de Mar.

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