Stimmung kippt Der Tourismus in Spanien jagt einen Rekord nach dem anderen. Von einem „70-Millionen-Sommer“spricht eine euphorisierte Branche. Wahrscheinlich werden sogar 74 Millionen Urlauber in der Abschlussbilanz 2016 stehen.
Gegen den Massenansturm an Urlaubern regt sich Widerstand
Doch mitten hinein in die Jubelarien über immer neue Rekordzahlen bricht sich eine Stimmung Bahn, die so gar nicht zum Bild eines gastfreundlichen Landes passt. „Tourist go home, refugees welcome“fordern Graffities unmissver- ständlich – in Barcelona, in Palma de Mallorca, auf Ibiza. Urlauber sollen abhauen. Ein ungebremster Massentourismus sorgt zunehmend für soziale Spannungen in den Urlauber-Hotspots.
Egal wohin man in diesem August in Spanien blickt: Das Urlaubsland platzt aus allen Nähten. Touristenmassen in nie dagewesener Größe haben sich über die Küsten ergossen. Vom „70-Millionen-Sommer“spricht eine euphorisierte Branche. Das dürfte noch untertrieben sein. 72 Millionen Urlauber – manche Experten sagen sogar 74 Millionen – werden Ende des Jahres wohl in der Abschlussbilanz 2016 stehen. Im vergangenen Jahr waren es bereits 68 Millionen. Der Tourismus in Spanien jagt einen Rekord nach dem anderen.
Mitten hinein in die Jubelarien über immer neue Rekordzahlen bricht sich eine Stimmung Bahn, die so gar nicht zum Bild eines gastfreundlichen Landes passen will. Immer mehr Menschen haben einfach die Nase voll von diesem Massenansturm, der das Land an den Rand des Kollaps bringt. „Tourist go home, refugees welcome“fordern Graffitis unmissverständlich auf – in Barcelona, in Palma de Mallorca, auf Ibiza. Oder: „Stop guiris“. Oder: „Tourists you are the terrorists“.
Im küstenfernen Madrid wird der Stimmungsumschwung noch nicht wahrgenommen. Hier ist der Tourismus die heilige Kuh. Verständlich. Gerade in den Krisenjah- ren waren es die Urlauber, die das Geld brachten und die spanische Wirtschaft nicht völlig abstürzen ließen. Auch in diesem Jahr ist der Tourismus Garant des anhaltenden Aufschwungs und gleichzeitig Jobmotor. Der Juni 2016 beispielsweise war für den spanischen Arbeits- markt der beste Juni seit 2006. In Valencia und Murcia rechnet man mit einem Beschäftigungsplus von zehn Prozent in diesem Sommer.
Ein Land, das noch immer unter einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent leidet, könne nicht wählerisch sein, wie und wo Jobs entstehen, lautet daher die Parole. Und so stieg im Lauf der vergangenen Jahre auch die Abhängigkeit der spanischen Wirtschaft vom Tourismus. Dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) sehen manche Experten inzwischen bei 16 Prozent angekommen. In Vorkrisenzeiten waren es elf Prozent.
In diesem Jahr profitiert der spanische Tourismus besonders von den Krisen an anderen Gestaden des Mittelmeers. Die innenpolitische Lage und Terroranschläge in traditionellen Urlaubsländern wie der Türkei, Ägypten oder Tunesien haben Urlauber abgeschreckt und den Touristenstrom nach Spanien umgelenkt. Wegen des billigen Euro kommen zudem so viele Gäste aus Asien, Lateinamerika, USA und Afrika wie sel- ten zuvor. Die Balearen, die meisten Kanaren-Inseln sowie weite Teile der Mittelmeerküste und sogar die Metropolen seien für den Sommer zu über 90 Prozent ausgebucht, teilte der Hoteldachverband Cehat bereits im Juli mit.
Derweil nehmen die Spannungen in touristischen Brennpunkten zu. Beispiel Barcelona: Wer vor 30 Jahren vom Hafen die Ramblas hinaufschlenderte zur Plaça de Catalunya erlebte ein entspanntes Ambiente. Auf den 1,5 Kilometern wechselten sich Blumenstände und Cafés ab. Man konnte Kanarienvögel kaufen, in Büchern blättern oder – gegen eine Spende – den schwarzen Stern der Anarchisten als Anstecker erwerben. Heute treten sich auf den Ramblas die Touristen gegenseitig auf die Füße. Statt Cafés überwiegen FastFood-Restaurants. An den Ständen wird Nippes feilgeboten. Und wenn man es schließlich zur Plaça de Catalunya geschafft hat, fehlt einem mit ziemlicher Sicherheit das Portemonnaie.
„Von Tourismusphobie kann man nicht sprechen, sehr wohl aber von sozialen Spannungen“
Schätzungsweise zehn Millionen Touristen werden in diesem Jahr über Barcelona „herfallen“. Rechnet man die Besucher dazu, die in Apartments oder bei Freunden unterkommen, könnten es noch deutlich mehr werden. Keine andere Stadt in Spanien kommt an diese Zahlen heran. Die katalanische Landeshauptstadt ist in. Vor allem bei jungen Leuten.
Die Kehrseite der Medaille: Laut einer Umfrage bewerten es 13 Prozent der Einwohner Barcelonas als negativ, dass ihre Stadt zu einem bevorzugten Touristenziel geworden ist. Vor allem in Vierteln wie dem Barrio Gótico oder Barceloneta ist die Ablehnung inzwischen groß. Im Februar des Jahres kam es sogar zur Demonstrationen: „Wir sind die Stadtteilbewohner, stoppt den Massen-Tourismus“war unter anderem auf Transparenten zu lesen.
Stadtteile wie das Barrio Gótico leiden extrem unter dem Ansturm. Nachts ist ständig Party, der Lärm ist enorm. Die Folge: Fast 18 Prozent seiner Bewohner hat das Altstadtviertel bereits verloren. Traditionelle Einzelhandelsgeschäfte für den alltäglichen Bedarf sind aus dem Viertel verschwunden. Gleichzeitig stiegen die Mieten an, Wohnungen wurden umgewandelt in Ferienunterkünfte. Das Bar- rio Gótico erlebt den klassischen Prozess einer Gentrifizierung.
Auch in Palma de Mallorca fühlen sich Einheimische vom Massen-Tourismus bedrängt. In der Balearen-Hauptstadt gehören die Graffitis „Tourist go home“ebenfalls zum Stadtbild. Aus Protest gegen den Massen-Tourismus hängen Bewohner schon mal schwarze Fahnen aus den Fenstern – das allgemeine Symbol für Widerstand. „El turisme destrueix la ciutat“– der Tourismus zerstört die Stadt – lautet ein anderes Graffiti.
Erlebt Spanien gerade die Anfänge einer allgemeinen TouristenFeindlichkeit? So weit will Ivan Murray Mas, Geograph und Professor an der Universität der Balearen in Palma im Fall von Mallorca nicht gehen: Von Tourismusphobie könne man nicht sprechen, sehr wohl aber von sozialen Spannungen, meint der Wissenschaftler, der seit Jahren die touristische Ausbeutung der Inselgruppe analysiert, gegenüber der Zeitung „El Mundo“.
Murray Mas betont allerdings auch, dass die Stimmung schnell weiter kippen kann. „Solange sich Kosten und Nutzen die Waage halten, wird der Tourismus gesell- schaftlich akzeptiert“, sagt der Professor. Neige sich die Waage mehr zu den Kosten, sei es mit der Akzeptanz vorbei.
Ein Beispiel dafür, wo die Ausgewogenheit inzwischen nicht mehr existiert und die Stimmung umschlage, ist für Murray Mas die Insel Ibiza. Dort sei die Nachfrage nach Urlauberbetten so groß, dass Wohnungen, die früher für Einwohner und Saisonarbeiter zur Verfügung standen, „zu horrenden Preisen an Touristen vermietet werden“. Dagegen müssten diejenigen, die im Tourismus arbeiten, in Garagen auf dem Matratzenlager oder in Autos nächtigen.
Wohin die Gelder fließen
Gerade auf den Balearen, so Murray Mas weiter, müsse sich der Tourismussektor zudem eine unangenehme Frage gefallen lassen: „Wie kann es sein, dass wir wieder auf einen neuen Urlauberrekord zusteuern, aber immer noch 15 Prozent Arbeitslose haben? In anderen Ländern würden man uns dafür prügeln.“Hier laufe etwas schief.
Eine ähnliche Frage stellt man sich auch in Barcelona: „Jeder ist sich im Klaren darüber, dass der Massentourismus für den normalen Anwohner kein Geschäft ist. Sicher, es wird eine Menge an Geld bewegt, und irgendjemand kassiert, aber das sind nicht wir Anwohner“, sagt Daniel Pardo von der Bürgerinitiative der geschädigten Stadtviertel in Barcelona gegenüber „El Mundo“. Für ihn steht daher fest: „Der Feind ist nicht der Tourist, sondern eine gewisse skrupellose Tourismusindustrie.“
Doch nicht nur Barcelona oder Mallorca quellen über. Wie stark Touristenorte in der Hochsaison inzwischen aus den Fugen geraten, zeigt die alljährliche Erhebung über kommunale Infrastruktur und Ausstattung, die auf Daten des Finanzministeriums beruht. Drei Orte an der Costa Blanca führen die Top-20Liste an: Dénia, Santa Pola und Calp.
So wächst die Kreishauptstadt Dénia von knapp 43.000 gemeldeten Einwohnern im Sommer auf knapp 200.000 Personen (Stand 2013) an. Santa Pola steigert sich von rund 34.000 Einwohnern auf 177.000. Calp mit seinen damals 28.000 Einwohnern blähte sich in der Hochsaison auf 157.000 auf. Unter den Top 20 mit dem meisten Zuwachs im Sommer befinden sich allein acht Orte an der Costa Blanca. Und auch hier zerrt der Massenansturm an den Nerven aller Beteiligten. Unlängst erst kam es in Moraira am überfüllten Strand zu Handgreiflichkeiten im Streit um einen Platz fürs Handtuch.
400 Liter Wasser pro Tag
Während die Urlauberzahlen steigen, sinken unterdessen die Wasserpegel. Auf Mallorca etwa sind die Reserven auf den tiefsten Stand seit zehn Jahren gefallen. Die Landesregierung der Balearen gab unlängst wegen der anhaltenden Trockenheit die Warnstufe „Alerta“aus. Auf der erst im Frühjahr eingeführten vierstufigen Skala folgt nur noch die Stufe „Emergencia“– der Wassernotstand. Rund 400 Liter Wasser verbraucht ein Urlauber im Schnitt pro Tag, doppelt so viel wie ein Spanier.
Nicht besser sieht es auf dem Festland aus: Im Land Valencia ist für die beiden Trinkwassereinzugsgebiete Serpis und Marina Baja bereits der Notstand ausgerufen. Für die Marina Alta besteht die Warnstufe „Alerta“. Die Einzugsgebiete Vinalopó-Alicantí, Turia sowie Palancia-Los Valles befinden sich in der Vorwarnstufe. Die Reserven in den Stauseen im Zuständigkeitsbereich des Wasserwirtschaftsamts Júcar betragen nur noch 1.008 Kubikhektometer. Das ist der niedrigste Stand seit 2009 und entspricht lediglich einem Drittel der Gesamtkapazität der Stauseen.
Die Bevölkerung ist zu einem sparsamen Umgang mit Wasser aufgerufen. In einigen Orten wurden bereits Einschränkungen angeordnet. Aus Jávea kommen Klagen, dass der städtische Wasserversorger bestimmte Urbanisationen nachts von der Versorgung abhängt. Derweil laufen die Fußduschen an den Stränden auf Hochtouren.
Die Einsicht, dass es mit diesem Wachstum im Tourismus angesichts der sich häufenden sozialen und umweltmäßigen Probleme so nicht weitergehen kann, setzt sich indes nur vereinzelt durch. Auf den Balearen ist man wohl so weit: „Nein, wir können auf keinen Fall so weiter wachsen“, sagt Tourismusminister Biel Barceló. Eine regulierende Wirkung verspricht man sich von der auf den Balearen zum 1. Juli eingeführten Touristensteuer (Ecotasa) von bis zu zwei Euro pro Gast und Nacht.
Kein zweites Venedig
Inzwischen wird auf den Balearen auch über eine Deckelung der Touristenzahl pro Jahr nachgedacht. Der Bürgermeister von Palma unterstützt die Linie seiner Landesregierung: „Wir haben inzwischen so viele Besucher, dass wir wählerisch sein können. Touristen, die sich eine Woche lang besaufen wollen, brauchen wir nicht.“
In Barcelona versucht Bürgermeisterin Ada Colau, seit 2015 im Amt, mit anderen Mitteln das ungezügelte Wachstum im Tourismus zu bremsen. Mit einem einjährigen Moratorium für Hotelneubauten zog die Kommunalpolitikerin schon unmittelbar nach Amtsantritt den Unmut der Branche auf sich. Auch Privatleute benötigen nunmehr eine Genehmigung, wenn sie ihre Wohnung im Sommer an Urlauber vermieten wollen.
Zur Zeit zieht Colau gegen illegale Ferienvermietungen zu Felde – und scheut auch nicht vor der Aufforderung an Anwohner zurück, ihre Nachbarn zu denunzieren. Immer wieder betont die Bürgermeisterin, dass Barcelona eine gastfreundliche Stadt bleiben werde. „Wir wollen nur kein zweites Venedig werden.“
Und die Tourismusbranche selbst? „Wir dürfen uns nicht totwachsen“, warnt der Vizepräsident des Reisedachverbands Exceltur, José Luis Zoreda. Wie gefährlich blindes Wachstum ist, hat Spanien auf dem Immobilienmarkt ja gerade erst erfahren.